150
357/31
greg. 16.7.1759
Königsberg den
16
/
5
Julius 1759.
32
Herzlich geliebtester Bruder,
33
Ich bin
vorgestern
unter Göttl. Hülfe mit einer Arbeit zu Ende gekommen,
34
die ich hier aus Muße angefangen, und mit vielem Eyfer fortgesetzt; nämlich
S. 358
das Neue Testament im Griechischen durchzugehen, wozu ich mich durch eine
2
flüchtige Wiederholung der Grammatick zubereitet. Zu diesem Gebrauch fand
3
ein durchschoßen
Leusdeniari
sch Testament und habe
Daries
Wörterbuch, das
4
Prof. Kypke
herausgegeben, mit Nutzen gebraucht. Wenn ich ersteres nicht
5
mehr brauchen werde, will es Dir überschicken; es ist jetzt wenigstens zum
6
analy
tischen Verstande beschrieben genung. Man hat im Buchladen ein
Exemplar
7
Rector
Johann Gotthelf Lindner
des Wörterbuchs dem HE.
Rector
zugedacht, um wo er es zum Schulbuch
8
geschickt findet, es dort einzuführen. Es ist Schade, daß es nicht mit mehr
9
Ordnung und Aufsicht geschrieben; so würde es um die Hälfte kleiner, und
10
noch einmal so viel nutzbarer seyn.
11
Mit dem Ende dieser Arbeit bin so zufrieden gewesen, daß ich gestern mir
12
einen ganzen Feyertag gemacht, und Nachmittag eine kleine Kindergesellschafft
13
in unserm Garten zusammengebeten und bewirthet. Die beyden Töchter
14
des HE.
Diac.
Buchholtz und den kleinen Fritz der Frau Hartungin. Herr
15
Woltersdorf ist gestern frühe nach Hause gekommen.
16
Du wirst nicht übel nehmen, mein lieber Bruder, daß ich Dir neulich eine
17
Einlage
nicht überliefert
Rector
Johann Gotthelf Lindner
so kurze Einlage und übel geschrieben durch den HE.
Rector
habe einhändigen
18
laßen. Nimm meine brüderl. Erinnerungen mit Sanftmuth auf; Du hast
19
Gesprächs
nicht überliefert
mir den Anfang Deines Gesprächs deswegen mitgeschickt, daß ich darüber
20
urtheilen soll. An den Sprachfehlern ist mir nichts gelegen, sondern ich habe
21
mein Augenmerk auf die Gemüthsverfaßung gerichtet, die aus dem Schwung
22
oder der
Bildung
und der
Tracht
Deiner
Gedanken
sich verräth. Wenn Du
23
auf die Empfindungen und Bewegungen Deines Gemüths Achtung gegeben,
24
womit Du meinen Brief gelesen; so wirst Du vielleicht erkennen, daß ich mich
25
in meinen Vermuthungen nicht geirrt. Nimm an den Urtheilen anderer über
26
mich keinen Antheil; als ein Bruder entschuldige mich wenigstens in Deinem
27
Herzen, und kehre alles zum Besten. Laß Dich kein Ansehen und keine
28
Vernunft und kein
Name der Freundschaft
verführen noch mit hinreißen.
29
Warte nicht auf mehrere Erfahrungen, und denke durch
künftige
klug zu
30
werden, wenn Dich da vergangene und gegenwärtige nicht klüger gemacht
31
haben; so werden alle künftige gleich verloren seyn. Dem
unwißenden
oder
32
Ungläubigen
kommt alles
übertrieben
vor, was aus der größten Einfalt
33
flüßet und mit derselben bestehen kann; der Weise, der Gott
fürchtet
und
34
Gott
zu gefallen sucht, erreicht auch das:
nil admirari,
das der Welt- und
35
Schulmann
affect
irt.
36
Haben sich die ersten Christen so wohl als die Säuglinge der
Reformation
37
das Ende der Dinge als nahe vorgestellt; wie viel mehr Recht als jene haben
S. 359
wir daran zu denken, und uns nicht an das Gelächter unserer ruhigen Freunde,
2
die auch Jünger sind zu kehren. Ist es nicht ein alter Einfall, den Du oft von
3
Incredibile …
nach Seneca
Natur. Quaest. in Praefatione
, lib. IV, vgl.
Chimärische Einfälle
, N II, S. 161/21
mir gehörst:
Incredibile sed verum.
Lügen und Romanen müßen
4
wahrscheinlich seyn,
Hypothesen
und Fabeln aber nicht die Wahrheiten und
5
Grundlehren unseres Glaubens. Was für ein schaaler Glaube, der aus der
6
Mir geschehe …
Lk 1,38
Begreiflichkeit und Sinnlichkeit der Predigt entsteht. Mir geschehe wie Du
7
gesagt hast – – wie wiedernatürlich den Begriffen eines Mädchens, das von
8
Hills
Hill,
Lucina sine concubitu
; vgl.
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 35/12, N II S. 75/11, ED S. 52
den Winderzeugungen eines
Hills
nichts wuste – wie nachtheilig ihrer Tugend
9
und ihrem guten Namen, und doch glaubte sie nicht nur, sondern wünschte
10
Engel reden
Lk 1,34ff.
auch die Erfüllung des
Unsinns
und
Spottes
, den
Engel reden
, die vor
11
Gott stehen. Ihre philosophische Neugierde: wie mag das zugehen, war biß
12
zum Stillschweigen durch den
alltäglichen Grundsatz
aufgelöset: Bey Gott
13
ist kein Ding unmöglich. Was ist an meiner Ehre gelegen; die Ehre der
14
Menschen ist ein Spiel ihrer Einfälle und Bosheit. Der Schimpf, den meine
15
Brüder nach dem Fleisch, meine Glaubensgenoßen, die Juden, und die
16
Evangelisten ihrer Synagoge, die eine Schule des Satans ist, nachreden wird
17
durch die abgöttische Ehre einer Stadt, die ich nur aus dem Scepter kenne,
18
den sie mein Land fühlen läßt, Roms, deßen Unterthanen ich und mein Volk
19
sind, zu einem Gleichgewicht der
Ehre
Eitelkeit und des Nichts gebracht.
20
Die
Saage
der Hirten zu Bethlehem, und die
Reisebeschreibung
der Weisen
21
zu Morgenland: hier liegt das Zeugnis von der
Herrlichkeit
meiner
22
Niederkunft
. – – In solchen Erscheinungen des Glaubens, thun sich die Gräber der
23
Prosopopaeen
Personifikationen
Heiligen und der Propheten für Christen auf, und in solchen
Prosopopae
en
24
reden die Züge ihrer Gemälde in der Heil. Schrift zu uns. So werden die
25
Brocken derselben in Körbe verwandelt, und die
Monosyllab
en der Sprache
26
des heiligen Geistes so Sach- und Sinn-reich, daß wir mit Johannes die
27
Unmöglichkeit fühlen das zu erzählen was wir gewiß wißen, weil die Welt die
28
Bücher nicht begreifen würde, die zu beschreiben wären.
29
Warum sollten wir nicht an das Ende der Dinge mit eben so viel Trost
30
denken können, als an unser eigenes? Ist die Zeit der Entbindung nicht aus
31
den
zunehmenden Wesen
der Schöpfung zu vermuthen; und fühlt sie der
32
Loth …
1 Mo 19,14ff.
Christ nicht stärker als irgend ein Volk oder Geschlecht? Loth
gieng aus
, und
33
redete mit seinen nächsten Blutsfreunden: Rettet eure Seelen – aber es war
34
ihnen lächerlich
. Und was die Weiber den
eilf
verkündigten, dauchte ihnen
35
als
Mährlein
und glaubeten ihnen nicht.
Luc.
24, 11.
36
Laß Dich, mein lieber Bruder, aufmuntern aus eben der Qvelle zu schöpfen,
37
aus welcher ich Trost, Ruhe und Zufriedenheit trinke. So eigen Dir und andern
S. 360
meine Verfaßung vorkommen mag; so giebt mir Gott Kräfte in Verhältnis
2
der Versuchungen, denen ich ausgesetzt bin, und ich will mir an seiner Gnade
3
Kraft …
2 Kor 12,9
genügen laßen, die nicht aufhören wird seine Kraft in meiner Schwachheit
4
zu offenbaren.
5
Hor.
sat.
2,1,30–34: „ille velut fidis arcana sodalibus olim / credebat libris neque, si male cesserat, usquam / decurrens alio neque, si bene; quo fit ut omnis / votiva pateat veluti descripta tabella / vita senis.“ In diesem Sinne, einem Protokoll der Selbstprüfung, wird auch in
Hervey,
Meditations and contemplations
(3. Tl., S. 165) auf diese Horaz-Verse Bezug genommen.
Du wirst also meine Briefe ansehen, wie Horatz in einer Stelle die Tafeln
6
des Lucilius beschreibt – Ich habe nach selbiger gesucht, aber nicht finden
7
können; ich wünschte wenn Du einigen Gebrauch von den Empfindungen,
8
dromedarisch
wohl im Sinne von: schnell laufend (so die Namensherleitung für das Tier in zeitgenössischen Lexika); vgl.
Hamann,
Freundschaftlicher Gesang
(V. 10f.): „Gar zu leichtgläubig getäuschet, in dromedarischer Sehnsucht / Erscheint mir Deine Gestalt!“
die meine Feder so
dromedar
isch machen, auf Deine gegenwärtige Umstände
9
anwenden
ziehen könntest.
10
Hor.
sat.
1,4,11: „da er schlammig daherfloß, war manches, das streichen man möchte“
Quum flueret lutulentus, erat quod tollere velles.
11
Schäme Dich weniger Deiner Fehler; so wirst Du Dein Gutes mehr
12
mittheilen können. Es ist mein eigen Ich, das ich Dir verrathe. Dein Umgang ist
13
daher so zurückhaltend und kalt; und Deine Briefe haben ein gleiches von
14
diesem Zwang, den der Witz nicht übertünchen kann. Daher schreibst Du nicht
15
gern, weist nicht was Du schreiben sollst, und willst wenigstens gleich thun,
16
wenn Du nicht übertreffen kannst. Denke an Deine Kindheit, und an Deine
17
Buchstaben – und laß Dich gerne von andern, wenn es auch Deine eigenen
18
Schulbrüder wären, ausschelten und auslachen, gieb aber Dein
19
Krummschreiben nicht gar aus Verzweifelung auf: so wirst Du zeitig genung mit
20
Gottes Hülfe
deutlich
und
schön
schreiben lernen.
21
Wenn wir an das Ende dächten, sagte Buchholtz bey dem besondern
22
Jagemanns
nicht ermittelt
Todesfall
eines
des
Jagemann
s hier, wie klug würden wir Menschen in allen
23
unsern Angelegenheiten handeln.
24
Hor.
ars.
148ff.: „Immer eilt er zum Ziel und mitten hinein ins Geschehen, als sei es bekannt, entführt er den Hörer, läßt aus, woran er zweifelt, es könne, bearbeitet, glänzen …“
Semper ad euentum festinat, et in medias res
25
Non secus a
d
c notas, auditorem rapit: et quae
26
Desperat tractata nitescere posse, relinquit.
27
Hor.
carm.
III 30,1: „Exegi monumentum aere perennius“, „Errichtet habe ich ein Monument, das Erz überdauert“
So schreibt der Dichter, der für die Ewigkeit schreibt; so lebt der Mensch,
28
der für die Ewigkeit lebt. Er weiß Schönheiten, Vortheile aufzuopfern –
29
Homer …
Hor.
ars.
359: „quandoque bonus dormitat Homerus“ / „[andererseits bin ich entrüstet], wenn einmal der gute Homer eingenickt ist“
durch seine Nachläßigkeiten, Fehler, Schwachheiten gewinnt er – wie Homer
30
Zorn des Achills
Hor.
ars.
119–122: „aut famam sequere aut sibi convenientia finge / scriptor. honoratum si forte reponis Achillem, /inpiger, iracundus, inexorabilis, acer / iura neget sibi nata, nihil non adroget armis.“ / „Entweder folge der Sage oder erdichte, was in sich übereinstimmt, Schriftsteller. Wenn du etwa neu den hohen Achilleus darstellst, so bestehe er rastlos, jähzornig, unerbittlich, heftig darauf, es gebe für ihn keine Rechte und er beanspruche alles für seine Waffen.“
durch den Schlummer seiner Muse. Der Zorn des Achills, der sich auf seinem
31
Ruhebette
wältzt, dem
Heerführer
seinen Gehorsam entzieht und die Liebe
32
zu seinem Volk und der Ehre deßelben verleugnet – Dies ist sein Mittelpunct,
33
in den er seinen Leser versetzt, als wenn er die Geschichte der Belagerung von
34
Troja, der Sclavin pp schon alle erzählt
hätte
, und der Zuhörer schon den
35
mannigfaltigen Innhalt künftiger Gesänge überstanden hätte. Solch ein
36
lehrreich Geschwätz, solch einem Göttlichen Mährchen wird unser Leben ähnlich,
37
wenn eine höhere Muse den Faden deßelben von der Spindel der ersten
S. 361
Schicksalsgöttin biß zur Scheere der letzten regiert – – und in das Gewebe
2
ihrer Entwürfe einträgt – –
3
Wirth
Johann Gotthelf Lindner
Meinen herzl. Gruß an Deinen lieben Wirth und Wirthin. Es ist mir gestern
4
Gedicht
nicht ermittelt
ein Gedicht zugeschickt worden aus dem Buchladen, das ein fremder Herr
5
Rector
Johann Gotthelf Lindner
aus Riga mitgebracht. Ich habe es gelesen, und danke den Herrn
Rector
für
6
jedes Merkmal seines geneigten und freundschaftlichen Andenkens.
7
Sergeanten
Adam Heinrich Berens
Auf Erhaltung des Gedichts lief gestern frühe gleich nach des
Sergeant
en
8
Qvartier; sie wusten aber noch nichts von ihm. Er muß also von seiner
9
Begleitung
Stoffel
General-Quartiermeister der russ. Armee
Begleitung der Fr.
General
von
Stoffel
noch nicht zu Hause gekommen seyn.
10
Montags ist der erste Jahrmarkts Tag; vielleicht werde ich denselben zu
11
Staats Besuchen brauchen.
12
Der älteste Herr Hennings geht durch Riga nach Peterb. wie ich gehört schon
13
abgereiset. Du wirst ihn nicht unterlaßen in Begleitung des Herrn
Rectors
14
ein
Compliment
zu machen, wie ich hoffe und Dich darum ersuche, alles das
15
in Acht zu nehmen, was ich nicht gewohnt bin noch mich gewöhnen können
16
zu thun.
17
Unser alter Vater hat selbst an Dich geschrieben. Gott Lob! für alle das
18
Gute was er ihm erweiset und noch ferner erweisen wolle! Herr Wagner
19
bittet um geschwinde Antwort. Ich umarme Dich und empfehle Dich
20
Göttlicher Obhut und der Regierung und Gemeinschaft Seines Guten Geistes,
21
der ich ersterbe
22
Dein treuer Bruder.
23
Dommisch
nicht ermittelt
HE.
Dommisch,
ein alter Schulbeamter sucht
Condition
in Riga oder
24
Liefland; er scheint ein gesetzter Mensch geworden zu seyn. Jgfr. Degnerinn
25
läßt Dich grüßen; HE. Trescho nicht mehr.
Veränderte Einsortierung
Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert (dort: „Königsberg den 16/5 Julius 1759“), sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 151 und 152.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (58).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 423–429.
ZH I 357–361, Nr. 150.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
359/3 |
mir gehörst: ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies gehört Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): mir gehört |
359/23 |
Prosopopae en ]
|
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Prosopopoeen |
359/31 |
zunehmenden Wesen ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies Wehen Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): zunehmenden Wehen |