355
430/25
Kgsberg den
17
Januar
769.

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Liebster Herder,

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Gestern eben Ihren Brief
sine die et consule
erhalten, da ich die Beyl. den

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Tag vorher angefangen aber durch eine Einladung unterbrochen wurde. Sie

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können leicht denken wie unerwartet mir Ihr Schreiben gewesen, weil ich

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würkl. mit verzweifelten Anschlägen gegen Sie schwanger gieng und beynahe

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entschloßen war ein Klotzianer zu werden um mich nur an Ihnen rächen zu

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können. Ich verdenk es keinem nicht mir böse zu seyn, am wenigsten meinen

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guten Freunden; aber ich fordere in diesem Fall wenigstens eine Erklärung,

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wenigstens zu meinem Unterricht und meiner Beßerung, die der Beleidigte

S. 431
oder sich dafür haltende Theil immer schuldig ist, weil ich ihn immer als den

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Obermann des Beleidigers ansehe,
weil er
der die schönste Gelegenheit in

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Händen hat vernünftiger und tugendhafterer als der Beleidiger zu seyn und

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sich des letztern Fehler immer zu Nutz machen kann – Der Period ist mir so

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lang gerathen daß ich mich über 3 kleine Nebenverhältniße hiesigen Orts nicht

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einlaßen will, die sich auf bloße gelehrte Familienkleinigkeiten beziehen. Ueber

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Ihre gute Aussichten dorten ist keiner auf der Welt so erfreut wie ich, weil sie

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unstreitig die Nachtheile Ihrer gegenwärtigen Lage aufheben möchten, daß

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Sie an keine Diversion noch Conföderation nöthig haben werden zu denken.

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Eine gewiße Muße und Unabhängigkeit, die ich Ihnen bei Ihrem

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gegenwärtigen Schul u Kirchendienst kaum zutrauen kann, scheint mir gleichwol zu

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Ihren Entwürfen unumgängl. zu seyn. Was den
Autor
selbst betrift so

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fürchten Sie sich eben so ein Lobredner anderer zu seyn als den Ihrigen zu trauen

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ab hoste consilium.
Ich habe des Hamb. Nachrichters Geschwätz mit so viel

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Andacht gelesen als der Berl. ihrs mit Kützel. Von Seiten des
Gewißens

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und der
Leidenschaften
betrachtet ist die Autorschaft keine Kleinigkeit, und

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diese beyde Polen haben mehr auf sich als Witz und Gelehrsamkeit; doch hier

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überlaß ich Sie Ihrer eignen Erfahrung.

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Auf 2 Puncte sind Sie mir liebster Freund, eine Antwort schuldig geblieben

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1.) über Ihre neue Ausgabe die doch bereits so öffentl. angeführt worden.

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(
Ος εν παροδω
versprach ich mir daß Sie ein Exemplar von allen Ihren

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kleinen und großen Fragmenten
operibus
u
opusculis
ich möchte nicht gern sagen

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bei Ihrem Verleger sondern lieber bey sich selbst beylegen und mir selbiges

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nach Gelegenheit zustellen. Ihren
Torso
erwarte beynahe gewiß in einem

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Päckchen mit HE. Hartknoch.) Von Ihrem 4ten Theil auch
altum silentium;

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ich vermuthe aber daß er erst nach Vollendung der zweiten Ausgabe folgen

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wird.

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2.) über Kanters und meine Bitte die Hiesigen Zeitungen nicht so

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unpatriotisch
zu verschmähen. Lambert und Kant liefern Beyträge; ich habe

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mich auch zu 12 Auszügen aus dem Engl. das Jahr durch anheischig gemacht,

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die aus Mangel der Materialien vor der Hand nicht viel auf sich haben werden,

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weil das
Gentleman’s Magazin
allein nicht ergiebig genug ist. Ich glaube daß

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Sie unsern Vortheil mit Ihren Absichten sehr fügl. vereinigen können; und

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mache blos auf einige rohe und hingeworfene Reliquien ihrer
hors d’oeuvres

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Anspruch; wobey ich Ihnen das Gelübde thue, daß Kanter und niemand

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anders eine Sylbe von Ihrem Verf. erfahren soll. Mein Bruder soll sie

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abschreiben und keiner soll so wenig auf mich als Sie rathen noch wißen wo diese

S. 432
Stücke herkommen. Unter dieser Bedingung hoff ich Sie geneigter zu einem

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nützl. Beytrage zu machen ohne die geringste Gefahr zu laufen.

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Ich kann Ihnen nicht leugnen daß das alberne
bruit
von einer Secte oder

4
Club
mir geschienen hat Ihnen empfindl. gewesen zu seyn; es ist mir eben so

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unangenehm daß Sie als daß ich durch ein so tummes u abgeschmacktes

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Gerücht leiden sollen, unterdeßen dergl. Dinge die sich von selbst wieder legen,

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lohnen der Mühe nicht gerügt zu werden. Meine Umstände verbieten mir noch

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mehr als Gründe den geringsten Antheil zu nehmen, unterdeßen nehm ich so

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viel ich kann
ad notam
und mag so wenig schenken als schuldig bleiben, wenn

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die Rede von Gerechtigkeit ist. In gegenwärtiger
Crisi
meines Glücks u meiner

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Gesundheit (denn ich brauche seit 14 Tagen die
China China
) ist an nichts zu

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gedenken, und wenn ich mich und meinen Bruder ansehe so tröste ich mich

13
aus
Rousseau
mit einem weisen Ausspruch seines
Mylords: un homme est

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deja utile à l’humanité par cela seul qu’il existe.

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Ist die Abschrift von
Corvée
nicht Ihre Hand; ich sollte aus einigen kleinen

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Schreibfehlern daran zweiflen. Aber die Aehnligkeit scheint mir so weit zu

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gehen: doch ich kann mir nicht vorstellen und würde es Ihnen sehr übel

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nehmen statt des Danks, daß Sie sich selbst diese Mühe gegeben hätten.

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Von
Caylus
urtheil ich mit Ihnen gleich weil ich einige Theile im Franz.

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gelesen. Man hat mir einbilden wollen und fast überredt das
Home
die

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philosophical Enquiry
geschrieben also dank ich für Ihre Nachricht. Ihnen

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zu Gefallen hab ich
Humes
Versuch über den Ursprung der Künste

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vorgenommen oder vielmehr über ihren Fortgang. Des
Marechal de Saxe Reveries

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haben mir gestern den gantzen Abend verdorben. Daß
Churchill
ein Geistl.

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gewesen habe nicht gewust. Von
Baffy
über das
Originalgenie
find ich schlechte

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Beurtheilungen im
Magaz.
Aus
Schmidt
Anführung zog ich andere

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Muthmaßungen
in contrarium
seines eignen Papageyen Urtheils. Melden Sie mir

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doch künftig etwas mehr von
Anstey’s Bath Guide.
Die Ausgabe von
Grey’s

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Oden
habe selbst beseßen, bin aber froh gewesen
S
sie bald gegen einen

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Autor
von mehr
Text
loß zu werden. Die ersten Theile der
Loen
schen Samml.

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habe nicht ohne Vergnügen gelesen, wenigstens mit mehr als die neue

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Reisebeschreibungen.
Steuart’s Oeconomia
empfehle Ihnen sobald die deutsche

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Uebersetzung davon erscheinen wird.
Goguet
wird Ihnen wenigstens die

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Quellen anzeigen können u
Bochart
ist ohne Zweifel auch ein
Autor classicus
in

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diesem Fach. Sollten
Huetii Origines
nicht auch einschlagen?

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L’origine des Dieux du paganisme et le sens des fables decouvert par

37
une explication suivie du Poeme
d’Hesiode
Par M. Bergier Paris 767.
in

S. 433
2
Vol.
in 12 wird sehr gelobt. Seine Erklärung geht darauf hinaus nicht so

2
wohl die
Theologie
als so zu sagen die Kirchengeschichte des Heidentums in

3
Hesiod und der alten
Mythologie
zu finden. Moses! seine Geschichte u

4
Philosophie
ist immer eine Urkunde aber schwerer als
Hesiod
zu entziffern.

5
Ich weis kaum ein lebendig Wort mehr von dem was ich über diese Materie

6
gedacht und
imagini
rt
habe. Sie ist aber mein Lieblings
Them
gewesen von

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dem ich so voll war, daß ich übrig gnug zu haben glaubte ich weiß nicht wie

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viel Jahre daran zu wenden. So wahr ist, daß es Gedanken giebt die man

9
nur einmal in seinem Leben hat und nicht Meister ist selbige wieder

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hervorzubringen. Gewesen sind sie und Spuren müßen davon noch im Gehirn seyn;

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aber in welcher
cellula,
mag der Vater der Lebensgeister wißen. – Ich muste

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neulich unvermuthet im Young blättern; da kam es mir vor als wenn alle

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meine Hypothesen eine bloße Nachgeburt seiner Nachtgedanken gewesen

14
waren
und alle meine Grillen von seinen Bildern
impraegni
rt worden wären.

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So irre bin ich an meinem eignen Selbst, daß ich
selbst
sogar zweifele ob

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meine Gedanken nicht untergeschobene Wechselbälge gewesen sind. Gleichwol

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war mir Young damals noch neuer und frischer im Andenken als jetzt. Sollt

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ich meine eigne Diebstäle nicht gemerkt haben und die Wahrheit hab ich mich

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niemals geschämt zu bekennen. Meine Spinnerinnen warten, daß ich den

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Abendseegen lesen soll. Schreiben Sie mir wenigstens mit Hartknoch und

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grüßen Sie ihn von mir. Ihr Brackgut
address
iren Sie an mir, ich versprech

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Ihnen alles genau zu erfüllen. Beyl. besorgen Sie so gut als Sie wollen und

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können. Ärgern Sie sich nicht an meinem Geschmier. Hintz denk ich werden

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Sie bald zu sehen bekommen. Er gefällt sich sehr in Curl.
Leben Sie wohl

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und erhalten Sie mir Ihre Freundschaft. Ich umarme Sie und ersterbe Ihr

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alter treuer Freund

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Hamann



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† wie ich von andern höre.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 67–68.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 389–393.

Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Ersten Bandes zweite Abtheilung. Erlangen 1846, 418–422.

ZH II 430–433, Nr. 355.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
432/21
philosophical […] Enquiry]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
philosophical enquiry
432/37
d’Hesiode
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
d Hesiode
433/6
imagini
rt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
imaginie
rt