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Königsberg,
Pfingstmontag 1768.

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Mein alter lieber Freund Herder. Für Ihre Briefe können Sie sicher seyn;

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ich habe und werde mich kaum merken laßen, daß Sie mir geschrieben;

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geschweige daß jemand Ihre Briefe sehen sollte. Ein wenig Geheimniß gehört

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zur Freundschaft wie zur Liebe. Ohne die Vertraulichkeit gewißer Blößen und

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Schwachheiten findet kein Genuß der Geister Statt. Ich fange heute zu

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schreiben an, weil ich ein wenig Zeit übrig habe und man Hartknoch erwartet; und

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habe Ihnen zu Gefallen Stewarts politische Oekonomik, von dessen Anfang

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ich unendlich viel erwarte, zurückgelegt, bis ich diesen Brief auf gut Glück

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werde geendigt haben. Mein erster Bischoff den ich mir in meiner Wirthschaft

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gemacht, hat mir heute so gut, als Noah sein Most, geschmeckt. Der Anfang

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Ihres Briefes schmeckt mehr nach einem süßen als alten Wein. Schonen Sie

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also Ihren Kopf. Ohne an ihrer Schmeicheley einigen Antheil zu nehmen, als

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den mir die Wahrheit erlaubt, so habe ich mit Moses, Homer und Plato,

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warum nicht gar mit Christo und Belial, mit dem Gesetz und den Propheten,

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und leider auch mit Weltweisen und Dichtern gebuhlt, und mehr die
inferna

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eines Torso als die
superna
einer Büste zu erkennen und zu unterscheiden

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gesucht. Und meine grobe Einbildungskraft ist niemals im Stande gewesen,

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sich einen schöpferischen Geist ohne
genitalia
vorzustellen. (Ich hoffe, daß Sie

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so klug seyn werden,
secretis arbitris
mich zu lesen, und unter dieser

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Bedingung will ich fortfahren so lange ich kann.) Da der Anthropomorphismus

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auf ein Ohr, Auge, Hand und Mund sich nicht allein erstrecken kann, so können

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wir einen schöpferischen Geist mit eben dem
Euphemismo
uns in einer Figur

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denken, zu deren Verstand wenigstens ein Schlafrock oder eine orientalische

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Kleidung nöthig ist, wenn wir uns dasjenige vorstellen wollen, was die

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Mystiker ausdrücken:
seine Füße decken
. Dadurch also, daß ein schöpferischer Geist

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seine Füße deckt, entsteht dasjenige, was den ästhetischen Nasen unter dem

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deutschen Namen D…, und den philosophischen Nasen unter einem andern,

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der moralischer oder metaphysischer klingt, so viel Runzeln zuzieht. Unterdessen

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hat die Heiligkeit und Herrlichkeit der Pythagorischen Diät den Dünger

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vorzüglich nöthig; und ohne den betrübten Fall unserer Mutter würden keine

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Prätendenten zu Schul- und geistlichen Aemtern entstanden seyn, oder die

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durch Thaten und
Rêveries,
wie Jephtha und der Graf von Sachsen, den

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Schandfleck ihrer Geburt auslöschen, und durch Fragmente sich mehr Ruhm

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als
puri puti
durch
opera omnia
erwerben könnten. Sie sehen, liebster

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Herder, daß der rothe Bischoff immer mitschreibt, und ich habe wirklich noch ein

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Paar Gläser zu Hilfe genommen, mit der freundlichen Bitte, mich wie ein

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Aeschylus zu lesen. Die Wahrheit zu sagen, das war eben der Inhalt meiner

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Reliquien
, die ich einmal dachte, nämlich ein Versuch über die ersten Capitel

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der Genesis, davon mir aber das erste immer das tiefste und älteste geschienen.

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Denn zu einer Geschichte der Schöpfung gehört unstreitig Offenbarung; mit

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einer Geschichte der Gesellschaft wird ein
os grajum
immer fertig, wie ich das

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noch gestern und ehegestern zum Theil aus dem mittelmäßigen Ferguson

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ersehen. Aber die Mähre von einer Jungfrau, die von dem heiligen Geiste der

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Ueberschattung gewürdigt wurde, ist freylich mit der Mähre von einer

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Ehebrecherin, die es mit einem schönen Geiste, fürchterlichen Andenkens, zu thun

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hatte, immer eines der größten orientalischen Systeme, die in kein ander

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menschlich Herz noch Sinn jemals gefallen sind. Sie scheinen mir, liebster

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Herder, ein wenig zu sultanisch mit Ihren Brüdern und besonders mit meinem

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alten Vetter Beverland umzugehen; und dieß giebt mir schon wirklich einen

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kleinen Verdacht gegen Ihre eigene Ueberzeugung von der Wahrheit Ihres

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Systems. Ich halte mich an den Buchstaben und an das Sichtbare und

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Materielle wie an den Zeiger einer Uhr – aber was hinter dem Zifferblatte ist,

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da findet sich die Kunst des Werkmeisters, Räder und Triebfedern, die gleich

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der mosaischen Schlange eine Apokalypse nöthig haben. Ich finde es immer

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noch für nöthig, Ihnen zu wiederholen, daß mich der gut gerathene Bischoff

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ein wenig treuherzig und ruhmredig macht, falls ich Ihnen versichern

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und es mir einbilden darf, ungleich weitere Aussichten im dritten Capitel

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Mosis, als Rousseauische Corollaria gefunden zu haben; und da ich

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vor wenig Abenden bey meinem Freunde Green träumte, und Kant

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versichern hörte, daß man keine neue, wichtige Entdeckung in der

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Astronomie mehr erwarten könnte wegen ihrer Vollkommenheit, fiel es mir wie

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im Schlafe ein, daß ich den neuen Hypothesen der Sternkunst so gehässig

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war ohne sie zu verstehen, daß ich ihnen, ohne zu wissen warum, nach

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dem Leben stand, vielleicht weil sie mich bloß in meiner Andacht störten,

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womit ich eines meiner liebsten Abendlieder empfand und dachte, wo

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es heißt

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Also werd’ ich auch stehen,

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Wann mich wird heißen gehen

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Mein Gott aus diesem Jammerthal.

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Ich kann nicht mehr sehen, und schreibe nicht mehr bey Licht. Will’s Gott

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morgen mehr und nüchterner! Gute Nacht –

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Einige Züge der Beverlandschen Hypothese, werden Sie nicht leugnen

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können, passen wirklich auf ein Paar Stellen der Geschichte meisterlich. Eva

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scheint eine Verlobte, wie Maria des Joseph gewesen zu seyn. Dieser erkannte

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seine Braut nicht nach dem Geheimniß des Engels, und Adam erkannte sein

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Weib nach der Vertraulichkeit mit einem Thiere. Die ganze Theorie der Opfer,

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die hier ihren Anfang nimmt, und unter dem Neuen Bunde aufgehört hat,

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ist immer ein großes Augenmerk für mich gewesen. Die ganze Erde und der

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Mensch nichts als, wie ich oben schon angeführt, und das einzige Gleichniß

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das meine Idee ausdrückt, der Speer und das Zifferblatt, die ihren Grund

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und Bewegung in dem unsichtbaren System des Himmels und der

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Geisterwelt haben. Das unaussprechliche und lächerliche dieser Vorstellung werden

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Sie beßer empfinden, als daß ich Sie daran erinnern darf. Also
manum de

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tabula
und zur letzten Hälfte Ihres Briefes geeilt. Es ist mir lieb, daß Sie

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mit dem
sicco pede
zufrieden sind in der Klotzischen Recension; denn es war

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gar nicht der Ort noch Anlaß, und in Ansehung Ihrer dachte ich: Baal wird

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sich wohl selbst schützen. Ich kann wirklich nicht sagen, daß ich das Lehrbuch

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einmal sollte gelesen haben, und es kam mir ganz unerwartet, im Appendix

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eine Stelle zu finden. Leider muß ich Ihrer Anmerkung Recht geben. Denken,

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empfinden und verdauen hängt alles vom Herzen ab. Wenn dieses
primum

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mobile
eines Schriftstellers nicht elastisch genug ist, so ist das Spiel aller

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übrigen Triebfedern von keinem Nachdruck noch Dauer. Ich liebe diesen Mann

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wirklich und entschuldige ihn, und freue mich, daß er seine Zufriedenheit in

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einem gewißen Plane findet, den ich nicht mißbilligen kann, weil ersterer mir

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lieber ist als letzterer mir mißfällt. Er ist auf dem Lande, und ich kann die

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Feyertage nicht abwarten, ihn wiederzusehen, so
fauxfilés
sind wir einander,

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um mich eines Handwerks Termini zu bedienen. Hätten Sie, lieber Herder,

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nicht Hartknoch Ihren ersten Theil mitgeben sollen für Ihren alten Freund?

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Ich warte mit Inbrunst und Neugierde darauf. Ihr eigenes Urtheil, daß er

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zu hitzig gerathen, beunruhigt mich. Ich habe es den Litteraturbriefen immer

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verdacht, dem
genius saeculi
und den lateinischen Beyträgen des Klotzischen

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Witzes zu viel eingeräumt zu haben, und sie niemals anders als wie affectirte

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exercitia
und Schulnachahmungen von dem mittelmäßigsten Geiste ohne

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Erfindung und Geschmack, lesen können. Und es schien mir auch als wenn der

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Verfasser der Fragmente wider seine Ueberzeugung oder besseres Urtheil in

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jenen Ton fiele. Winkelmann ist gar nicht der Mann seiner Jugend mehr.

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Seine historischen und praktischen Einsichten mögen zunehmen, aber ich finde

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nicht mehr die philosophische Salbung und das Mark seiner Erstlinge. Vom

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Titel
corvée
in der Encyclopädie verspreche ich mir eine Abschrift. Was das

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Project des Gesetzbuches betrifft, bin ich auf die dringendste Art darum ersucht

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worden. Daß meine eigene Neugierde so weit nicht reicht, hätten Sie leicht

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erachten können.

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Nachdem ich Ihren Brief, Ihrem Wahlspruche gemäß,
taliter qualiter

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beantwortet, weiß ich eben nichts neues hinzuzusetzen. Ich habe Hartknoch

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erinnert Ihnen den Hermes des Harris mitzubringen.
L’homme aux quarante

13
écus
habe ich eben zu Hause gebracht. Candide, Maupertuis und andere
loci

14
communes
des Voltairischen Witzes werden hier aufgewärmt, unterdeßen

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läßt sich dieser französische Ragout noch immer lesen und Voltaire

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entschuldigt seinen wiederkäuenden Geschmack selbst mit den Fehlern seines

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Alters.

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Kann ich von Berens nichts in Ansehung meiner Bücher erwarten? Leben

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Sie in solcher Entfernung mit ihm? Wenn Ihnen der Zufall Gelegenheit

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giebt, daran zu denken, so reden Sie mein Bestes als Freund und der

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Wahrheit gemäß. Meine kleine Heerde Bücher nimmt immer allmählich zu; ich

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habe jüngst Meibom’s alte
Musicos
und das portugiesische Heldengedicht in

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der Grundsprache bekommen. Stewart’s politische Oeconomie ist ein

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Treffliches Werk voll großer philosophischer Gründlichkeit. Ich vermuthe jetzt

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beynahe, daß er der Verfaßer der Schrift vom Münzwesen ist, die Sie bey mir

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gesehen und ich immer so zu loben pflegte. Der Fortgang wird dieß entscheiden.

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Er sagt mit zwei Worten mehr als Ferguson in ganzen Capiteln, den ich Mühe

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gehabt zu verstehen, und meinem eigenen Urtheile nicht trauen wollte. Die

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Vergleichung mit Stewart zeigt mir, daß ich Leute, die denken, noch verstehen

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kann, aber keine Schwätzer. Ich werde meinen Brief jetzt schließen, Hartknoch

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mag kommen wann er will. Unter den besten Wünschen, wohin der

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Sonnenschein des Apoll und eine Phyllis gehören, bin ich und bleibe

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Ihr treuer Freund

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort einer Abschrift von Friedrich Roth: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], III 26.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 381–383.

Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Ersten Bandes zweite Abtheilung. Erlangen 1846, 320–322.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 126 f.

ZH II 415–418, Nr. 350.