355
430/25
Kgsberg den
17
Januar
769.
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Liebster Herder,
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sine die et consule
ohne Tag und Jahreszahl (die Römer benannten die Jahre nach den regierenden Konsuln); gemeint ist
HKB 353 ( II 423/2 ) (vorher schrieb Herder im April 1768)
Gestern eben Ihren Brief
sine die et consule
erhalten, da ich die Beyl. den
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Tag vorher angefangen aber durch eine Einladung unterbrochen wurde. Sie
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können leicht denken wie unerwartet mir Ihr Schreiben gewesen, weil ich
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würkl. mit verzweifelten Anschlägen gegen Sie schwanger gieng und beynahe
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entschloßen war ein Klotzianer zu werden um mich nur an Ihnen rächen zu
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können. Ich verdenk es keinem nicht mir böse zu seyn, am wenigsten meinen
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guten Freunden; aber ich fordere in diesem Fall wenigstens eine Erklärung,
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wenigstens zu meinem Unterricht und meiner Beßerung, die der Beleidigte
S. 431
oder sich dafür haltende Theil immer schuldig ist, weil ich ihn immer als den
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Obermann des Beleidigers ansehe,
weil er
der die schönste Gelegenheit in
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Händen hat vernünftiger und tugendhafterer als der Beleidiger zu seyn und
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sich des letztern Fehler immer zu Nutz machen kann – Der Period ist mir so
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lang gerathen daß ich mich über 3 kleine Nebenverhältniße hiesigen Orts nicht
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einlaßen will, die sich auf bloße gelehrte Familienkleinigkeiten beziehen. Ueber
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Ihre gute Aussichten dorten ist keiner auf der Welt so erfreut wie ich, weil sie
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unstreitig die Nachtheile Ihrer gegenwärtigen Lage aufheben möchten, daß
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Diversion noch Conföderation
vgl. Herders Wortspiel von Divisionsprediger und Diversion (Ablenkung) in
HKB 353 ( II 423/11 ); Conföderation ist mglw. eine Anspielung auf die confoederatio helvetica und steht im Zusammenhang von Zwinglis Tod als Feldprediger.
Sie an keine Diversion noch Conföderation nöthig haben werden zu denken.
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Eine gewiße Muße und Unabhängigkeit, die ich Ihnen bei Ihrem
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gegenwärtigen Schul u Kirchendienst kaum zutrauen kann, scheint mir gleichwol zu
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Ihren Entwürfen unumgängl. zu seyn. Was den
Autor
selbst betrift so
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Lobredner anderer
Hamann richtete zuvor an Herder den Vorwurf, ein Lobredner von
Klotz
zu sein, vgl.
HKB 347 ( II 404/13 ).
fürchten Sie sich eben so ein Lobredner anderer zu seyn als den Ihrigen zu trauen
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Hamb. Nachrichters Geschwätz
In den
Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit
, 48. St. vom 21.7.1968, S. 391–393 wird Herders Schreibart im
Torso
verspottet; im 59. St. vom 29.7.1768, S. 477–482 wird Klotz’ Spott von den Hamännchen und der Königsberger Sekte wieder herausgeholt und Herder weiter verspottet.
–
ab hoste consilium.
Ich habe des Hamb. Nachrichters Geschwätz mit so viel
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Berl. ihrs
Die Anzeige mit Invektive gegen Klotz in
Allgemeine deutsche Bibliothek
,12. Bd., 2. St. (1770), S. 284f., Kürzel S (Nicolai), passt zeitlich nicht; mglw. ist die Rezension in der
Vossischen Zeitung
gemeint, die Hamann auch in
HKB 359 ( II 445/11 ) erwähnt.
Andacht gelesen als der Berl. ihrs mit Kützel. Von Seiten des
Gewißens
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und der
Leidenschaften
betrachtet ist die Autorschaft keine Kleinigkeit, und
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diese beyde Polen haben mehr auf sich als Witz und Gelehrsamkeit; doch hier
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überlaß ich Sie Ihrer eignen Erfahrung.
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Auf 2 Puncte sind Sie mir liebster Freund, eine Antwort schuldig geblieben
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neue Ausgabe
Herder,
Fragmente über die neuere Deutsche Literatur
, 1. Sammlung, 2. Auflage; vgl.
HKB 352 ( II 422/15 ) 1.) über Ihre neue Ausgabe die doch bereits so öffentl. angeführt worden.
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Ος εν παροδω
dt. wie im Vorübergehen
(
Ος εν παροδω
versprach ich mir daß Sie ein Exemplar von allen Ihren
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operibus u opusculis
dt. Werken und Werkchen
kleinen und großen Fragmenten
operibus
u
opusculis
ich möchte nicht gern sagen
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Ihrem Verleger
Johann Friedrich Hartknoch
bei Ihrem Verleger sondern lieber bey sich selbst beylegen und mir selbiges
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nach Gelegenheit zustellen. Ihren
Torso
erwarte beynahe gewiß in einem
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4ten Theil
Herder kündigte einen vierten Teil von der
Fragmente
verschiedentlich an, publizierte ihn aber nie.
Päckchen mit HE. Hartknoch.) Von Ihrem 4ten Theil auch
altum silentium;
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ich vermuthe aber daß er erst nach Vollendung der zweiten Ausgabe folgen
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wird.
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2.) über Kanters und meine Bitte die Hiesigen Zeitungen nicht so
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unpatriotisch
zu verschmähen. Lambert und Kant liefern Beyträge; ich habe
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12 Auszügen aus dem Engl.
In den
KGPZ
erschienen 1770 mehrere Übersetzungen Hamanns, vgl. N IV,339–363.
mich auch zu 12 Auszügen aus dem Engl. das Jahr durch anheischig gemacht,
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die aus Mangel der Materialien vor der Hand nicht viel auf sich haben werden,
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Gentleman’s Magazin
The Gentleman’s Magazine
weil das
Gentleman’s Magazin
allein nicht ergiebig genug ist. Ich glaube daß
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Sie unsern Vortheil mit Ihren Absichten sehr fügl. vereinigen können; und
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hors d’oeuvres
nebensächliche Werke
mache blos auf einige rohe und hingeworfene Reliquien ihrer
hors d’oeuvres
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Anspruch; wobey ich Ihnen das Gelübde thue, daß Kanter und niemand
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Sylbe von Ihrem Verf. erfahren soll
Herder war sehr bedacht auf die Anonymität seiner Publikationen, besonders nach den Indiskretionen der Klotzianer.
anders eine Sylbe von Ihrem Verf. erfahren soll. Mein Bruder soll sie
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abschreiben und keiner soll so wenig auf mich als Sie rathen noch wißen wo diese
S. 432
Stücke herkommen. Unter dieser Bedingung hoff ich Sie geneigter zu einem
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nützl. Beytrage zu machen ohne die geringste Gefahr zu laufen.
3
bruit
Dt. Gerücht. Die Rede von einer Königsberger Sekte und den Hamännchen wurde von
Klotz
bzw.
Riedel
im 1. Bd. der
Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften
in die Welt gesetzt und etwa in den
Hamburgischen Nachrichten
, 59. St. vom 29.7.1768, S. 477–482 wiederholt.
Ich kann Ihnen nicht leugnen daß das alberne
bruit
von einer Secte oder
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Club
mir geschienen hat Ihnen empfindl. gewesen zu seyn; es ist mir eben so
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unangenehm daß Sie als daß ich durch ein so tummes u abgeschmacktes
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Gerücht leiden sollen, unterdeßen dergl. Dinge die sich von selbst wieder legen,
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lohnen der Mühe nicht gerügt zu werden. Meine Umstände verbieten mir noch
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mehr als Gründe den geringsten Antheil zu nehmen, unterdeßen nehm ich so
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viel ich kann
ad notam
und mag so wenig schenken als schuldig bleiben, wenn
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die Rede von Gerechtigkeit ist. In gegenwärtiger
Crisi
meines Glücks u meiner
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China China
Die chininhaltige Chinarinde wurde zur Fiebersenkung verwendet.
Gesundheit (denn ich brauche seit 14 Tagen die
China China
) ist an nichts zu
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gedenken, und wenn ich mich und meinen Bruder ansehe so tröste ich mich
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un homme …
Dt. ein Mensch ist der Menschheit schon dadurch nützlich, dass es ihn gibt; in
Rousseaus
Nouvelle Héloise
(3. Teil, 22. Brief von Milord Edouard) angeführt gegen das von St. Preux verteidigte Recht zum Selbstmord.
aus
Rousseau
mit einem weisen Ausspruch seines
Mylords: un homme est
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deja utile à l’humanité par cela seul qu’il existe.
15
Ist die Abschrift von
Corvée
nicht Ihre Hand; ich sollte aus einigen kleinen
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Schreibfehlern daran zweiflen. Aber die Aehnligkeit scheint mir so weit zu
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gehen: doch ich kann mir nicht vorstellen und würde es Ihnen sehr übel
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nehmen statt des Danks, daß Sie sich selbst diese Mühe gegeben hätten.
19
Von
Caylus
urtheil ich mit Ihnen gleich weil ich einige Theile im Franz.
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Home
Henry Home Kames
gelesen. Man hat mir einbilden wollen und fast überredt das
Home
die
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philosophical Enquiry
geschrieben also dank ich für Ihre Nachricht. Ihnen
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zu Gefallen hab ich
Humes
Versuch über den Ursprung der Künste
23
vorgenommen oder vielmehr über ihren Fortgang. Des
Marechal de Saxe Reveries
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haben mir gestern den gantzen Abend verdorben. Daß
Churchill
ein Geistl.
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gewesen habe nicht gewust. Von
Baffy
über das
Originalgenie
find ich schlechte
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Schmidt Anführung
Schmid,
Zusätze zur Theorie der Poesie
Beurtheilungen im
Magaz.
Aus
Schmidt
Anführung zog ich andere
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Muthmaßungen
in contrarium
seines eignen Papageyen Urtheils. Melden Sie mir
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Ausgabe von Grey’s Oden
Gray,
Disigns by Mr. R. Bentley for six Poems by Mr. T. Gray
, vgl.
HKB 353 ( II 426/18 ) doch künftig etwas mehr von
Anstey’s Bath Guide.
Die Ausgabe von
Grey’s
29
Oden
habe selbst beseßen, bin aber froh gewesen
S
sie bald gegen einen
30
Autor
von mehr
Text
loß zu werden. Die ersten Theile der
Loen
schen Samml.
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habe nicht ohne Vergnügen gelesen, wenigstens mit mehr als die neue
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Steuart’s Oeconomia
Steuart,
Political Economy
Reisebeschreibungen.
Steuart’s Oeconomia
empfehle Ihnen sobald die deutsche
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Uebersetzung davon erscheinen wird.
Goguet
wird Ihnen wenigstens die
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Quellen anzeigen können u
Bochart
ist ohne Zweifel auch ein
Autor classicus
in
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diesem Fach. Sollten
Huetii Origines
nicht auch einschlagen?
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L’origine …
Bergier,
L’origine des dieux du paganisme
L’origine des Dieux du paganisme et le sens des fables decouvert par
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une explication suivie du Poeme
d’Hesiode
Par M. Bergier Paris 767.
in
S. 433
2
Vol.
in 12 wird sehr gelobt. Seine Erklärung geht darauf hinaus nicht so
2
wohl die
Theologie
als so zu sagen die Kirchengeschichte des Heidentums in
3
Hesiod
Hesiod
Hesiod und der alten
Mythologie
zu finden. Moses! seine Geschichte u
4
Philosophie
ist immer eine Urkunde aber schwerer als
Hesiod
zu entziffern.
5
Ich weis kaum ein lebendig Wort mehr von dem was ich über diese Materie
6
gedacht und
imagini
rt
habe. Sie ist aber mein Lieblings
Them
gewesen von
7
dem ich so voll war, daß ich übrig gnug zu haben glaubte ich weiß nicht wie
8
viel Jahre daran zu wenden. So wahr ist, daß es Gedanken giebt die man
9
nur einmal in seinem Leben hat und nicht Meister ist selbige wieder
10
hervorzubringen. Gewesen sind sie und Spuren müßen davon noch im Gehirn seyn;
11
aber in welcher
cellula,
mag der Vater der Lebensgeister wißen. – Ich muste
12
Young …
Young,
Night-thoughts
neulich unvermuthet im Young blättern; da kam es mir vor als wenn alle
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meine Hypothesen eine bloße Nachgeburt seiner Nachtgedanken gewesen
14
waren
und alle meine Grillen von seinen Bildern
impraegni
rt worden wären.
15
So irre bin ich an meinem eignen Selbst, daß ich
selbst
sogar zweifele ob
16
meine Gedanken nicht untergeschobene Wechselbälge gewesen sind. Gleichwol
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war mir Young damals noch neuer und frischer im Andenken als jetzt. Sollt
18
ich meine eigne Diebstäle nicht gemerkt haben und die Wahrheit hab ich mich
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Meine Spinnerinnen
Anna Regina Schumacher
und ihre Mutter, die, nachdem Hamann zunächst mit seinem Bruder am 15. August 1768 in die
Bondelische Wohnung
eingezogen war, wohl um Weihnachten nachfolgten.
niemals geschämt zu bekennen. Meine Spinnerinnen warten, daß ich den
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Abendseegen lesen soll. Schreiben Sie mir wenigstens mit Hartknoch und
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Brackgut
untaugliches Gut oder Waare, Ausschuss
grüßen Sie ihn von mir. Ihr Brackgut
address
iren Sie an mir, ich versprech
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Ihnen alles genau zu erfüllen. Beyl. besorgen Sie so gut als Sie wollen und
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Hintz
Jakob Friedrich Hinz
können. Ärgern Sie sich nicht an meinem Geschmier. Hintz denk ich werden
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Sie bald zu sehen bekommen. Er gefällt sich sehr in Curl.
†
Leben Sie wohl
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und erhalten Sie mir Ihre Freundschaft. Ich umarme Sie und ersterbe Ihr
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alter treuer Freund
27
Hamann
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† wie ich von andern höre.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 67–68.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 389–393.
Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Ersten Bandes zweite Abtheilung. Erlangen 1846, 418–422.
ZH II 430–433, Nr. 355.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
432/21 |
philosophical […] Enquiry] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: philosophical enquiry |
432/37 |
d’Hesiode |
Geändert nach der Handschrift; ZH: d Hesiode |
433/6 |
imagini rt ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: imaginie rt |