152
363/25
Trutnau
wenige Kilometer nördlich von Königsberg
Trutenau den
16 Julius 1759.
26
Herzlich geliebtester Freund,
27
Ich habe gestern Ihre liebreiche Zuschrift erhalten, und die Nachricht, daß
28
ein Packet von Ihnen gleichfalls zu Hause auf mich wartet, das durch 2 junge
29
Leute abgegeben worden, die vermuthlich aus Ihrer Schule kommen. Ich
30
denke morgen oder übermorgen von meinem Vater hier abgeholt zu werden.
31
An statt Scenen in der Natur zu meiner Aussicht zu haben oder zu machen,
32
Hamann ist nicht mit der Landschaft, sondern mit den häuslich-sozialen Verhältnissen des Ortes beschäftigt; er kannte das Werk von Hogarth wohl über
Hogarth,
The analysis of beauty
.
liegen Hogartsche Zeichnungen zu Sirachs Haus und Sittenbuch um mich
33
herum, die meine Aufmerksamkeit von den ersteren abziehen. Ich würde
34
vielleicht in der gaukelnden Lüsternheit des Müßigganges hier ausschweifen ohne
35
Kappzaum
„ein zaum der besonders jungen pferden angelegt wird, mit einem nasenbande und scharfem gebisz, um sie zu bändigen“ (
Grimm DWB
s.v. Kappzaum)
diesen moralischen Kappzaum von Betrachtungen – über Familienhändel und
36
Wirths
Johann Jakob Kanter
Dietrich
Besitzer des Guts Trutenau, wo es auch eine Papiermühle gab.
den Umgang meines Wirths mit unsern großen Mühlenbaumeister Dietrich.
37
Der letztere hat jetzt Wälder hinter Kaunen in Pohlen auf 6 Jahre gekauft
38
und ein Gut gepacht – Der erste Versuch hier in dieser Art. Weil unsere
S. 364
Erfahrung (die im gewißen Verstande die wahre
Philosophia atomistica
ist)
2
durch dergleichen kleine Beobachtungen wächst; so will ich immerhin die
3
Augenweide des Landlebens etwas weniger hier genüßen.
4
Ich weiß, Herzlich Geliebtester Freund, daß ich Ihnen noch eine Antwort
5
in Ansehung meines Bruders schuldig bin. Da Sie jetzt selbst auf die Spur
6
kommen, ist es mir lieb mit wenigen mich zu erklären. Um Gedult Sie zu
7
bitten, würde vielleicht
jenem andern
, der Sie kennte, lächerlich vorkommen,
8
gleichwol habe ich es im letzten Briefe gethan, und thue es noch. Sein letzter
9
Brief ist sehr gut geschrieben; aber so künstlich und in Falten gelegt, daß die
10
Furcht und Scham einer Blöße sich durch seinen gesetzten Witz verräth, und
11
ich finde allenthalben Beweise von dem, was Sie mir sagen, und Spuren, aus
12
dem ich, wie der weise
Memnon,
merken kann, was für Ohren das Hündchen
13
trägt, das man sucht pp. Ich thue das beynahe in jedem Briefe, warum Sie
14
mich ersuchen – und ich werde mich näher erklären, da er mir selbst Anlaß
15
dazu gegeben. Weil ich aber auch den Verdacht bey ihm schon mehr als einmal
16
erweckt, daß ich mich
zu viel um fremde Dinge
bekümmere, und
von dem
17
gemeinsten Lauf
der Dinge und Geschäfte nicht
anders als übertrieben
18
denken kann: so thue ich durch dies Vorurtheil nichts als Fehlschläge.
19
Er schickte mir den Anfang des franzosischen Gespräches zu, das er auf
20
das
Examen
gemacht hatte und versprach mir die Fortsetzung davon; weil
21
er nicht Raum und Zeit gehabt hatte es in einem Briefe zu Ende zu schreiben.
22
Ich beurtheilte es, weil er mich
darum gebeten
hatte und zeigte ihm die
23
grammatica
lische Fehler
– und verwies ihm, daß er es Ihnen nicht vorher
24
zur Durchsicht gewiesen hätte. Er hat mir hierauf nicht ein Wort geantwortet
25
noch das übrige geschickt ohngeachtet ich ihn darum gebeten, und ihn in 2
26
Briefen
Nr. 150 u. 151
folgenden Briefen mit aller möglichen Wendung und Munterkeit ein wenig Luft
27
und Freymüthigkeit zu machen gesucht hatte. Er hat an meinen Briefen sehen
28
können, wie bey den entferntesten Materien mir meine eigene Angelegenheiten
29
im Sinne liegen um ihn zur Nachahmung aufzumuntern, und ihm zu zeigen,
30
wenn uns unser Beruf am Herzen liegt, daß uns jede Kleinigkeit dazu rufft
31
und wir den geringsten Umstand zu kleinen Werkzeugen brauchen können.
32
Da Sie Amts wegen und aus Gewißens Pflicht, ja selbst aus Hausvaters
33
Recht und Freundschaft, so frey und rund mit ihm reden können, als Sie es
34
für nöthig fanden, da Sie ein Augenzeuge seiner Nachläßigkeiten und
35
Nebenwege sind, und im stande ihn alle Augenblicke auf der That zu ertappen; da
36
Sie übrigens die gute Meynung der Mäßigkeit und Lindigkeit für sich haben:
37
so werden Sie es mir um so viel weniger verdenken, wenn ich Sie ersuche sich
S. 365
gegen ihn ernsthaft zu erklären, und ein wenig Gewalt dazu zu brauchen, um
2
ihn zur Selbsterkenntnis und Selbstprüfung zu bewegen.
3
Ich werde fortfahren aufrichtig gegen ihn zu seyn und Sie für alle die
4
Winke herzlich danken, die Sie mir von seiner Aufführung geben, solche auch
5
zu seinem Besten ohne jemandes Nachtheil anzuwenden suchen. Sein
phlegma
6
und kalt Blut ist nichts als eine falsche Brustwehr seines Stoltzes und seiner
7
Beqvemlichkeit – und so gut Blendwerk als meine aufwallende Hitze.
8
Furcht
Jes 11,3
Wenn unser
Riechen
nicht in der Furcht des Herrn ist: so wird der
9
gegründeteste Verdacht gegen unsern Bruder zum ungerechtesten Blutgerichte.
10
An statt ihn zu strafen verdammen wir uns selbst, und richten das Gesetz und
11
den großen Geber deßelben, denen wir doch selbst unterworfen sind. Nichts
12
als der Name Gottes und Jesu kann uns Recht, Herz und Glück geben, Vater
13
und Mutter und Bruder zu haßen, und sie im Glauben Abrahams Gotte
14
zu opfern.
15
Wenn wir mit Leuten Wahrheiten reden müßen, deren Vernunft von
16
Irrthum, Unwißenheit und Lüsten gefangen gehalten wird: so muß man sich
17
nicht schämen seine eigene Vernunft zu verleugnen und Wahrheiten zu
18
kollern
wälzen, wüten
Solon
in
Plutarchs
Solon-Biographie erzählt, in
Baumgarten,
Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie
so wiedergegeben (5. Tl., S. 163f.): „Das schändliche Gesetz, daß keiner bey Todesstrafe an die Wiedereroberung von Salamis denken solle, ging ihm [Solon] sehr zu Herzen; er faste daher eine Elegie ab, die aus hundert Versen bestand, die Gemüter des Volkes wider die Megarenser zu erbittern, welche ihnen diese Insel abgenommen hatten. Nachdem er die Elegie völlig in sein Gedächtnis gefasset hatte, lief er, als ob er unsinnig sey, mit seiner Nachtmütze auf dem Kopfe auf den Markt, stieg auf den Stuhl des öffentlichen Heroldes, und wiederholte mit grosser Heftigkeit die Elegie, die er aufgesetzet hatte, vor dem Volk, welches sich um ihn her versamlet hatte.“
kollern, oder wie Solon im Unsinn Gedichte zu singen. Was kann ich mit
19
meiner Vernunft gegen einen Stoltzen, Wollüstigen und Habsüchtigen
20
ausrichten, da seine meiner allemal überlegen ist, weil der Arm der Leidenschaft
21
sie führt, und sie listiger, vorsichtiger, stärker und wütender als meine macht,
22
die als natürlich menschlich, schwach und nackt ist.
23
Doch, wenn wir des
Leidens Christi
viel haben – und gehört es nicht mit
24
Brüder
Joh 7,5
zu seinen Leiden, daß Seine
Brüder
an diesen Mann der Schmerzen nicht
25
Seinigen
Joh 1,11
glaubten, und die Seinigen ihn nicht aufnahmen: so werden wir auch reichlich
26
getröstet durch Christum. – –
27
Königsberg den 20.
h:
28
Steink
nicht ermittelt
Ich habe Ihre liebe
Mama
Einlage an
Mlle Steink
eingehändigt. Ihr Herr
29
Bruder aus Curland hat mir geschrieben. Er steht jetzt in dem Hause sehr gut,
30
wie ich auch durch Baßa gehört, worüber ich mich herzlich freue. Ich habe
31
mich herzlich gewundert, daß man dort ein ander Wort in meinen Briefen
32
das nicht weit vom Adel gestanden, für
Canaille
gelesen, und darüber so böse
33
geworden; und muß Ihren HErrn Bruder für seine Treuherzigkeit ein wenig
34
auslachen, daß er sich diesen Einfall so heftig angenommen. Ich bin dergl.
35
Misverständniße schon gewohnter als er – Es war ein kützlicher
Witz in
36
meinen Briefen, den weder Eltern noch Kinder verstehen, der aber freylich
37
am meisten auf ihren Hofmeister gemüntzt war, wie er es auch selbst bemerkte;
S. 366
und wodurch
seine Eitelkeit des witzigen Studierens
und die unterlaßene
2
Anwendung davon zur Hauptsache
, nämlich der Erziehung ein wenig
3
gestraft werden sollte. Ich nahm mir zugleich die Freyheit meinen Muthwillen
4
als
eine Gelegenheit
Ihnen an die Hand zu geben, sich an meinen eigenen
5
Bruder
zu rächen auf gleiche
Art.
6
Mein lieber Alter hat mir selbst ihr Packet herausgebracht, daß ich also
7
Ihre Rede noch in Trutenau lesen konnte. Die Exemplare sind vertheilt biß
8
auf
Trescho,
dem ich bey erster Gelegenheit seins überschicken will. Für
9
meins danke herzl. Einige freye Erinnerungen wag ich immer, die ich aber
10
nicht für gründlich halte, weil ich sie nicht aufmerksam genung habe lesen
11
arsin
Hebung/Länge im Rhythmus;
thesin
Senkung/Kürze im Rhythmus
können. Die Schulweisheit ist
mehr
per arsin
als
thesin
erklärt – zu viel
12
Spott mit
kleinen
Thoren – voller
Schulgelehrsamkeit:
die
Application
13
hat mehr Schulweisheit. Ich verstand anfänglich nicht, was Sie damit
14
wollten:
Sie wären willens gewesen von etwas andern zu reden
und
15
wünschte, daß Sie bey der Materie geblieben wären. Herr Berens erklärte
16
mir, daß sie einigen guten Freunden ihr
Thema
schon gesagt, daß es in
Riga
17
ruchtbar geworden, und daher diese Entschuldigung für einige ihrer Zuhörer
18
nöthig gehabt, welche andere nicht verstanden, wie ich und auswärtige oder
19
fremde Leser. Herr Berens versichert mir, daß Sie den
Endzweck eines
20
Redners
erreicht, zu gefallen und zu rühren. Und wenn Sie auch keinem
21
einzigen gefallen, auch keinen einzigen gerührt hätten: so gebe Gott, daß alle
22
Lampen …
Mt 25,1ff.
Ihre Gehülfen und Kinder
schulweise
werden mögen – gleich den Lampen
23
der klugen Jungfrauen – die auch das Oel in ihren Gefäßen mitnahmen. Bist
24
Diogen … Hundezähne
Diogenes von Sinope
, ‚Hundsphilosoph‘; vll. auch Anspielung auf
Prémontval,
Le Diogene de D’Alembert
Du nicht, gesitteter Diogen! (denn nach der Zergliederungs Sprache hast Du
25
so gut kleine Hundszähne als Du mir meine Hauer vorwirfst) – Bist Du
26
papierne
vll. vergeistigt, asketisch gemäß Epiktets Tugendlehre
nicht selbst der Schulweise, den Du suchst – oder ist es der papierne Mensch,
27
Philosoph … Bein
Epiktet
den der Philosoph mit zerbrochenem Bein, wie Du, deinen Schulweisen
28
definir
te und zeichnete – – Freylich müßen wir, wie Gott, klagen, daß unser
29
Wille nicht auf Erden wie im Himmel geschieht, und was wir in der
30
Ausdehnung
unserer
Ideen
wünschen und wollen, durch die
Nichtigkeit
unserer
31
eigenen Kräfte, durch die
Niedrigkeit
unserer Hülfsmittel und Werkzeuge
32
Rhapsodie
Vortrag eines Gedichtes oder von Teilen einer/verschiedener Dichtung/en, die lose miteinander verbunden, aber nicht unbedingt aufeinander aufbauen.
vereitelt wird. Genung. Ich danke Ihnen für Ihre kleine
Rhapsodie
von
33
gelehrten Neuigkeiten. Für mich ist Saft und Mark genung darinn. Keine
34
Entschuldigung mehr von der Art für mich. Jedes Wort ist ein Urtheil für mich,
35
und jede Kleinigkeit, womit mich ein Freund unterhält unendlich kostbar.
36
Nicht das Gepränge, sondern die
aisance
der Empfindungen ist meine Sache;
37
und mit gleichen Gesinnungen wird Ihnen die Gedult mein Geschmier zu
S. 367
lesen – wie ich mich schmäuchele – zu einem Zeitvertreib. Freundschaft –
2
Dissonantzen
Im unten besprochenen Band von F. J. W. Schröder wird die ‚Dissonanz‘ auch bemüht: „Deine Dissonanzen sogar sind nothwendig.“
Schröder,
Poesien
, S. 8.
unter jedem
Contra
st –
Harmonie
– die im Gebrauch der
Dissonantzen
3
halbe Töne
Chromatik bspw. im ital. Madrigal
besteht und wie die Italiener halbe Töne liebt – das sind die Qvellen, die mich
4
so briefreich an Sie allein machen, unterdeßen ich andern, wie eine lybische
5
Wüste, auf den Scheitel und unter den Fußsohlen brenne – ohne Schönheiten
6
der Aussicht, und ohne Früchte weder der Sonne noch des Monds.
7
Wenn Sie die lyrischen, elegischen und epischen Gedichte nicht haben, die
8
zu Halle ausgekommen; so haben Sie das neuste in dieser Meße noch nicht
9
kennen gelernt. Ich schicke Sie Ihnen über auf Gerathe wohl. Besitzen Sie
10
Schwester
Catharina Berens
solche; so könnten Sie selbige an HE.
Carl Berens
oder seine
Mlle
Schwester
11
anbringen; wo die nicht,
soll
sie mein Bruder Ihnen abkaufen. Die Gedichte
12
gehören zu Meisterstücken; in der
Theorie
ist der Verfaßer auf guter Spur
13
Batteux
Schröder zitiert
Batteux,
Les Beaux Arts
ausführlich in den „kritischen Anmerkungen über das Natürliche in der Dichtkunst,
Schröder,
Poesien
, S. 4ff.
Eitelkeit …
Kritik Hamanns an Schröder
und überläuft beynahe seinen Liebling
Batteux.
Die Eitelkeit gleich Systeme
14
zu machen, und der verfluchte
Mechanismus
unserer neueren Philosophie,
15
die Ungedult seine Eyer auszubrüten und den
Termin
des Sitzens
16
auszuhalten, der zur Reife und Zeitigung der Natur gehört. Vorn sind Anmerkungen,
17
hinten sind Briefe. Die letzten wiederlegen und ergänzen zugleich die ersten.
18
πρωτον ψευδος
Proton Pseudos, Grundirrtum
In seinen Briefen ist eben der Fehler und
πρωτον ψευδος
das in den
19
Anmerkungen herrscht. Sie werden hier meine Beobachtung in einem Beyspiel
20
sehen, wie eine Reyhe neuer Begriffe eine neue Sprache hervorbringt. Ich
21
keichen
keuchen
habe das Buch in einem Othem gelesen, daß ich mehr davon keichen als reden
22
muß. Sie werden selbst die Schwärmereyen und die üppigen Äste dieses zu
23
fruchtbaren
genies
ihrer Aufmerksamkeit würdigen.
24
Cramer (Hg.),
Der Nordische Aufseher
, der erste Teil enthält das 1. bis 60. Stück.
Ich habe den ersten Theil des Nordischen Aufsehers durchblättert.
25
Von Klopstock sind darin gedruckt:
Eine Betrachtung über Julian den Abtrünnigen
,
Von der besten Art über Gott zu denken
,
Von der Sprache der Poesie
,
Von der Bescheidenheit
,
Von dem Fehler, andere nach sich zu beurteilen
,
Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften
,
Dem Allgegenwärtigen
,
Von dem Publico
.
Klopstocks Stücke unterscheiden sich darunter und erheben allein das Werk. Eine
26
Ode über die Allgegenwart Gottes, die sich ohne einem heil. Schaudern nicht
27
lesen läßt. Es ist wahr, daß er ein eben so fürtreflicher prosaischer
28
Klopstock,
Von der Sprache der Poesie
, S. 223f.: „Es ist schon lange her, daß Luther die Deutschen durch die Art, auf welche er die poetischen Schriften der Bibel übersetzt hat, von dem Unterschiede der prosaischen und poetischen Sprache hätte überzeugen können. Aber sie haben von diesem grossen Manne überhaupt weniger gelernt, als sie von ihm hätten lernen sollen. Opitz hat sie nach ihm an jenen Unterschied von neuem erinnert; Haller noch stärker: allein sie scheinen noch immer daran zu zweifeln.“
Schriftsteller ist – Luther, Opitz und Haller ist sein deutsches
Triumvirat.
Gedanken
29
über die beste Art von Gott zu denken 1.) nach metaphysischen Begriffen
30
Betrachtungen
Klopstock,
Von der besten Art über Gott zu denken
, S. 217f.;
Begeisterung
ebd. S. 219f.
2.) in Betrachtungen 3.) in Begeisterung; als ein Sophist, Philosoph und
31
Christ
oder
Poet
. Wundern Sie sich nicht, daß dies
Synonima
sind. Das
32
zweyte Stück von ihm sind Anmerkungen
s
über den poetischen
33
Ausdruck, Sprache oder Period. Lauson erschrack, daß so ein Geist wie Klopstock
34
auf den Ort Achtung giebt, wo eine so nichts bedeutende
Interjection
als das
35
Ach! ist, stehen soll. Dafür hat er heut erfahren müßen, daß er noch lange
36
nicht so viel als Gottsched von der Poesie versteht, den er so verächtlich
37
beurtheilt. Endlich hat er einige Betrachtungen über das Publicum gemacht,
S. 368
Klopstock,
Von dem Publico
, S. 446
näml. das Gelehrte, welches er in
Richter
und
Kenner
eintheilt, und worinn
2
er seine eigene Geschichte mit dem bescheidenen Stoltz eines Richters und
3
emblematisch
sinnbildlich
Kenners seiner eigenen Werke
emblemati
sch erzählt.
4
Protheus
Proteus – vll. eine Verschreibung oder eine Variation, die ‚Pro‘ und ‚Theos‘ verknüpft. In
Hamann,
Wolken
findet sich auch diese Schreibweise (W S. 87/30, N II S. 107/12, ED S. 65).
Dies
Publicum
was für ein
Protheus
ist es? Wer kann alle die
5
Verwandlungen erzählen, und alle die Gestalten, unter denen es angebetet, und durch
6
blessirter Officier
der fingierte Leser (eigentl.
Ewald v. Kleist
) der
Briefe die neueste Literatur betreffend
, S. 3: „Der Herr von N** ein verdienter Officier, und zugleich ein Mann von Geschmack und Gelehrsamkeit, ward in der Schlacht von Zorndorf [Sieg der Armee Friedrichs II. über die Russen, 1758] verwundet. Er ward nach Fr** gebracht, und seine Wundärzte empfohlen ihm nichts eifriger, als Ruhe und Geduld. Langeweile und ein gewisser militarischer Eckel vor politischen Neuigkeiten, trieben ihn, bey den ungern verlassenen Musen eine angenehmere Beschäftigung zu suchen. Er schrieb an einige von seinen Freunden in B** und ersuchte sie, ihm die Lücke, welche der Krieg in seine Kenntniß der neuesten Litteratur gemacht, ausfüllen zu helfen. Da sie ihm unter keinem Vorwande diese Gefälligkeit abschlagen konnten, so trugen sie es dem Herrn Fll. auf, sich der Ausführung vornehmlich zu unterziehen. Wie mir, dem Herausgeber, die Briefe, welche daraus entstanden, in die Hände gerathen, kann dem Publico zu wissen oder nicht zu wissen, sehr gleichgültig seyn …“
die abergläubische Leser betrogen werden. Ein blessirter
Officier,
der für die
7
lange Weile – ich weis nicht was? lieset. Dies ungenannte sind die Briefe
8
die neueste Litteratur betreffend, die ich mit
eben
so viel Vergnügen gelesen,
9
Schärfe
Schärpe
als man einem Patienten kaum zutrauen kann, der seinen Arm in der
Schärfe
10
trägt. Sollte aber wohl das Publicum von
Richtern
und
Kennern
dergl.
11
Einfälle billigen, die gar zu deutl. verrathen, daß nicht der Mann, an den
12
diese Briefe gerichtet sind sondern der Schriftsteller ein solcher
ist, der seine eigene lange Weile vertreibt – und seine gesunde
14
Urtheilskraft zur Lust oder aus eigennützigen Absichten, wie die Bettler, zum Krüppel
15
Kein Bergmann
Christian Gottlieb Bergmann
;
Gotthold Ephraim Lessing
hatte dessen Übersetzung von
Bolingbroke,
Letters on the study and use of history
im 4. der
Briefe die neueste Litteratur betreffend
kritisiert und im 30. wiederum dessen uneinsichtige Antwort.
macht. Kein Bergmann wird durch diese Briefe gebeßert werden; der ist zu
16
Wieland
Christoph Martin Wieland
war vor allem im 7. bis 14. der
Briefe die neueste Litteratur betreffend
im Visier der Kritik
Lessings
.
tumm sie zu lesen; kein Wieland an seinem guten Namen viel verlieren,
17
vielleicht dadurch für sich und seine Leser oder Anhänger gewinnen – kein
18
Academie
Insbesondere ging es in der Kritik
Lessings
um die Akademie-Pläne in
Wieland,
Plan einer Academie
und deren Bezug auf griechische Philosophie (10. bis 14. der
Briefe die neueste Litteratur betreffend
).
Philosoph einem Witzling mehr zutrauen als einer privilegierten
Academie.
19
Der wie Pythagoras den olympischen Spielen zusieht, hat so wenig Lust als
20
Geschick mitzulaufen; er sieht aber auch ohne Neid den Sieger und ohne
21
Mitleiden seine Nebenbuhler und sich selbst an.
22
Haben Sie
Rachis im Kloster
ein Schauspiel, in der Realschule
23
aufgeführt? Die Fabel und die Ausführung ist für gelehrtere Zuhörer, als dort
24
sind. Es gehört wenigstens in Ihre Schulbibliotheck. Es scheint mir mit zu
25
viel Fleiß und Sorgfalt geschrieben zu seyn, als daß es gefallen sollte.
26
Forstmann soll diesen May gestorben seyn – Seine erfreul. Nachrichten für
27
sind nicht mehr
… im Handel erhältlich
die Sünder sind nicht mehr, werden aber wieder verschrieben; alsdenn sollen
28
Sie selbige haben. Ich kenne keinen größeren Redner unter den Neueren.
29
Kein Wunder, was sind die Angelegenheiten eines
Demosthenes
und
Cicero
30
gegen das Amt eines Evangelisten, eines Engels, der nichts weniger und
31
versöhnen
2 Kor 5,20
nichts mehr seinen Zuhörern zu sagen hat und weiß, als: Laßet euch versöhnen
32
mit Gott und sie mit der Liebe, mit der Gewalt, mit der Niedrigkeit dazu
33
ermahnet …
2 Kor 5,20
königlich …
1 Petr 2,9
ermahnet, als wenn er Christus selbst wäre. Und zu diesen königlich
34
priesterlichen Geiste wird
d
wie Petrus sagt, jeder Christ geweyht und gesalbt,
35
ein Prediger der Gerechtigkeit, ein Zeuge und Märtyrer der Wahrheit mitten
36
verkehrten Geschlecht
Phil 2,15
unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht der Sünder, hier wie der
37
König der Juden verworfen und mit Dornen gekrönt, dort Sohn und Erbe,
S. 369
als Richter über die 12 Stämme, eine Krone der Herrlichkeit auf dem Haupte.
2
vll. mit Bezug auf diese Stelle:
Klopstock,
Dem Allgegenwärtigen
(
Der nordischer Aufseher
, 44. St., S. 390): „Es giebt Gedanken, die beynahe nicht anders als poetisch ausgedrückt werden können; oder vielmehr, es ist der Natur gewisser Gegenstände so gemäß, sie poetisch zu denken, und zu sagen, daß sie zu viel verlieren würden, wenn es auf eine andere Art geschähe. Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes gehören, wie mich deucht, vornämlich hierher.“ Oder auch diese:
Klopstock,
Von der Sprache der Poesie
(
Der nordischer Aufseher
, 26. St., S. 224f.): „daß es Gedanken und Empfindungen, oft nur einen gewissen Grad, eine Wendung, eine Art Ausbildung derselben gibt, die allein in der Poesie, und andre, die nur in Prosa gebraucht werden müssen“
Dies sind Empfindungen, die mit zu denen gehören, an die sich, wie Klopstock
3
sagt, kein prosaischer Schriftsteller wagen kann noch darf. Wer kann Dinge
4
nachahmen, die durch keinen von den fünf Sinnen geschöpft werden können.
5
Dies sind Empfindungen, die in kein ander Feld gehören, als in die Poesie,
6
Göttersprache
1 Kor 2,13
und in keiner andern als der Göttersprache allein ausgedruckt werden können.
7
Sie kommen aus dem Munde Gottes und gehen in Gottes Ohr zurück. Wie
8
das Opferfeuer des Herren vom Himmel fällt und gen Himmel steigt –
9
Schlummer … zu Gott steigen sieht
1 Mo 28,10ff.
Gedanken, die der Christ im Schlummer und in den Träumen
seiner Ruhe
–
10
mitten unter den Gefahren der Nacht und eines offenen Feldes – ungeachtet
11
des Steines, des harten Polsters wie Engel auf der
Engel
Leiter Jakobs
12
von Gott und zu Gott steigen sieht.
13
Den Begriffen des Klopstocks zu Folge besteht das physische Wachen in
14
demjenigen Zustande eines Menschen, da er sich seiner selbst bewust ist; dies
15
ist aber
Dies nicht gegen, sondern mit Klopstock:
Klopstock,
Von der besten Art über Gott zu denken
(
Der nordischer Aufseher
, 44. St., S. 213): „Das wirkliche Wachen wäre derjenige glückliche Zustand unsrer Seele, da wir entweder Gott denken; oder etwas, das Gott geboten hat, und zwar weil er es geboten hat, thun.“
Seelenschlaf
ist aber der wahre Seelenschlaf. Unser Geist ist nur alsdann wachend
16
anzusehen, wenn er sich
Gottes bewust, ihn denkt
und
empfindt
; und die
17
Allgegenwart Gottes in und um sich erkennt, wie die Seele eines wachenden ihre
18
Herrschaft über den Leib und der Leib die Eindrücke eines geistigen Willens
19
natürlichen Menschen
1 Kor 2,14
ausdruckt. Ein Mensch der in Gott lebt wird sich daher zu einem natürlichen
20
Menschen verhalten, wie ein wachender – zu einem schnarchenden im tiefen
21
Schlaf – zu einem Träumenden – zu einem Mondsüchtigen. Ein tiefer
22
Schlaf ist dem Tode am nächsten ohne alles Nachdenken, ohne alle
23
Thätigkeit. Ein Träumender kann lebhaftere Vorstellungen als ein wachender
24
haben, mehr sehen, hören, denken als er; sich derselben bewust seyn, mit mehr
25
Ordnung träumen, als ein wachender denkt; ein Schöpfer neuer
26
Gegenstände, großer Begebenheiten. Alles ist
wahr
für ihn und doch ist alles
27
Betrug: Alles was um ihn vorgeht, derjenige der mit ihm redt, die Gefahr, die
28
ihn umringt, das Glück das auf sein Aufwachen wartet, ist ihm aber nicht
29
gegenwärtig und
Nichts
für ihn. Er sieht, er hört, er versteht nichts, in der
30
Theorie seiner Träume vielleicht unendlich mehr als der wachende an seinem
31
Bett. Der Mondsüchtige ist vollends das Bild eines praktischen, geschäftigen
32
Manns, der mit aller Vorsichtigkeit, Ueberlegung und Zusammenhang redet,
33
handelt,
gefährlichen
Unternehmungen mit mehr Sicherheit ausführt als er
34
mit offenen Augen thun
könnte
und thun
würde
.
35
Es giebt Träumende, die sich ausfragen laßen, und mit Verstand
36
antworten. Wenn ein wachender in diesem Fall es mit dem ersten versuchen möchte,
37
und ihn über seinen eigenen Zustand zu Rath früge: so wäre die
S. 370
Verwechselung der Ideen sehr leicht, und das von sich selbst sagte, was den wachenden
2
angienge, und umgekehrt. Gesetzt, der wachende ließ in der Hitze das Wort
3
entfahren: Du träumst, lieber Freund. So könnte vielleicht ein großer
4
Wortwechsel zwischen diesen beyden entstehen – Ist jetzt die Frage, ob es wohl in
5
aller Welt möglich wäre, daß ein Wachender der Träumenden,
so lange
er
6
nämlich schliefe, davon überführen könnte, daß er schliefe? Nein – Wenn
7
Gott selbst mit ihm redte, so ist er genöthigt das Machtwort zum voraus zu
8
Wache auf …
Eph 5,14
senden und es in Erfüllung gehen zu laßen:
Wache
Wache auf, der Du
9
schläfst –
10
Der erste Schlaf des ersten Menschen war eine Erfindung und Geschöpf
11
Gottes. – Es ist daher eine Unanständigkeit schlafende zu stören – und der
12
achtsame Freund
und Liebhaber unserer Seelen beschwert die Töchter
13
Rechen
Rehe;
Hinden
Hirschkühe
Jerusalems, die bey den Rechen oder bey den Hinden auf dem Felde sind, eine
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Seele, die seine Freundinn ist, nicht aufzuwecken nicht einmal anzurühren,
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biß es ihr selbst gefällt. Der Träumer war der Sohn, an dem Jakobs und
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Gottes Seele wohlgefallen hatte – und jeder Gefangene in Zion, den der
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Herr erlöset, sieht wie ein Träumender aus – der Mund voll Lachens – die
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Sprüchwort
nicht ermittelt
Zunge voll rühmens: daß ihn die Welt nach einem lateinischen Sprüchwort
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unter die Narren zählt oder wie einen Großprahler verachtet. Aber die
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Mondsüchtigen, in die die wandelbare Gestalt und der Geschmack des Publici und
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des Jahrhunderts und des öffentlichen Ruhms und Beyfalls würkt – Von
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denen heist es: Ich der Herr bin Dein Artzt. Drey Krankheiten, mit denen er
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sich am meisten abgab: die Beseßenen, die Mondsüchtigen, die Gichtbrüchigen
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zählt Matthäus, und er machte sie alle gesund. Diese Gabe gesund zu machen
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hinterließ er seinen Jüngern; sie hat nicht aufgehört, weil er versprochen hat
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unter uns zu seyn und
mit
uns alle Tage biß an das Ende der Aeonen.
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Melden Sie mir doch wie viel Ihnen
la Science de gens de robe
von
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Bruders
Johann Christoph Hamann (Bruder)
Massuet
kostet? Ferner, wie es mit dem
theologi
schen
Examen
meines Bruders
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aussieht,
NB
aufrichtig, ist er abgewiesen worden, oder ist es ausgesetzt?
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Ich wundere mich über Ihre Gleichgiltigkeit in Ansehung unsers
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gemeinschaftlichen Freundes. Er besuchte mich den Tag nach meiner Rückkunft vom
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Lande. Ich habe kein Mistrauen in Ihre Redlichkeit und Freundschaft, daß ich
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nicht mein Herz in Ansehung Seiner ein wenig entledigen sollte. Mein Urtheil
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über seine Verfaßung kann nicht richtig seyn, weil ich keine völlige Einsicht
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von seinen hiesigen Absichten habe. Er beschuldigt mich, daß ich mir nicht zu
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nahe will kommen laßen; und daß ist vielleicht seine eigene Furcht für sich
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selbst, die ihn und jede ernsthaffte Untersuchung über unsere Angelegenheiten
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entfernt. Ich zittere für seine Gesundheit – bey der jetzigen Jahreszeit arbeitet
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er wie ein Taglöhner den ganzen Morgen in Papieren – den ganzen
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Nachmittag in gesellschafftl. Zerstreuungen. Er hat in beyden eine Heftigkeit, der
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ich nicht fähig bin, weil ich einen schwächlichern Leib und feigere Triebe habe.
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Eine Legion von Zweifeln im Kopf, für deren Auflösung er sich fürchtet –
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Weisheit
Athene
Die Weisheit hat sich ihm fürchterlich gemacht, weil sie sich unter ihrem
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Schilde für ihn verdeckt; und dieser Schild, wie Sie wißen, trägt einen
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Medusenkopf – Die Weisheit hat sich bey ihm verächtlich und lächerlich gemacht,
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weil sie einen schlechten Geschmack und zu wenig Urtheil in der Wahl ihrer
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Lieblinge unter den Vögeln zu erkennen
s
gie
s
bt. Da er, wie ein artiger
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Mann, den Göttinnen ihren Geschmack laßen sollte, wie die Götter den
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Sterblichen hierinn ihren freyen Willen laßen.
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Ein
heimlicher
Groll gegen mich, den der stärkere
Genius
unserer
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Bruder
Adam Heinrich Berens
Freundschaft in Feßeln hält – ein
bitterer
Gram um seinen hiesigen Bruder, den er
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für verloren hält, und im Wiederspruch mit dieser Einbildung, retten will und
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zu retten glaubt – – Bey so viel Schmerzen ist es kein Wunder, daß man seine
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Tage im Wältzen und im Laufen der Hände zubringen muß, wie ein Kranker
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seine Nächte – die halbe Nacht auf harten Matrazzen, und die andere Hälfte
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auf stachlichten Rosen.
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Gib Deinen Bruder auf: so bist du ruhig. Willst du ihn nicht
aufgeben:
so
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glaube
, daß er zu helfen ist und brauche die
rechten
Mittel: so wird Dir nach
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Deinem Glauben geschehen und die Mittel werden geseegnet werden.
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Bin ich Dein Freund: so denk, so handle wie ich, so folg mir nach – so
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glaub, daß Gott mit mir ist, und wenn ich gleich wandele im finstern Thal,
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wo Du und ich gleich viel sehen – Wer Gott im Gesicht sieht, wird der nicht
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alles drüber vergeßen – Ist keine Schönheit, keine Güte in seinem Antlitze?
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Willst du mein Feind seyn: so sey es von Herzen, und setz mich in den
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Schuldthurm, in das
Arbeithaus
, wohin ich nach Deinem Urtheile gehöre.
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Mach den Anfang zu reden und zu handeln. Ich will nicht der
erste
seyn,
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ich will mich nach Dich richten – Wenn ich stoltz wäre, möchte ich nicht anders
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handeln? Der Splitter des Stoltzes ist also nichts als das Bild des Sparrens,
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was aus Deinem eigenen Auge in meins zurückscheint.
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Wenn der Blinde im Evangelio zu seinem Artzt gesagt hätte: Meynst du daß
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der Dreck, den Du von der Erde nimmst, und Dich nicht schämst mit Deinem
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Speichel zusammen zu rühren – Bleib mir damit vom Leibe? hast Du nicht
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mehr
s
Sitten gelernt – Meynen Sie, daß er sehend geworden wäre.
37
Ich besuchte ihn einen Abend, wo er in große Unruhe, die er mir immer ins
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Gesicht leugnete, ohngeachtet er gegen den Lügengeist seines Bruders eyferte.
2
Ich suchte ihn damit zu beruhigen, daß Gott sich um unsere Wege bekümmere
3
und unserer am meisten auf krummen wartete und hütete. Er fuhr darüber so
4
auf, daß ich ihm unbegreifliche und unverständliche Einfälle vorsagte, daß
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ich mich freute mit gesunden Gliedern die Treppe herunterzukommen –
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Bey einem solchen Haß und erbitterten Gemüthe, über die unschuldigste
7
Worte, die mir in der Angst entfuhren, kann mir, Liebster Freund, freylich
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bey seinem Umgange nicht gut zu Muthe seyn. Ich muß aus Furcht die
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Thüren meines Herzens vers
iegeln
chlüßen, und meinen Mund hüten und
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versiegeln laßen, als wenn er
das Grab
eines
Betrügers
und
Verführers
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wäre. Ich muß mich, wie die ersten Jünger biß in das dritte Stockwerk meines
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Witzes verkriechen, wo mir Gott die Gnade giebt Paulum zu hören, bey
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deßen langen Briefen mancher junge muntere
r
Kopf
Christ, doch ohne
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Seinen Schaden, sich des Schlafes nicht erwähren kann.
Act. XX.
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welcher
Kritiker, Rezensent von
Lindners
Schreibart
. Fr. K. Gadebusch berichtet in
Livländische Bibliothek
, 2. Tl. (Riga 1777), S. 186: „Als diese Anweisung in dem 106. Stücke der berlinischen Zeitung 1755. nicht nach des Verfassers Sinne behandelt wurde, vertheidigte er sich im hamburgischen Korrespondenten.“
Ich weiß nicht mehr, Liebster Freund, welcher an den Erklärungen ihrer
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Rhetorick alle Farben auslöschen, und sie dafür in reines Licht verwandelt zu
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sehen wünschte – weil ih
nen
m in den meisten ein figürlich Wort und
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uneigentliches Zeichen eines Begrifs zu seyn schiene. Wenn Sie diesen Fehler
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an meinen Perioden, an einigen ausgesuchten, heben und ihnen das
tropi
sche,
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das dichterische, und schwärmerische abschälen – sie in
neue
reine, flüßige
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deutliche – aber nicht sinnliche, sondern bloß den Verstand überzeugende –
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auch nicht pathetische und herzliche – sondern sanft küzelnde und die Oberhaut
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Curialien
Titel, Anredeformen, formelle Schlusssätze etc.
des Herzens gleichförmig berührende
Curialien
übersetzen könnten: so wäre
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Zuhörer
von Lindners Vorlesungen über Rhetorik in dessen Magisterzeit (1750–1753), vgl.
HKB 155 ( I 389/28 ).
dies ein recht freundschaftlich Sendschreiben an Ihren alten Zuhörer.
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Hor.
ars.
22, „Amphora coepit / institui; currente rota cur urceus exit?“ / „Die Amphore beginnt getöpfert zu werden; warum verlässt sie die drehende Scheibe als Wasserkrug?“ Der Vers wird oft angefüht als Sinnspruch für die Notwendigkeit der rhetorischen oder poetischen Disposition.
– – currente rota, cur vrceus exit?
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werden Sie mir, liebster Freund, zulächeln. Wenn
s
Sie auch noch so
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erträgliche Wahrheiten sagen, werden Sie mir vorwerfen, so kann Ihnen Ihr
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Werk nicht anders als mislingen, daß Sie über kleine Neben-Dinge gern
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Anlaß nehmen zu spotten – Nun so will
ich mit
dem Töpfer über meine
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Leim
Lehm
Ungeschicklichkeit oder Unglück trösten. So geht es allen, die in Leim arbeiten.
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Jedes Ding bey seinem alten Namen zu laßen, ist das sicherste. Wenn
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Collaborator
Mitarbeiter
Calligraphus
nicht
Collaborator
geworden wäre: so wäre die Stelle
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besetzt. Jetzt erwarten Sie vielleicht von mir Briefe eines Schönschreibers:
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und ich schreibe so weitläuftig, flüchtig, selbst mit
humor,
als wenn es
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AmtsSachen beträfe.
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Das
Publicum,
der bleßirte
Officier
und ein guter Freund wollen vielleicht
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auf gleiche Art
amusi
rt seyn. – Unter den Bedingungen werde ich in Ewigkeit
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kein Autor. Ich will lieber wie ein einsamer Vogel auf dem Dache leben und
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mit David verstummen und still seyn, selbst meinen Freunden schweigen und
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mein Leid in mich freßen. Mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe, und
4
wenn ich dran denke, werd ich entzündet, ich rede mit meiner Zungen. Laß
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sie daher gehen wie ihre
Schemata,
und sich viel vergeblicher Unruhe machen –
6
Bewahre … Mörders
Ps 17,4
Bewahre mich, mein Gott, in dem Wort
m
Deiner Lippen – für
7
Höre … Väter
Ps 39,13
Menschenwerk – auf dem Wege des Mörders. Höre mein Gebet Herr! und vernimm
8
mein Schreyen und schweige nicht zu meinen Thränen; ich bin beydes so
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wohl Dein Pilgrimm als Dein Bürger – wie meine Väter. Ich darf mich
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meiner Ahnen und Familienchronick auch nicht schämen. Mein Alter läßt Sie
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herzlich grüßen nebst Ihrer lieben HausEhre. Ich umarme Sie Beyderseits
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und ersterbe mit der aufrichtigsten Hochachtung und Ergebenheit Ihr treuer
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Freund.
14
Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (40).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 409–423.
ZH I 363–373, Nr. 152.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
364/7 |
jenem andern ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies jedem Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): jedem andern |
365/35 |
Witz in ]
|
Geändert nach Druckbogen (1940); ZH: Witz iu Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies Witz in Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Witz in |
368/9 |
Schärfe ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies wohl Schärpe |
369/33 |
gefährlichen ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies gefährliche Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): gefährliche |
371/20 |
aufgeben: ]
|
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: aufgeben: |
372/29 |
ich mit ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies ich mich mit Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): ich mich mit |