351
S. 419
Kgsberg den
28
Aug.
68.
2
Geliebtester Freund Herder,
3
Wendler hat mir einen mündl. Gruß von Ihnen gebracht und vorgestern
4
erhielt ich auch einen durch einen Unbekanten den ich im Vorbeylaufen im
5
Kanterschen Buchladen sahe. Sie entschuldigen sich mit der Unlust zu
6
schreiben; unterdeßen freut es mich, daß Sie wenigstens munter und lustig leben.
7
Ich würde vielleicht auf guten Wegen seyn Ihnen hierinn nachzuahmen,
8
wenn ich nur noch ein einzig Jahr überstanden hätte; unterdeßen freue ich
9
mich gestern das 39ste angetreten zu haben, wobey nicht ermangelt Ihrem
10
genio
auch zu libiren. Mein alter Freund L. und mein Amtsbruder der
11
Controleur Lauson
weyhten zugl. meine neue Wohnung die ich vor 14 Tagen
12
bezogen am Ende des mittelsten Tragheims bey dem HE
Tribunal
srath von
13
Bondeli,
einem sehr würdigen Greis gegen den ich eine kindl. Liebe habe. Hier
14
hab ich 4 gantz artige Stübchen für 50 rth des Jahrs mit sehr bequemen
15
Appartinentien,
die schönste Aussicht von 5 bis 6 Thürme der Stadt, einen
16
geraumen Garten, bin der Welt entfernt und meiner Gesundheit zum Besten
17
verpflichtet jeden Tag 4 gute Spatziergänge nach unserm
Bureau
und zurück
18
zu thun. Den dritten Tag wurde mein Vergnügen über meine neue Wohnung
19
durch einen traurigen Zufall verbittert, der meines armen Bruders Leben
20
hätte kosten können und mich für mein eignes oder anderweitiges Unglück
21
in viel Sorge
sezte, bis ich endl. vor der Hand einen Wächter für ihn gefunden
22
und ihn dem
D. Gervais
übergeben, der mir aber wenig Hofnung macht. Bey
23
solchen Umständen kann es an 100 Sorgen nicht fehlen und Sie können leicht
24
die Unmöglichkeit erachten seines Lebens wie man will zu genießen.
25
Ich schreibe diesen Brief, liebster Freund, ohne seine Bestimmung eigentl.
26
zu wißen. Wo ich nicht irre, hat HE Hartknoch taufen laßen – Kanter wird
27
diese Woche seinen Laden beziehen und er hat es sich was kosten laßen um
28
dem Publico zu gefallen. Die Einrichtung verdient meines Erachtens
29
Beyfall. Er hat über ein Dutzend alte
Busten
hier schnitzeln laßen ein trefl.
30
portrait
des Königes von Berlin gebracht, das zwischen
Pindar Caesar
31
Tacitus Plutarch
– – – stehen soll. In
m
Com
die Schreibstube des Ladens
32
werden gemahlte Köpfe kommen; wovon er
Moses
und
Ramler
gleichfalls
33
von Berl. mitgebracht, und hier
Schäffner, Willamov, Hippel, Lindner
p
34
gesammelt; auch
Kant
sitzt bereits, und Sie werden doch auch wohl Lust
35
haben nächstes Jahr Ihre
Lares
und
Penates
zu sehen. – –
36
Pausirt
bis zum
7
Septbre.
S. 420
Vorigen Sonntag habe die erste und letzte Landluft diesen Sommer und
2
zwar in Steinbeck noch genoßen.
Hintz
heißt es wird hier tägl. erwartet.
3
Heut ist der große Adler vor Kanters Buchladen aufgebracht. Ich habe eben
4
eine Hamburgsche
Recension
Ihres
Torso
gelesen und erwarte ein Exemplar
5
zum
Gratial
für die Kgsbergsche. Hofrath
Klotz
hat an
L.
geschrieben,
6
getraut sich nicht weder den Hamann noch Adam Trescho wie Er ihn nennt
7
grüßen zu laßen und traut dem letztern nicht zu, daß er sich an das Monument
8
seiner Autorschaft die mit dem 30 Jahr aufhören soll, wagen würde.
9
Ohngeachtet ich von Gemmen so viel verstehe als eine Gans so verdroß mich doch
10
die Ruhmräthigkeit und die offenbare Windmacherey dieses seichten Kopfes,
11
der nach den unzähl. Anführungen von den grösten Werken die davon handeln,
12
doch
nicht so kahl wie eine Maus hätte erscheinen dürfen. In der Schweitz
13
erscheint jetzt auch ein Archiv, wovon ich das erste Bändchen durchgelaufen,
14
weil mich die Vorrede aufmerksam machte. Ich kann aber noch gar nicht den
15
Endzweck ihres Plans absehen, und finde blos einen Beweis von der
16
gegenwärtigen Theurung. Können Sie nicht liebster Freund! einige Nachrichten
17
von dem engl. Werk über das original Genie erhalten. Die Uebersetzung ist
18
angekündigt und man hört nichts mehr davon. Ich habe bey Ihrem Verleger
19
den
Hermes
für Sie bestellt, ein Werk das mir zu Ihrem Plan unentbehrl.
20
zu seyn schien weiß aber nicht ob ers Ihnen verschaffen können. Ich habe es
21
bey Ebert in Braunschweig gesehen hatte aber keine Stunde mehr übrig darinn
22
zu lesen. Es ist von Harris. Sie verzagen doch weder an der Umarbeitung
23
noch Fortsetzung Ihrer Fragmente. Clodius soll sich sehr beschweren als ein
24
Nebenbuler von Ihnen behandelt zu seyn. Mitten in der Fortsetzung eines
25
Werks eine neue Umarbeitung zu übernehmen ist mislich, und es ist immer
26
sich
beßer sich selbst so wol als das Publicum ein wenig ausgähren zu
27
laßen, sonst läuft man Gefahr von beyden hintergangen zu werden. Ich bin
28
gegenwärtig mit meinem sauren Schaarwerk sehr zufrieden und finde,
29
vermuthl. aus Unwißenheit, nichts in der gelehrten Welt meiner
30
Aufmerksamkeit und Unterhaltung werth. Leßings Briefwechsel sagt nichts als was
31
jedermann dem
Klotz
hat bey seinem ersten Auftritt ansehen können; er thäte
32
beßer an den 2ten Theil seines
Laocoons
zu denken. Ob Mendelsohns Phädon
33
verbeßert ist, weiß ich nicht; ich zweifele aber fast daß er verbeßert werden
34
kann.
35
Ich habe jetzt Lust meine Bibliothek in Ordnung zu bringen, und warte
36
blos auf ein Bücherschaff das alle Tage fertig werden soll um den Anfang
37
dazu zu machen. Thun Sie mir die Freundschaft, lieber Herder u. schicken Sie
S. 421
mir doch wenigstens ein Verzeichnis von denen, die Sie noch von mir haben
2
und was Sie nicht mehr brauchen, erwarte ich durch HE. Hartknoch. Falls
3
Sie bey HE. Berens noch etwas bey Gelegenheit ausrichten können, laß er
4
das seinige auch dazu geben. So bald mir Gott ein wenig häusl. Ruhe geben
5
wird, denk ich mit neuem Muth wieder anzufangen und durch mein langes
6
απεχειν
nichts versäumt zu haben. Kantens Metaphysik der Moral hält mich
7
in Erwartung; von Lambert hört man nichts neues.
Rousseaus Dict. de
8
Musique
ist heraus aber noch nicht hier zu sehen. Jerusalems erster Band
9
ist tief unter meiner Erwartung; wie wol ich ihn nur in einer halben
10
Stunde auf dem
Bureau
durchgepeitscht. Ob ihn nicht Cramer übertreffen
11
sollte?
12
Schreiben Sie mir doch auch einmal wieder. Ich habe den
Camoens
und
13
die alten griechischen
autores musicos
hier ertappt; auf
Demosthenes
in
14
Dantzig Commission
gegeben aber nichts erhalten.
15
Der vielen
Protocole
und juristischen Uebersetzungen wegen quäle ich mich
16
mit einem großen
folianten
des
Domat,
mit dem ich froh seyn werde dieses
17
Jahr fertig zu werden. Das neue denke mit einem beßern Plan anzufangen
18
und meine
financiers
vorzunehmen, sie aber mit einem kleinen
19
Schleichhandel zu verbinden – Jetzt lebe voller Sorgen und Ängsten wegen meines
20
armen Bruders ohne zu wißen wozu ich mich entschlüßen soll, ob ich ihn ins
21
Hospital versorge oder wie ich es anfange. Der gegenwärtige Hüter den ich
22
ihm halte kostet uns tägl. einen Tympf außer Eßen und Trinken – In die
23
Länge geht das nicht – und ich gebe jetzt selbst fast alle Hofnung auf. Dieser
24
Wisch mag warten biß sich Gelegenheit findt, denn er ist kein
Porto
werth.
25
Leben Sie unterdeßen wohl und vergnügt und denken Sie an Ihren alten
26
Freund
27
Hamann.
28
Geschloßen Kgsb. den
7 Sept
–
29
Den 14
Sept.
Diesen Morgen hat mein alter Hintz
Coffée
mit mir
30
getrunken oder vielmehr denselben stehen
laßen,
den ich ihm vorsetzte, unterdeßen
31
ich meinen Korn trank. Er geht übermorgen ab und ich werd ihm diesen Brief
32
mitgeben. – An dem Verdacht des Kurellaschen Gedichts und einigen Antheil
33
an der Klotzischen Recension ist er gantz unschuldig. Ich habe ihm aufgetragen
34
sich Homers Leben u
Letters on Mithology
zu erbitten die er gern lesen will.
35
Einige gelehrte Neuigkeiten werden Sie sich selbst von ihm erzählen laßen.
36
Ich denke ihn bey seiner Zurückkunft wärmer zu halten.
37
Leben Sie wohl und erinnern Sie sich meiner im besten. Ich erwarte mit
S. 422
ihm auch einige schriftl. Nachrichten von Ihrer Hand. Morgen speisen wir
2
bey L. und er hat mir Swifts Briefe gebracht, die ich heute ein wenig
3
durchblättern will.
4
H.
5
Grüßen Sie das Hartknochsche Haus feyerlichst.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 64–65.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 384–387.
Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Ersten Bandes zweite Abtheilung. Erlangen 1846, 340–344.
ZH II 419–422, Nr. 351.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
419/21 |
in viel Sorge ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: in Sorge |
421/15 |
Protocole |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Protocolle |
421/16 |
Domat, |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Donnat, |
421/30 |
laßen, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: laßen |