351
S. 419
Kgsberg den
28
Aug.
68.

2
Geliebtester Freund Herder,

3
Wendler
mglw. der leipziger Verleger Johann Wendler (1713–1799)
Wendler hat mir einen mündl. Gruß von Ihnen gebracht und vorgestern

4
Unbekanten
nicht ermittelt
erhielt ich auch einen durch einen Unbekanten den ich im Vorbeylaufen im

5
Kanterschen Buchladen
Johann Jakob Kanter
Kanterschen Buchladen sahe. Sie entschuldigen sich mit der Unlust zu

6
schreiben; unterdeßen freut es mich, daß Sie wenigstens munter und lustig leben.

7
Ich würde vielleicht auf guten Wegen seyn Ihnen hierinn nachzuahmen,

8
wenn ich nur noch ein einzig Jahr überstanden hätte; unterdeßen freue ich

9
mich gestern das 39ste angetreten zu haben, wobey nicht ermangelt Ihrem

10
libiren
Libation, Trankopfer darbringen
genio
auch zu libiren. Mein alter Freund L. und mein Amtsbruder der

11
Controleur Lauson
weyhten zugl. meine neue Wohnung die ich vor 14 Tagen

12
bezogen am Ende des mittelsten Tragheims bey dem HE
Tribunal
srath von

13
Bondeli,
einem sehr würdigen Greis gegen den ich eine kindl. Liebe habe. Hier

14
50 rth
Reichstaler, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze, entspricht 24 Silbergroschen (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch).
hab ich 4 gantz artige Stübchen für 50 rth des Jahrs mit sehr bequemen

15
Appartinentien,
die schönste Aussicht von 5 bis 6 Thürme der Stadt, einen

16
geraumen Garten, bin der Welt entfernt und meiner Gesundheit zum Besten

17
verpflichtet jeden Tag 4 gute Spatziergänge nach unserm
Bureau
und zurück

18
zu thun. Den dritten Tag wurde mein Vergnügen über meine neue Wohnung

19
durch einen traurigen Zufall verbittert, der meines armen Bruders Leben

20
hätte kosten können und mich für mein eignes oder anderweitiges Unglück

21
in viel Sorge
sezte, bis ich endl. vor der Hand einen Wächter für ihn gefunden

22
und ihn dem
D. Gervais
übergeben, der mir aber wenig Hofnung macht. Bey

23
solchen Umständen kann es an 100 Sorgen nicht fehlen und Sie können leicht

24
die Unmöglichkeit erachten seines Lebens wie man will zu genießen.

25
Ich schreibe diesen Brief, liebster Freund, ohne seine Bestimmung eigentl.

26
Kanter …
Der
Kantersche Buchladen
zog um in das nach dem großen Brand von 1764 neu errichtete Löbenichter Rathaus in der Mönchhofgasse 2 (es war im Besitz des
Magistrats
, der manche Teile vermietete, so eben an Kanter).
zu wißen. Wo ich nicht irre, hat HE Hartknoch taufen laßen – Kanter wird

27
diese Woche seinen Laden beziehen und er hat es sich was kosten laßen um

28
dem Publico zu gefallen. Die Einrichtung verdient meines Erachtens

29
Beyfall. Er hat über ein Dutzend alte
Busten
hier schnitzeln laßen ein trefl.

30
Königes von Berlin
Friedrich II.
Pindar Caesar Tacitus Plutarch
Pindar
,
Gaius Julius Cäsar
,
Tacitus
,
Plutarch
portrait
des Königes von Berlin gebracht, das zwischen
Pindar Caesar

31
Tacitus Plutarch
– – – stehen soll. In
m
Com
die Schreibstube des Ladens

32
werden gemahlte Köpfe kommen; wovon er
Moses
und
Ramler
gleichfalls

33
von Berl. mitgebracht, und hier
Schäffner, Willamov, Hippel, Lindner
p

34
gesammelt; auch
Kant
sitzt bereits, und Sie werden doch auch wohl Lust

35
Lares und Penates
Hausgötter aus der röm. Religion
haben nächstes Jahr Ihre
Lares
und
Penates
zu sehen. – –


36
Pausirt
bis zum
7
Septbre.

S. 420
Vorigen Sonntag habe die erste und letzte Landluft diesen Sommer und

2
Steinbeck
Dorf 12 km südöstlich von Königsberg, heute Rybnoje
zwar in Steinbeck noch genoßen.
Hintz
heißt es wird hier tägl. erwartet.

3
große Adler
Über dem Kanterschen Buchladen hing ein Preußenadler, auch als Zeichen des königlichen Buchhandelprivilegs.
Heut ist der große Adler vor Kanters Buchladen aufgebracht. Ich habe eben

4
Hamburgsche Recension Ihres Torso
Heinrich Wilhelm v. Gerstenberg
rezensierte
Herders
Torso
in der
Hamburgischen neuen Zeitung
, 122. St. vom 3.8.1768 sehr positiv (vgl. O. Fischer [Hg.]:
H. W. von Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771
. Berlin 1903, S. 71–73). Vielleicht ist aber auch die spöttische Rezension in den
Hamburgischen Nachrichten
gemeint (vgl.
HKB 355 ( II 431/14 )
).
eine Hamburgsche
Recension
Ihres
Torso
gelesen und erwarte ein Exemplar

5
Kgsbergsche
Hamann publizierte in
KGPZ
, 52. St. vom 27.6.1768 (N IV,316f.) eine witzige Rezension von
Herders
Torso
, bei der er dessen anonymen Autor und denjenigen der
Fragmente
gegeneinander ausspielte.
Klotz hat an L.
Christian Adolph Klotz
an
Johann Gotthelf Lindner
; nicht ermittelt
zum
Gratial
für die Kgsbergsche. Hofrath
Klotz
hat an
L.
geschrieben,

6
getraut sich nicht weder den Hamann noch Adam Trescho wie Er ihn nennt

7
Monument seiner Autorschaft
Spielt auf die ironische Titelgebung als „Torso“ an in Herders
Ueber Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmaal
.
Thomas Abbt
war im 28. Lebensjahr gestorben, die Herausgabe seiner Werke (
Abbt,
Vermischte Werke
) begann zwei Jahre später (1768), also im fiktiv 30. Lebensjahr.
Klotz
wiederum wurde 1768 tatsächlich 30 Jahre alt.
grüßen zu laßen und traut dem letztern nicht zu, daß er sich an das Monument

8
seiner Autorschaft die mit dem 30 Jahr aufhören soll, wagen würde.

9
Ohngeachtet ich von Gemmen so viel verstehe als eine Gans so verdroß mich doch

10
die Ruhmräthigkeit und die offenbare Windmacherey dieses seichten Kopfes,

11
der nach den unzähl. Anführungen von den grösten Werken die davon handeln,

12
doch
nicht so kahl wie eine Maus hätte erscheinen dürfen. In der Schweitz

13
erscheint jetzt auch ein Archiv, wovon ich das erste Bändchen durchgelaufen,

14
weil mich die Vorrede aufmerksam machte. Ich kann aber noch gar nicht den

15
Endzweck ihres Plans absehen, und finde blos einen Beweis von der

16
gegenwärtigen Theurung. Können Sie nicht liebster Freund! einige Nachrichten

17
engl. Werk über das original Genie
vmtl.
Duff,
An essay on original genius
(1767 anonym erschienen); vgl.
HKB 355 ( II 432/25 )
Uebersetzung ist angekündigt
nicht ermittelt
von dem engl. Werk über das original Genie erhalten. Die Uebersetzung ist

18
angekündigt und man hört nichts mehr davon. Ich habe bey Ihrem Verleger

19
den
Hermes
für Sie bestellt, ein Werk das mir zu Ihrem Plan unentbehrl.

20
zu seyn schien weiß aber nicht ob ers Ihnen verschaffen können. Ich habe es

21
Ebert in Braunschweig
Johann Arnold Ebert
, vgl.
HKB 273 ( II 269/7 )
bey Ebert in Braunschweig gesehen hatte aber keine Stunde mehr übrig darinn

22
zu lesen. Es ist von Harris. Sie verzagen doch weder an der Umarbeitung

23
noch Fortsetzung Ihrer Fragmente. Clodius soll sich sehr beschweren als ein

24
Nebenbuler von Ihnen behandelt zu seyn. Mitten in der Fortsetzung eines

25
Werks eine neue Umarbeitung zu übernehmen ist mislich, und es ist immer

26
sich
beßer sich selbst so wol als das Publicum ein wenig ausgähren zu

27
laßen, sonst läuft man Gefahr von beyden hintergangen zu werden. Ich bin

28
Schaarwerk
Frondienst; Hamanns Tätigkeit bei der
Provinzial-Akzise- und Zoll-Direktion in Königsberg
, im Hintergrund sein Interesse an dem corvée-Artikel der Encyclopädie, vgl.
HKB 348 ( II 408/11 )
gegenwärtig mit meinem sauren Schaarwerk sehr zufrieden und finde,

29
vermuthl. aus Unwißenheit, nichts in der gelehrten Welt meiner

30
Aufmerksamkeit und Unterhaltung werth. Leßings Briefwechsel sagt nichts als was

31
jedermann dem
Klotz
hat bey seinem ersten Auftritt ansehen können; er thäte

32
Laocoons
Lessing,
Laokoon
(ein zweiter Teil erschien nie)
beßer an den 2ten Theil seines
Laocoons
zu denken. Ob Mendelsohns Phädon

33
verbeßert ist, weiß ich nicht; ich zweifele aber fast daß er verbeßert werden

34
kann.

35
Ich habe jetzt Lust meine Bibliothek in Ordnung zu bringen, und warte

36
blos auf ein Bücherschaff das alle Tage fertig werden soll um den Anfang

37
dazu zu machen. Thun Sie mir die Freundschaft, lieber Herder u. schicken Sie

S. 421
Verzeichnis
Hamann bat schon mehrfach darum, vgl.
HKB 343 ( II 395/21 )
mir doch wenigstens ein Verzeichnis von denen, die Sie noch von mir haben

2
und was Sie nicht mehr brauchen, erwarte ich durch HE. Hartknoch. Falls

3
Sie bey HE. Berens noch etwas bey Gelegenheit ausrichten können, laß er

4
das seinige auch dazu geben. So bald mir Gott ein wenig häusl. Ruhe geben

5
wird, denk ich mit neuem Muth wieder anzufangen und durch mein langes

6
απεχειν
Anspielung auf die Maxime des
Epiktet
: ἀνέχου και ἀπέχου, sustine et abstine, dt. leide und meide (überliefert bei
Gell. 17,19,6
)
Kantens Metaphysik der Moral
Kant,
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
erschien erst 1785; er erwähnte aber schon lange vorher daran zu arbeiten, vgl.
HKB 339 ( II 390/9 )
.
απεχειν
nichts versäumt zu haben. Kantens Metaphysik der Moral hält mich

7
Rousseaus Dict. de Musique
Rousseau,
Dictionnaire de musique
in Erwartung; von Lambert hört man nichts neues.
Rousseaus Dict. de

8
Jerusalems erster Band
Jerusalem,
Betrachtungen
Musique
ist heraus aber noch nicht hier zu sehen. Jerusalems erster Band

9
ist tief unter meiner Erwartung; wie wol ich ihn nur in einer halben

10
Stunde auf dem
Bureau
durchgepeitscht. Ob ihn nicht Cramer übertreffen

11
sollte?

12
Schreiben Sie mir doch auch einmal wieder. Ich habe den
Camoens
und

13
Demosthenes
Demosthenes
; Ausgabe nicht ermittelt
die alten griechischen
autores musicos
hier ertappt; auf
Demosthenes
in

14
Dantzig Commission
gegeben aber nichts erhalten.

15
Protocole und juristischen Uebersetzungen
bei seiner Arbeit als Französisch-Übersetzer in der
Provinzial-Akzise- und Zoll-Direktion in Königsberg
Der vielen
Protocole
und juristischen Uebersetzungen wegen quäle ich mich

16
Domat
vmtl.
Domat,
Les Loix Civiles
; vgl. die Exzerpte im
Königsberger Notizbuch
, N V,212–240 und Nadlers Kommentar S. 385.
mit einem großen
folianten
des
Domat,
mit dem ich froh seyn werde dieses

17
Jahr fertig zu werden. Das neue denke mit einem beßern Plan anzufangen

18
und meine
financiers
vorzunehmen, sie aber mit einem kleinen

19
Schleichhandel zu verbinden – Jetzt lebe voller Sorgen und Ängsten wegen meines

20
armen Bruders ohne zu wißen wozu ich mich entschlüßen soll, ob ich ihn ins

21
Hospital versorge oder wie ich es anfange. Der gegenwärtige Hüter den ich

22
Tympf
Ein Tympf ist ein Achtzehngröscher, der im Laufe der Zeit immer wieder verschlechtert wurde; ein Sechs-Groschen-Stück entsprach 1/60 Taler.
ihm halte kostet uns tägl. einen Tympf außer Eßen und Trinken – In die

23
Länge geht das nicht – und ich gebe jetzt selbst fast alle Hofnung auf. Dieser

24
Wisch mag warten biß sich Gelegenheit findt, denn er ist kein
Porto
werth.

25
Leben Sie unterdeßen wohl und vergnügt und denken Sie an Ihren alten

26
Freund

27
Hamann.

28
Geschloßen Kgsb. den
7 Sept


29
Den 14
Sept.
Diesen Morgen hat mein alter Hintz
Coffée
mit mir

30
getrunken oder vielmehr denselben stehen
laßen,
den ich ihm vorsetzte, unterdeßen

31
Korn
vmtl. Bezeichnung für Malzkaffee
ich meinen Korn trank. Er geht übermorgen ab und ich werd ihm diesen Brief

32
Verdacht des Kurellaschen Gedichts …
Es geht darum, wie
Klotz
an Herders Jugendgedicht „Fragment zweener dunklen Abendgespräche“ kam (an Herders Jugendfreund, den Sohn von
Jacob Heinrich Kurella
, vgl.
HKB 347 ( II 404/3 )
), das Klotz in seiner Herder-Rezension in
Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften
, 1. Bd., 1. St., S. 162f. satirisch abdruckte.
mitgeben. – An dem Verdacht des Kurellaschen Gedichts und einigen Antheil

33
an der Klotzischen Recension ist er gantz unschuldig. Ich habe ihm aufgetragen

34
sich Homers Leben u
Letters on Mithology
zu erbitten die er gern lesen will.

35
Einige gelehrte Neuigkeiten werden Sie sich selbst von ihm erzählen laßen.

36
Ich denke ihn bey seiner Zurückkunft wärmer zu halten.

37
Leben Sie wohl und erinnern Sie sich meiner im besten. Ich erwarte mit

S. 422
ihm auch einige schriftl. Nachrichten von Ihrer Hand. Morgen speisen wir

2
Swifts Briefe
wohl
Swift,
Letters
bey L. und er hat mir Swifts Briefe gebracht, die ich heute ein wenig

3
durchblättern will.

4
H.

5
Grüßen Sie das Hartknochsche Haus feyerlichst.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 64–65.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 384–387.

Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Ersten Bandes zweite Abtheilung. Erlangen 1846, 340–344.

ZH II 419–422, Nr. 351.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
419/21
in viel Sorge
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
in Sorge
421/15
Protocole
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Protocolle
421/16
Domat,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Donnat,
421/30
laßen,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
laßen