Editionsgeschichtliche Voraussetzungen
Von 1899 bis zu seinem Tod 1929 sammelte Arthur Warda, Amtsrichter in Königsberg und Mitarbeiter an den ersten Briefbänden der Akademieausgabe von Kants Gesammelten Werken, alles in Bezug auf Hamann Erreichbare in Königsberg, um eine Gesamtausgabe der Werke und Briefe auf den Weg zu bringen.2 Bei seinem Tod 1929 hatte er von Dreivierteln der fast 1.200 Briefe handschriftliche Abschriften in der Qualität von Satzvorlagen für den Druck angefertigt. In den Jahren 1905/06 schaffte er es, den Erwerb der drei wichtigsten Hamann-Nachlässe durch die Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek zu vermitteln.3
1904 wandte er sich mit dem Projekt einer Werk- und Briefausgabe an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin (= PAW). Nach jahrelangen Verhandlungen begann die Unternehmung 1914 konkrete Züge anzunehmen, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs erstickte diese Bestrebungen sogleich wieder im Keim. Erst 1927 betraute die Deutsche Kommission Julius Petersen (1878–1941) mit der Organisation einer Gesamtausgabe.4 Als Bearbeiter der Brief-Bände wurde Arthur Warda benannt. Zeitgleich suchte die Preußische Akademie der Wissenschaften über Josef Nadler, zu dieser Zeit Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Königsberg, den Kontakt zur Königsberger Gelehrten Gesellschaft, um diese für eine gemeinsame Finanzierung der Ausgabe zu gewinnen. Josef Nadler bot sich als Bearbeiter der Werkbände an, im Juli 1928 übersandte er einen Ausgabenplan.
Als Arthur Warda 1929 starb, hinterließ er, neben zahlreichen Autographen und wertvollen Drucken, u.a. eine Kartei über sämtliche Briefe von und an Hamann, Abschriften von 857 Briefen in der Qualität von Satzvorlagen, ein durchkorrigiertes Exemplar von Gildemeisters Edition des Briefwechsels Hamanns mit Jacobi sowie reinschriftliche Abschriften in drei Foliobänden der übrigen Briefe.5 Diese Materialien konnte Walther Ziesemer, der 1930 neu bestimmte Herausgeber der Briefe, übernehmen.
Wirksam zum 1. Januar 1930, wurde ein Vertrag zwischen der Preußischen Akademie der Wissenschaften sowie der Königsberger Gelehrten Gesellschaft mit dem Insel-Verlag, in persona dessen Leiter Anton Kippenberg, ausgehandelt. Jedes Jahr sollten parallel je ein Band der Werke und Briefe erscheinen.6
Dank der Vorarbeiten von Warda konnte Ziesemer bereits im April 1932 die Satzvorlagen für den Druck von Band I des Briefwechsels an den Insel-Verlag schicken.7 Mit der Drucklegung wollte der Verlag jedoch noch auf den ersten Werkband warten, damit eine einheitliche Druckgestaltung abgesprochen werden konnte. Obwohl jährlich angekündigt, konnte Nadler diese erst vier Jahre später Ende 1936 an den Verlag geben.8
Nachdem Ende November 1936 sowohl die Satzvorlage für den Druck des ersten Bandes der Briefe, als auch jene der Werke beim Insel-Verlag vorlagen, begann die schwierige Phase der Drucklegung. Zunächst wurden vom Verlag Probeseiten für die Werkausgabe erstellt.9 Petersen hatte den Verlagsleiter Kippenberg bereits im Dezember 1929 vor Vertragsabschluss auf Anraten Nadlers explizit darauf aufmerksam gemacht, »dass bei einzelnen Schriften Hamanns das Satzbild ein sehr kompliziertes ist und dass er selbst eine Buntheit von Typen im Wechsel von Sperrdruck, Fettdruck, antiqua, Fraktur, petit und fremden Alphabeten wie hebräisch und griechisch gewählt hat, um die man bei der Wiedergabe nicht herum kommt.«10
Aus angeblich ›ästhetischen‹, aber wohl vornehmlich ökonomischen Gründen wollte der Verlag nun bei der Satzgestaltung auf fast sämtliche typographischen Auszeichnungen wie den mehrfachen Schriftwechsel und verschiedene Schriftgrößen wie sie in Hamanns Erstdrucken vorliegen, verzichten und einzig einzelne Wörter durch Sperrung hervorheben. Nadler fand die Entscheidung des Verlags, auf die spezifische typographische Gestaltung der Hamannschen Drucke zu verzichten, fatal.11 Trotzdem begann die Drucklegung des je ersten Bands der Werke und Briefe im Juni 1937. Kurz darauf kollationierte Ziesemer bereits die Druckfahnen von Band I der Briefe noch einmal vollständig mit den Originalen in Königsberg,12 und im Sitzungsbericht der PAW wird das Erscheinen der beiden Bände für Ostern 1938 angekündigt.13
In den kommenden zweieinhalb Jahren vertröstete Nadler den Verlag und die Akademie immer wieder in Bezug auf die noch ausstehende Korrektur des Werkbandes. Während der erste Werkband unkorrigiert im Satz stand, wurden von 1937 bis 193914 die ersten beiden Bände der Briefe von Ziesemer vollständig korrigiert, in der vereinbarten Auflage von 1.200 Exemplaren ausgedruckt und vorerst eingelagert. Denn der Erscheinungstermin der Ausgabe wurde von Jahr zu Jahr verschoben. Die gescheiterte Wahl Nadlers zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Frühjahr 1939 wurde dann zu einem Ränkespiel an Gesinnungsfronten, das bis 1943 andauerte und die Arbeit an der Werk-Ausgabe ausbremste.
Die Situation schien zwischen 1939–1942 so festgefahren, dass selbst Akademie und Königsberger Gelehrte Gesellschaft nicht mehr an die Korrektur der Druckfahnen durch Nadler glaubten und den Insel-Verlag, 1941/42 gerade mit der Drucklegung der Bände III und IV der Briefe beschäftigt,15 um eine Entkoppelung des Erscheinens der Briefbände von den Werkbänden baten.16 Kippenberg ging mit Verweis auf die vertraglichen Regelungen von 1930 jedoch nicht darauf ein17 und druckte die Briefbände weiterhin für das Lager. Während der Satz des ersten Werkbandes trotz der zunehmenden Materialverknappung stehen blieb und auf Korrekturen und das Imprimatur Nadlers wartete, übersandte Ziesemer 1941 und Ende 1942 die restlichen Satzvorlagen für den Druck der Bände V, VI und VII an den Verlag.18 Der Satz der letzten drei Bände wurde vom Verlag jedoch nicht mehr veranstaltet.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde das Verlagsgebäude des Insel-Verlags beim Luftangriff der Alliierten auf das Graphische Viertel Leipzigs vollständig zerstört. Im Januar 1944 schrieb Kippenberg an Ziesemer diesbezüglich: »Vom Insel-Verlag habe ich das Wesentlichste, vor allem alles Geschichtliche des Verlags rechtzeitig in Sicherheit gebracht, darunter auch die Manuskripte zu Band 5 bis 7 der Hamann-Briefe. Aber auch sonst hat über Hamann ein guter Stern gestanden insofern, als die Buchbinderei, in der die Vorräte der ersten Bände lagen, sich unter den wenigen befindet, die erhalten geblieben sind.«19
Zwar wurden die eingelagerten Vorräte der ersten beiden Briefbände bei einem weiteren Luftangriff am 20. Februar 1944 doch noch zerstört, erhalten blieben jedoch einzelne Abzüge der Druckbogen der Briefbände I bis IV sowie die Satzvorlagen für die Bände V bis VII. Diese Materialien wurden nach Ziesemers Tod 1954 Arthur Henkel, dem mittlerweile dritten Herausgeber der Briefe Hamanns, übergeben.20
Unschätzbare Bedeutung haben diese Materialien dadurch gewonnen, dass sämtliche Briefe Hamanns, die sich in Königsberg befanden, – es handelt sich um insgesamt 658 Stück – seit der Einnahme Königsbergs durch die Rote Armee Anfang 1945 ebenso wie der restliche Hamann-Nachlass als verschollen gelten. Nadlers Übersiedlung nach Wien, so negativ sie sich auch auf die Fertigstellung der Hamann-Ausgabe in den 1930/40er Jahren ausgewirkt hat, ist gleichzeitig nützlich gewesen, weil Reproduktionen angefertigt werden mussten. Anhand der Photographien, die Nadler veranlasste, lässt sich der Königsberger Nachlass, die Werke betreffend, heute recht gut rekonstruieren.21
Da Ziesemer in Königsberg geblieben war, bestand für ihn nicht die Notwendigkeit, sich Reproduktionen der Briefe Hamanns anfertigen zu lassen, konnte er doch jederzeit an den Originalen arbeiten. So bleiben uns von jenen 658 Briefen, die in Königsberg waren, jeweils nur zweitbeste Quellen. Für die Jahre bis 1782, also die Bände I bis IV, haben wir als einzige Quelle der Königsberger-Briefe noch die Druckbogen aus den Jahren 1937 bis 1943. Für die Briefe aus den Jahren 1783 bis 1788 die Satzvorlagen für die Bände V bis VII, die Ziesemer 1941/42 an den Verlag geschickt hatte.
Während Nadler nach dem zweiten Weltkrieg seine sechsbändige Werkausgabe Hamanns von 1949 bis 1957 wegen der Divergenzen mit dem Insel-Verlag und der Preußischen Akademie der Wissenschaften bei der Thomas-Morus-Presse im Herder-Verlag in Wien veröffentlichte,22 ließ der Insel-Verlag von 1955 bis 1957, jetzt in Wiesbaden, unter Ziesemers und Henkels gemeinsamer Herausgeberschaft, die Bände I bis III der Briefausgabe seiten- und zeilenidentisch anhand der wenigen überlieferten Druckbogen neu setzen – und diesmal auch ausliefern.23 Band IV erschien als erster Band unter alleiniger Herausgeberschaft von Henkel 1959.24 Im Gegensatz zu den vorherigen drei Bänden ist Band IV kein bloßer Nachdruck der Druckbogen Ziesemers aus den Jahren 1940–43. Zwar ist ein großer Teil der Briefe ebenfalls seiten- und zeilengetreu zur Vorlage, der Text wurde von Henkel aber nochmals »kritisch […] bearbeit[et]« und »eine genauere chronologische Ordnung der Briefe« hergestellt, wie er in seiner Einleitung schreibt.25 Der Textbestand ist freilich identisch.
Insgesamt 499 der 681 Briefe aus den Hamann-Briefbänden I bis IV gelten seit 1945 als verschollen. Für diese 499 Briefe sind die Druckfahnen aus den 1930/40-Jahren die einzige erhaltene Quelle. Da Henkel in den Nachweisen aller sieben Briefbände jeweils noch die bei Ziesemer genannten, seinerzeit aber schon verschollenen Königsberger Quellen anführt, ist für den Leser leider zunächst nicht ersichtlich, dass für die Erstellung der Ausgabe von Henkel bereits nicht mehr die Originalbriefe verwendet werden konnten. Verstehbar wird diese Intransparenz der Quellen dadurch, dass Henkel nicht sicher wusste, ob die Originalbriefe tatsächlich zerstört wurden.
Die wenigen überlieferten Exemplare der ursprünglichen Druckfahnen der Bände I, II und IV befinden sich heute in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, in der Präsenzbibliothek des Germanistischen Seminars der Universität Hamburg, in der Beinecke Library in Yale, im Herder-Institut in Marburg, in Privatbesitz sowie im Hamann-Nachlass Henkels in Heidelberg. Von Band III konnte ich bisher leider noch kein überliefertes Exemplar ausfindig machen,26 1957 hat es ein solches jedoch definitiv noch gegeben.
Die letzten drei Bände der Briefausgabe erschienen, herausgegeben von Arthur Henkel: 1965, 1975 und 1979.27 Henkel erstellte die Bände auf der Grundlage der Satzvorlagen der Bände V bis VII, die Ziesemer 1941/42 an den Verlag geschickt hatte und die Kippenberg kurz vor den Luftangriffen auf Leipzig noch aus dem Verlagsgebäude gerettet hatte. Kopien der durchnumerierten losen Abschriften in der Qualität von Satzvorlagen befinden sich heute im Nachlass Arthur Henkels: etwa ein Drittel als handschriftliche Abschriften Arthur Wardas von 1901–1929, die restlichen zwei Drittel als Typoskripte, die Ziesemer in den 1930er-Jahren angefertigt hat. Die Typoskripte sind bis auf wenige Ausnahmen Abschriften aus dem Briefwechsel Hamanns mit Jacobi, den Warda als einziges Großkonvolut vor seinem Tod nicht mehr abschreiben konnte. Glücklicherweise haben diese Briefe in der UB Nürnberg-Erlangen den Zweiten Weltkrieg überstanden, so dass die Typoskripte Ziesemers hauptsächlich editionsgeschichtliche, keine quellenmäßige Bedeutung haben.
Anders liegt die Sache bei den handschriftlichen Abschriften Wardas. Für mindestens 159 Briefe aus den Bänden V bis VII sind die handschriftlichen Abschriften Wardas die einzige überlieferte Quelle. Besser wäre es natürlich, hätten wir noch die Originalbriefe. Die Qualität und Genauigkeit der Transkription der Wardaschen Abschriften ist indes nicht zu verachten. Von Haus aus war Warda Jurist, nicht Philologe und so sind auch seine Abschriften von geradezu juristischer Genauigkeit: Unterschiedliche Schreiberhände sind mit verschiedenfarbiger Tinte kenntlich gemacht, Streichungen und Überschreibungen werden in Umschrift transkribiert, Geminationen wiedergegeben statt stillschweigend aufgelöst, die Anordnung der Textteile ist zum Teil präziser als in der gedruckten Ausgabe.
Eine ausführliche Version dieser editionsgeschichtlichen Untersuchung ist erschienen:
Janina Reibold: Kurze Geschichte der langen Hamann-Edition. Ein Zwischenbericht. In: Johann Georg Hamann: Natur und Geschichte. Acta des Elften Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 2015. Hg. von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke. Göttingen 2020 (= Hamann-Studien, Bd. 4), S. 453–475.