156
391/14
Königsberg den
9
Aug.
1759.

15
Geliebtester Freund,

16
Zuschrift
nicht überliefert; vgl.
HKB 152 ( I 365/28 )
Ich habe Ihre gütige Zuschrift vom 13
Junii
erst vor 14 Tagen ohngefehr

17
erhalten, da ich mich in Trutenau aufhielt. Wie selbige über einen Monath

18
alt geworden, weiß nicht. Weil ich aber lange darauf gewartet, ist sie mir

19
desto angenehmer geworden. Ich habe um Sie zu entschuldigen nichts mehr

20
nöthig als meinen leiblichen Bruder zu denken.

21
Sie haben mir geschrieben laut dem Anfange Ihres Briefes um mich aus

22
meiner Unruhe zu ziehen, die ich über einige zweydeutige
Briefe
Worte

23
vorigen Schreibens
HKB 136 ( I 293/16 )
Ihres vorigen Schreibens bezeigt. Wenn ich darüber unruhig gewesen, ist

24
es nicht eine kleine Grausamkeit, einen guten Freund so lange darinn zu

25
laßen?

26
Ich mache mich aus den Urtheilen über meine Briefe nichts, und sehe das

27
Misverständnis der Eltern
v. Witten
, vgl.
HKB 152 ( I 365/31 )
darüber entstandene Misverständnis der Eltern als eine wohlverdiente

28
Züchtigung an. Die sind zu alt um durch Vorstellungen gebeßert zu werden; und

29
ihre Kinder zu jung um meine Moral zu verstehen. Meine ganze Absicht war

30
meinen lieben Freund, und Nachfolger, ihren Hofmeister, ein wenig aus der

31
Schlafsucht aufzumuntern; und die Eltern haben ein ganz verdienstlich Werk

32
gethan sich Ihrer Ehre gegen meinen Unfug anzunehmen und mich dafür ein

33
wenig zu strafen.

34
Wort
„Canaille“,
HKB 152 ( I 365/32 )
So lieb es mir unterdeßen gewesen das
Wort
zu wißen, was man für ein

S. 392
gemeines Schimpfwort gelesen, dergl. ich nicht brauche, so lange ich witzige

2
Umschreibungen davon machen kann: so gleichgiltig bin ich darüber, daß

3
Sie es vergeßen. Ich wünschte unterdeßen, wenn Sie im stande gewesen

4
wären diesen Lesefehler zu
rectifici
ren – Daß Sie sich aber zu weit meiner

5
Unschuld angenommen; dafür bin ich Ihnen Dank schuldig, doch nur in so

6
weit, daß ich dabey die Erinnerung anhängen darf, Ihre Nächstenliebe nicht

7
weiter zu treiben, als Sie sich Selbst zu lieben
schuldig sind
.

8
Ueber Ihren Entschluß so lange in Grünhof auszuhalten, als es Gott

9
gefällt, bin sehr zufrieden. Wenn wir um Gottes willen leben und arbeiten, ist

10
beydes am gesegnetesten.

11
Ich habe meinen Nachbar von Luthers kleinen Schriften gesagt; er

12
zweifelte, daß sie noch da wären. Sind sie es gewesen, so erhalten Sie selbige mit

13
dem ersten Fuhrmann, der diese Woche abgegangen. Kommen sie nicht mit,

14
so fehlen sie; und mein Bruder würde Ihnen mit seinem
Exemplar
auf einige

15
Zeit lang dienen. Lilienthals Gesangbuch habe bestellt – Spruchkästchen

16
welches Werk von
Philipp Jakob Spener
, nicht ermittelt
vergeßen;
Spener mit Fleiß nicht mitschicken wollen, weil er neu zu viel kosten

17
wird. Herr
Rector
erhält einige Sachen von Forstmann, die ich Ihnen

18
empfehle. Dieser evangelische Prediger soll diesen May gestorben seyn.

19
Ich habe dem HE.
Rector
Lyrische, Elegische und epische Poesien beygelegt,

20
die Ihre Aufmerksamkeit verdienen, weil sie Meisterstücke an Gedichten und

21
neue Aussichten in die Theorie der Dichtkunst darinn finden werden. Da die

22
schönen Wißenschaften mit zu Ihrem jetzigen Beruf gehören; so glaube ich

23
nicht, daß Sie selbige ganz bey Seite setzen werden. Ihr
Genie,
ihre Kenntnis

24
darinn, und ein Rest der Neigung werden selbige Ihnen noch werther halten.

25
Die hinterlaßene Schriften der Margarethe Klopstock gehören gleichfalls

26
für Sie, Geliebtester Freund. Sie ist als eine Heldin im Kindbette oder vor

27
demselben an den Wehen und
Operations
Schmerzen gestorben. Sollte es

28
Klopstock,
Messias
, 2 Bde. waren bis dahin erschienen
unserm Heldendichter auch so gehen, daß Seine Muse an der Meßiade

29
unterläge? Dieses kleine Werk, das aus Fragmenten von Briefen zum Theil besteht,

30
ist aus mehr als einem Gesichtspunct merkwürdig.

31
Was machen Sie im Grünhöfschen Pastorath? Sind Sie schon

32
Gevatter, oder wartet man auf meine Zurückkunft. Ist das neue Haus schon

33
meublie
rt?

34
Ich lebe hier so ruhig und zufrieden, als möglich. Es fehlt mir hier an

35
Prüfungen nicht. Die Welt mag die beste seyn oder nicht – wenn nur Gott darinn

36
regiert, oder in unserm Herzen vielmehr; so werden seine Wege unsern Augen

37
allemal wohlgefallen. Dieses Wohlgefallen an den Wegen der mütterlichen

S. 393
Vorsehung sey auch Ihr Trost und Trotz! und Sein Heiliger Name Ihre

2
Sonne und Schild!

3
Sie haben mir nicht ein Wort an meinen Freund Baßa gedacht? Er hat

4
geschrieben
Brief nicht überliefert, vgl.
HKB 152 ( I 365/30 )
Einlage
nicht überliefert
mir selbst geschrieben; und ich empfehle Sie Einlage zu eigenhändiger

5
Bestellung.

6
Weil ich hier keine Amtsgeschäfte habe, fiel es mir ein das Griechische

7
vorzunehmen. Ich bin mit dem Neuen Testament einmal zum Ende gekommen,

8
und wiederhole es jetzt. Sind Sie auch schon so weit? Unstreitig weiter?

9
Wenn Gott hilft, kommt die Reyhe vielleicht an das hebräische.

10
Ich habe noch zu wenig Kenntnis von der griechischen Sprache; den Mangel

11
ihrer Grammatiken möchte bald aber beurtheilen können. Ihre Abweichungen

12
kommen von der Ungeschicklichkeit der angenommenen Regeln her. Je

13
weniger Regeln, desto weniger Ausnahmen. Eine Sprache, welche die gröste

14
Anomalien
hat, sollte die nicht die allgemeinste
Principia
zu ihrer Bildung

15
angenommen haben? Weil man nicht auf die letztere gekommen, hat man

16
mehr ihre
Analogie
mit andern Sprachen als ihre innere Natur zum

17
Fundament
der
Grammatic
gemacht.
Dialecten
und
Figuren
muß man kennen

18
um griechisch zu verstehen; hierinn besteht ihre Schönheit und Schwierigkeit.

19
vgl.
Hamann,
Kleeblatt
, N II S. 181f., ED S. 130–134
Dialecten
gründen sich auf eine philosophische oder experimentalische

20
Etymologie
In Grammatiken des 18. Jhds. wird darunter überwiegend noch das verstanden, was heute als Morphologie bezeichnet wird.
Kenntnis der Laute;
Figuren
auf eine logische
Syntax
Etymologie.

21
Galimathias
unverständliches, verworrenes Gerede, vgl.
HKB 154 ( I 383/2 )
Wenn Sie diese kurze Beobachtung nicht für ein
Galimathias
halten wollen,

22
so denken Sie in Ihren griechischen Stunden daran, die Ihnen behülflich

23
seyn werden das zu erklären, was ich sagen will. In der Sprache jedes Volkes

24
finden wir die
Geschichte
deßelben. Da das Geschenk zu reden unter die

25
unterscheidende Vorzüge des Menschen gehört; so wundert mich, daß man noch

26
Geschichte
vgl.
Hamann,
Aesthaetica
, N II S. 200, ED S. 171 und
Versuch über eine akademische Frage
, N II S. 122, ED S. 8
nicht die Geschichte unsers Geschlechts und unserer Seele von dieser Seite

27
näher zu untersuchen einen Versuch gemacht.

28
Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte – wie die

29
vgl.
Hamann,
Aesthaetica
, N II S. 198, ED S. 166
Schnur
Ps 19,4
vgl.
Hamann,
Biblische Betrachtungen eines Christen
, LS S. 145 (einleitend zum Ruth-Kommentar) mit Bezug auf die Schöpfungsgeschichte.
Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels biß

30
zum andern sich erstreckt. Der Geist Gottes allein hat so tiefsinnig und

31
begreiflich uns das Wunder der sechs Tage erzählen können. Zwischen einer

32
Idée
unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht

33
wird ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde.

34
unbegreiflich Land
Lies: Band. Vmtl. Lesefehler in ZH, s. unten: Textkritische Anmerkungen. Vgl.
Young,
The complaint
, Bd. 3 (Night VI), S. 151: „Mark well, as foreign as theses subjects seem, / what close connection ties them to my theme“.
Was für ein
unbegreiflich Land
verknüpft gleichwol diese so von einander

35
entfernte Dinge? Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie

36
nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung

37
willkürlicher Zeichen
vgl.
Hamann,
Aesthaetica
, N II S. 203/3, ED S. 179
willkürlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und

S. 394
Demuth – daß er die Tiefen seiner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit

2
vgl.
Hamann,
Kleeblatt
, N II S. 171, ED S. 104
in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen

3
der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt. So wie also

4
ein Mensch den Thron des Himmels und die Herrschaft deßelben einnimmt:

5
vgl.
Hamann,
Kleeblatt
, N II S. 171, ED S. 105f.
so ist die Menschensprache die Hofsprache – im gelobten – im Vaterlande des

6
Christen. Heil Uns! Freylich schuf er uns nach Seinem Bilde – weil wir dies

7
verloren, nahm er unser eigen
Bild
an – Fleisch und Blut, wie die Kinder haben,

8
lernte
weinen
– lallen – reden – lesen –
dichten
wie ein wahrer

9
Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern.

10
Auch die Heyden hatten ein Wörtchen von diesen Geheimnißen, in ihre

11
Mythologie
einzuflechten, vernommen. Jupiter verwandelte sich um die

12
Gunstbezeigungen seiner rechtmäßigen Gemalinn zu genüßen, in einen

13
elenden,
mit
von Regen träufenden, zitternden und halbtodten Guckuck – Der

14
Jude, der Christ verwirft daher seinen König, weil er wie eine Henne um

15
seine Keuchlein girrt, und in sanftmüthiger, elender Gestalt um die Rechte

16
seiner Liebe wirbt. Der Heyde, der Philosoph erkennt die Allmacht, die Hoheit,

17
die Heiligkeit, die Güte Gottes; aber von der
Demuth
seiner
Menschenliebe

18
Jupiters’ Verwandlungen:
Stier
Entführung der Europa (
Ov.
met.
2, 833–875);
Adler
Raub des Ganymed (
Ov.
met.
10, 155ff.);
Schwan
Verführung der Leda (
Ov.
met.
6, 103–114);
güldener Regen
um Danaë zu erreichen, die Tochter Akrisios’, König von Argos, der sie in einem Verlies versteckt hielt (
Ov.
met.
4, 611ff.). Vgl.
Gründliches mythologisches Lexikon von Benjamin Hederich
, s.v. IVPPĬTER, Sp. 1401
weiß er nichts. Als ein schöner Stier, als ein Adler, Schwan und güldener

19
Regen theilte sich Jupiter seinen Bulerinnen mit.

20
Wenn ich in meiner Einbildungskraft ausgeschweift; so ist die Aussicht

21
meines verwilderten Gärtchens schuld daran, in dem ich schreibe. Daß er auch

22
der Heyden Gott ist; dafür haben wir Gelegenheit ihm auch zu danken, wenn

23
mit Thoma
Joh 20,28f.
wir mit Thoma ihn ganz allein uns zu eigen machen, und ihm nachsagen:

24
Mein
Herr und
Mein
Gott.

25
Ueberlaßen Sie sich der Führung des Guten Hirten, der Sein Leben läßt

26
für Seine Schaafe, und aus deßen Hand uns kein Feind rauben kann.

27
Meinen Gruß vermelden Sie an Ihre jungen Herren – Ich bin mit aufrichtiger

28
Hochachtung Ihr ergebener Freund.

29
Hamann.


30
Becker
nicht ermittelt
Herr Lauson und der kleinen Profeßorin Sohn HE
Becker,
der in

31
Pohlnischen Diensten
Auditeur
geworden, und sich seiner
hypochondri
schen

32
Gesundheitumstände hier aufhält, haben mich besucht und gebeten Sie zu grüßen.

33
Mein lieber Vater befindet sich Gott Lob! leidlich und wünscht Ihnen alles

34
Gute für Ihre freundschaftl. Erinnerung Seiner.

35
Im Nordischen
Zuschauer
Aufseher habe einige schöne Stücke von

36
Klopstock gelesen. Critische Abhandlungen, desgl. wir wenige haben über den

37
poetischen Ausdruck und Period. Eine Ode über die Allgegenwart.


S. 395
Klopstock,
Dem Allgegenwärtigen
, S. 389: „Als du mit dem Tode gerungen,“ (im ganzen Gedicht wählt Hamann, anders als im Original, für die Du-Anrede Großschreibung)
Als Der
mit dem Tode gerungen

2
Mit dem Tode!

3
„Heftiger gebetet hattest!“
Heftiger gebetet hast!

4
Als Dein Schweiß und Dein Blut

5
Auf die Erde geronnen war;

6
In
der
ernsten Stunde

7
Thatest Du jene große Wahrheit kund

8
Die Wahrheit seyn wird

9
So lange
die Hütte
der ewigen Seele

10
Staub ist!

11
Du standest und sprachst

12
Zu den Schlafenden:

13
Willig ist eure Seele

14
Allein das Fleisch ist schwach.

15
Golgatha sein Musenberg; und der am Creutz der Schlüßel aller göttl.

16
Flügeln der Morgenröthe
Ps 139,9
Eigenschaften, besonders der Allgegenwart. Mit
Flügeln der Morgenröthe

17
wagt er sich in dies Meer; und fällt in eben den Ton, aus dem er seinen

18
Gesang angefangen:

19
Der für mich mit dem Tode rang

20
„Den Gott für mich verließ!“
Den Gott für mich verließ

21
Der nicht erlag,

22
Als ihn der Ewige verließ

23
Der ist
in mir
!

24
Gedanke meines tiefsten Erstaunens

25
Ich
bete
vor dir!

26
Da die Winde gewaltiger wehten

27
Die höhere Wog’ auf ihn ströhmte

28
Sank Kephas!

29
Ich sinke!

30
„Hilf mir, mein HErr! und mein Gott!“
Hilf mir, mein Herr und mein Gott!

31
Ich habe diese Blume abgebrochen – mit heiligem Schauer, wie der

32
Dichter sagt:

33
Mit heiligem Schauer

34
Brech ich die Blum’ ab!

35
Gott machte sie!

36
Gott ist, wo die Blume ist. Er nahm es der Maria nicht übel daß sie Ihn

37
für den Gärtner ansahe – Leben Sie wohl.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 4 (9).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 445–451.

ZH I 391–395, Nr. 156.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
393/34
unbegreiflich Land
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
unbegreiflich Band

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Band
395/1
Als Der
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
Als Du

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Als Du
395/9
die Hütte
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
Hülle

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): die Hülle
395/25
bete
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
bebe

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): bebe