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381/13
Königsberg. den
7.
Aug.
1759.

14
Mein Herr;

15
Ich will Ihnen eine kurze Liste der
Zerstreuungen
hersetzen, aus denen

16
seit meinem letzten Briefe die
Arbeit meiner Tage
bestanden. Diesen

17
Donnerstag vor 14 Tagen bin mit meinem Vater zum heil. Abendmal gewesen,

18
erhielte denselben Abend einen wichtigen Besuch zween guter Freunde, gieng

19
den folgenden Tag wieder Vermuthen auf eine Hochzeit, die nächste

20
Nachbarschafft machte es zu einer
Pflicht
und die
Neugierde
die Braut kennen zu

21
lernen zu einer
Eitelkeit
. Vorige Woche muste die
Leiche
einer

22
Börnsteindreherinn begleiten, die eine alte Bekannte von meiner seel. Mutter gewesen.

23
Am Ende derselben habe an alle meine gute
Freunde
aus
nach Kurland

24
geschrieben
. Gestern Nachmittag habe meinen Bauch ermüdet mit

25
Durchblätterung einiger Neuigkeiten, davon Sie
eine
bey Gelegenheit sollen zu

26
lesen bekommen, weil sie die einzige ist, die ich Ihrer Aufmerksamkeit würdig

27
halte. Heute morgen
haben den
Lucas
in meiner griechischen Stunde Gott

28
Lob! zu Ende gebracht, die immer die
erste
meines
Tageswerkes
ist und

29
hierauf ein paar Abschnitte in
Bacons sermonibus fidelibus
voll von fremden

30
Gedanken überlaufen; weil ich an meinen Schreibepult dachte. Hier haben

31
Sie meine
Memoires
von beynahe vierzehn Tagen. Schreiben muß ich Ihnen;

32
das ist eine
Pflicht
und
Vergnügen
für mich. Ich weis aber nicht, was ich

33
schreiben soll. Regeln wißen Sie beßer als ich; und Exempel darnach zu

34
machen, dazu haben Sie nicht Lust. Einfälle verstehen Sie nicht und Wahrheiten

S. 382
sind nicht nach Ihrem Geschmack. Mit Ihnen zu lachen, will ich auf Ihren

2
Hochzeittag versparen – es wird aber Zeit genung seyn an den zu denken, wenn

3
sie erst eine Braut haben.
Personalien
auf Sie zu machen, ist bey Ihrem

4
Eloge funebre
Lobrede auf den Trübsinn; vmtl. der vorige Brief des Bruders
Eloge funebre
Zeit genung, und daß muß der Schreiber der
Academie
thun,

5
dem ich nicht als ein
illiteratus
ins Amt fallen will. Ihr Nachruhm würde

6
ohne dem dadurch verlieren, weil ich nicht Witz genung
Romane
zu schreiben,

7
nicht einmal mehr zu lesen, und nicht Herz genung Geschichten zu erzählen,

8
weil es mir jetzt ohnedem an Neugierde und Gedult fehlt ihren nöthigen

9
detail
zu wißen. Was soll ich armer Jürgen also thun? Schreiben muß ich –

10
und ich weiß und fühl nicht was. Ich würde Ihnen einen langen Brief

11
mahlen und nichts mehr in demselben thun als mich
im Kopf und hinter den

12
Ohren kratzen;
und ich weiß nicht was eher in meinen Haaren als Antworten

13
auf Ihre schreckichte Briefe finden. Weil sich das aber so wenig im Umgange

14
als Briefwechsel, besonders unter so Herzensfreunde, als Sie, Mein Herr!

15
und ich sind, schickt und anständig ist: so würden Sie die Leere meiner

16
Empfindungen durch die Aufrichtigkeit meines Geständnißes vielleicht

17
entschuldigen. – Doch jetzt fällt es mir ein was ich thun will. Ein fauler
Laborator

18
ein stoltzer Bettler ist verloren. Doch Faulheit und Stoltz schaden nicht dem

19
Handwerk, wenn man nur klug ist und Witz hat, wie ein Kind der Welt. Es

20
meldete sich ein ehrlicher Mensch zum Todtengräber Dienst; weil er sahe, daß

21
er zum Graben so wenig als zum Prediger geboren war: so wurde er Küster,

22
und hatte
mehr
so viel Ehre hinter dem Pfarrer herzugehen, als ein

23
geschickter Uebersetzer hinter seinem
Original.
Dieser Mensch hatte sehr gute

24
Gedanken, so lange er den Kanzelmann nach seinem Ort begleitete; so bald aber

25
die Predigt angieng, erlaubten ihm seine Küstersorgen nicht aufs Wort zu

26
merken. Unterdeßen
hing
lag ihm sein mislungener Todtengräber Versuch

27
so sehr immer im Kopf, daß er auch sein Küsteramt darüber schlecht

28
verwaltete. Graben mag ich auch nicht; vielleicht läge in meinem Herzen eben die

29
Ader, die andere Aecker reich macht. Graben mag ich
wohl
, wenn es darauf

30
Pfund …
Lk 19,20
ankommt mein Pfund in einem Schweißtuch zu verbergen, um einen strengen

31
Richter wenigstens von meine
Treue
zu überführen, wenn es nicht durch

32
betteln
Lk 16,3
meinen wuchernden Fleiß geschehen kann. Zu
betteln
schäme ich mich, wie

33
ein alter Mensch in die Schule zu gehen, und ohngeachtet ich Dichter lese, so

34
sind die
Ältesten
und Besten nicht eben meine Sache, weil man in ihnen

35
wohl Sprüche, aber nicht die Gemälde und Schildereyen meiner Zeitgenoßen

36
findt. Z. E.

37
Hor.
ars.
88: „cur nescire pudens prave quam discere malo?“ / „Warum will ich, auf schlechte Art mich bescheidend, lieber unwissend sein als was lernen?“
Cur male pudens – –

S. 383
Anderen ihre Empfindungen nachzuahmen, ist gleichwol nichts als Betteley,

2
Galimathias
unverständliches, verworrenes Gerede, vgl.
HKB 156 ( I 393/21 )
und die Sprache der Liebe ist ein
Galimathias,
einer
monotoni
schen Sayte; wie

3
der Apostel Petrus dies selbst an der schweren Schreibart paulinischer Briefe

4
zu tadeln scheint und ihr Verfaßer selbst sich für ein
Allerley
– ausgiebt, das

5
Allerley
1 Kor 9,22
Allerley zu seyn drung ihn aber die Liebe. Weil ich also ein Schulknabe

6
(wenn Sie mein Herr kein Schulmann sind; so werden Sie doch aus

7
Erfahrung wißen, daß Sie ein
er
Schüler gewesen sind und wie einem solchen zu

8
Muthe ist) zu beqvem bin zu graben, und zu stoltz zu lernen: so weiß ich

9
Schuldner
Lk 16,3
mich nicht anders zu rathen, als daß ich mich an die
Schuldner meines

10
Herren
mache, und in sie dringe, die Zahlen ihrer Schuldbriefe

11
herunterzusetzen. Weil mein Herr dadurch nicht arm wird, sie aber am meisten dabey

12
gewinnen: so wird mich ihr
Gläubiger
für meinen Witz loben, und seine

13
Schuldner, wenn sie anders ihr Bestes kennen und lieben, mit der Zeit dafür

14
danken. Da Sie in einer Ruhe leben, mein Herr, die einem tiefen Schlaf näher

15
kommt, als einem Schlummer; ich hingegen in lauter Zerstreuungen: so bin

16
ich nicht im stande meine Gedanken
zu ordentlich
wie Sie zu sammlen.

17
Unterdeßen wird es keine vergebl. Uebung für Ihre Lunge seyn meine langen

18
Perioden
und
Pneumata
laut zu lesen, so laut, biß Sie im stande sind sich

19
selbst zu hören.

20
Es fiel mir also vor eine halbe Stunde ein aus Noth – aus äußerster Noth –

21
an Materialien, Sie mit einem Brief meines einzigen Bruders, den ich auf der

22
Welt habe, zu unterhalten. Da Sie aber bey dieser Abschrift durch meine

23
Schuld seine
Calligraphie
einbüßen: so werde dies durch die Anmerkungen

24
eines
Anonymi
ersetzen, der ihn, wie Gott, liebt; weil er ihn
züchtigt
.


25
Z. 25–31: Zitat des nicht überlieferten Briefs des Bruders
greg. 7.7.1759
Riga den
26
Jun:
/
7
Jul:
1759.

26
Herzlich geliebtester Bruder

27
Deine beyden Briefe sind mir richtig eingehändiget worden, die mir desto

28
angenehmer gewesen, da sie mich von unsers alten Vaters und Deiner eigenen

29
Gesundheit versicherten. Gott erhalte dieses unser bestes Geschenk, was wir

30
noch mit einigem Grunde von ihm bitten können, wenn wir es wohl

31
anzuwenden suchen.

32
So andächtig der Briefsteller auch redt; so leuchtet doch nichts mehr als

33
die Andacht eines Heyden aus seinem Gesichte. Ist er ein
Theolog,
so

34
studiert er wenig oder gar nichts in den
symboli
schen Büchern. Was will er

35
Gieb uns Gesundheit … selbst sorgen
Hor.
epist.
1,18,111f.: „sed satis est orare Iovem quae ponit et aufert: / det vitam, det opes; aequum mi animum ipse parabo“ / „Doch genug ist’s ja, von Jupiter zu erbitten, was er gibt und nimmt: Möge er mir das Leben, möge er die Nahrung gewähren – den ausgeglichenen Sinn will ich selber mir schaffen!“
damit sagen: die Gesundheit ist unser
bestes
Geschenk. Gieb uns

S. 384
Gesundheit; für die Tugend wollen wir schon selbst sorgen; war das Gebeth eines

2
stoi
schen Heuchlers oder
epicuri
schen Dichters. Was will er sagen:
mit

3
Grund
. Ist
χ
stus deswegen gestorben und in die Höhe gefahren und

4
weiß er die Gabe nicht, die er für die Abtrünnigen, die weder an ihren

5
böse Eltern Gaben …
Mt 7,11
,
Lk 11,13
Tauf- noch Blut-Bund mit Gott denken. Wenn böse Eltern Gaben zu

6
geben wißen ihren Kindern, sagt
χ
stus, wie viel mehr wird der Vater im

7
Himmel den
heiligen Geist
– da er nicht einmal seine Kehle braucht, um

8
Gott zuweilen ein Morgen und Abendliedchen zu singen, und nicht untern

9
Gesunden Leib gieb …
aus der 1. Str. von „O Gott, du frommer Gott“ von Johannes Heermann (1585–1647)
Bart zu beten, sondern zu trillern: Gesunden Leib gieb mir und daß in

10
solchem Leib ein unverletzte Seel und rein Gewißen bleibt. Wenn ihn nun

11
Gott einen ganzen gesunden Leib giebt, und nicht Kehle allein; wie sieht es

12
mit seinem Gewißen aus in Ansehung des Gebrauchs, den er von jedem

13
Gerechtigkeit
2 Kor 6,7
Gliedmaße deßelben macht. Sind es Waffen der Gerechtigkeit oder der

14
Ungerechtigkeit
Röm 6,13
Ungerechtigkeit. Wer da weiß, daß Gott Gesundheit giebt als ein Geschenk,

15
das wir gut anzuwenden suchen sollen; wird für diese Erkenntnis doppelte

16
Streiche
Lk 12,47
Streiche leiden müßen. Was macht er mit seiner Gesundheit? Wie brauchst

17
Du Deine Augen, Deine Ohren, Deine Zunge, Deine Hände, Deine

18
Schulstunden, Deine Nebenstunden?
Bereitest
Du Dich, und
wiederholst
Du

19
so fleißig, als Deine schlechtesten oder besten Schüler thun. Würdest Du

20
nicht von beyden beschämt werden, wenn sie gegen Dich auftreten solten.

21
Was hilft es Dich, daß beyde Briefe Deines Bruders Dir eingehändiget

22
worden, wenn du auf keinen zu antworten verstehst noch Lust hast. Wenn

23
Du sie umsonst liesest, meynst Du, daß sie umsonst geschrieben worden.

24
Anstatt zu fragen: Wie schreibt der Mensch? solltest du dich selbst fragen:

25
Wie liesest
Du, was er schreibt, und was im Gesetz geschrieben steht.

26
Wenn Du auf die Frage verstummst: wie Du Deine Gesundheit zu

27
an der Domschule in Riga
Deinem Beruf als Schulmann und
Candidat
der GottesGelahrtheit

28
brauchst? wie wirst du die andere beantworten: wie brauchst Du deine

29
Gesundheit zu ihrer Erhaltung. Du machst Dir aus Deiner Schande einen

30
Ruhm. Du willst beßer als andere Leute seyn und brauchst den Sommer

31
Freundlichkeit …
Ps 34,9
nicht, wozu er andern Menschen gegeben – die Freundlichkeit Gottes zu

32
sehen
und zu schmecken. Was Narren schreiben, darum bist Du neugieriger

33
als was Gott thut; ja, wenn Du auch nur jene zu verstehen und

34
anzuwenden wüstest. So bleibt aber alles tod und unfruchtbar in Dir. Anstatt Deine

35
Seele zu nähren, nährst Du Ihre Krankheiten. Bist Du nicht, Deinem

36
Beruf nach, zum Umgang und Gesellschaften, zum bürgerl. Leben, zum

37
Wohlstand verbunden. Fehlt es Dir nicht
daran
, daß Du Dich eher dazu

S. 385
drängen, als zu viel zurückziehen solltest. Wird Deine Gesundheit nicht bald

2
bey Deinen verstohl. Frohndiensten und bey dem Wurm, den Du dadurch

3
in Deinem Gemüthe nährst, verbraucht werden. Dein Wirth, Dein
Rector,

4
Dein Wohltäter, vertritt jetzt
Gottes Stelle
für dich und ist
Dein

5
Nächster
. Den sollst Du
nachahmen
, den sollst Du
lieben
. Was geht Dir

6
ein Mensch an, v sein Bild, der so weit von Dir ist, und mit dem Du nichts

7
zu theilen hast?

8
Z. 8–10: Zitat des nicht überlieferten Briefs des Bruders
Gott laße mich daßelbe niemals durch Unordnung, Ausschweifungen und

9
Misbrauch des Guten
von sich
stoßen, sondern bey mannigfaltigen

10
Gelegenheiten deßelben die Vernunft immer unsere Führerinn seyn.

11
Deine Vernunfft redt noch schlecht Deutsch mit dem lieben Gott. Sie

12
kann daher eine schlechte Führerinn abgeben.
Von sich
sollte heißen: von

13
mir. Menschen können wir Lügen,
Compliment
e und Wendungen vorsagen,

14
Ohr gemacht
Ps 94,9
aber dem nicht, der das Ohr gemacht, und auf die Stimme unsers Herzens

15
beßer horcht, als auf das höltzerne
Clavier
unserer Lippen. Die

16
Ubersetzung des Grundtextes würde so lauten: Gott sieht die Unordnungen,

17
Ausschweifungen v Misbrauch des Guten, die Blindheit meiner Vernunft und

18
die Thorheit derselben. Er wird aber seinen Namen nicht verleugnen; denn

19
gedultig
Ps 103,8
er ist langmüthig – gedultig – und von großer Güte und Treue. Er giebt

20
mehr als wir bitten, unaussprechlich mehr als wir Verstand haben zu

21
beten. Er wird mir seinen Geist geben, der mein finsteres Herze erleuchte,

22
denn wird meine
Vernunft
und mein
Gewißen
erleuchtet werden und

23
nicht mehr im Finstern bleiben; denn in keinem andern Lichte, als Seinem

24
Lichte und dem Licht seines Wortes und des Glaubens an einen Fürsprecher

25
sehen wir das Licht und die Farben unserer eigenen Gestalt und der Dinge,

26
die uns umgeben.

27
Z. 27–29: Zitat des nicht überlieferten Briefs des Bruders
Ich habe meine JohannisFerien auf der Stube zugebracht, und da fast die

28
ganze Stadt ihr Vergnügen im freyen sucht, das Meinige zwischen den 4

29
Wänden gehabt.

30
Dieser Ruhm ist nicht fein. Das ist Strafe der Sünde. Wenn andere mit

31
Verg.
ecl.
1,6: „ein Gott hat so uns Muße gewährt“
gutem oder bösen Gewißen sagen können:
Deus nobis haec otia fecit.
So

32
weist du, daß du selbige nicht verdienst, und thust daher Hausbuße und

33
legst dir selbst einen Stubenarrest auf. Diese Hausbuße und diese

34
willkührl.
Penitenz
ist aber eine neue Sünde; womit willst Du die büßen?

35
Z. 35f.: Zitat des nicht überlieferten Briefs des Bruders
Ich habe theils was die Meße neues geliefert, ein wenig durchgeblättert,

36
theils einen guten Theil meiner Uebersetzung zurück gelegt.

37
Wenn Du Meßen gelesen oder Pater
Noster
ein wenig durchgeplappert

S. 386
hättest – so hättest Du
mehr
nicht so viel als ein Catholick verdient. Wenn

2
man Buße thun will, mit seiner Uebersetzung zu tändeln schickt sich eben

3
so wenig als zu Fastnacht bey seiner Köchin zu schlafen.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 44.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 451–455.

ZH I 381–386, Nr. 154.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
381/27
haben den
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
habe

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): habe den
383/16
zu ordentlich
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
so ordentlich

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): so ordentlich