346
399/18
An HErn Hamann

19
Was werden Sie sagen, daß ich endlich wiederkomme, wie Epimenides auf

20
Kreta, oder wie der verlohrne Sohn im Evangelio: denn in der That mein

21
langes Stillschweigen ist eine Produktion von Jugend u. greisem Alter, von

22
Schicksal und Zufall,
halb
eine Sünde der Schwachheit, halb der Bosheit.

23
Hören Sie meine Geschichte: so werden Sie mich erklären
können
, wenn Sie

24
nicht entschuldigen
wollen
.

25
Ihr erster unbeantworteter Brief kam mir in der Zeit meiner so genannten

26
Augenkur in die Hände, und da war mein Auge gebunden, um nicht schreiben

27
zu können. Meine 2. Urlaubsmonate, die ich
dazu
mir erbeten hatte, um

28
die Augenkur abzuwarten, wurden drauf durch eine unvermuthete Vokation

29
nach Petersburg abgekürzt, in die Stelle, die jetzt Willamov., wie ich höre,

30
übernommen hat. Der Rath, um mich hier zu behalten, erklärte mich zum

31
Past.adj. der beiden Vorstädt. Kirchen, mit
Erlaßung
des Vikariats in der

32
Schule; wo ich
aber
die ordentl. Stunden abwarte, sonst aber ganz

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abgetrennt bin. Natürlich verflocht mich die Veränderung des Standes in

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Unbequemlichkeiten, ich will nicht sagen, Geschäfte, und mein Kopf war also von

S. 400
andern Dingen voll. Bald fanden sich aber auch würkliche Ungemächlichkeiten:

2
das Minist. war in der Eil
nicht
z
um
Rath gefragt: der
Oberpast.
mit allen

3
seinen
Creaturen
,
von Candidaten übergangen
: Stadtkinder übergangen: auf allen Seiten

4
schrie man über was außerordentliches: dieser, daß die Stellen nicht

5
compatibel wären: jener, daß man mich doch nicht lange haben würde: dieser, daß

6
ich für einen Prediger zu gelehrt wäre u. s. w. Endlich wagte noch der Ob.past.

7
das letzte, mich zum Adj. des ganzen Minist. machen zu wollen: auch dies

8
mißlang ihm, ich ward dem Consistorio vorgestellt. Nun sollte ich examinirt

9
werden: man verschob es aber von einer Woche zur andern: Fest über Fest

10
kam dazwischen, u. so verlief ¼ Jahr bis endlich ein
Lumpen
mageres Ding,

11
was 3 Stunden währte, Ex. hieß, und ich endl. ordin. u. introduc. wurde.

12
Die große Verschiedenheit zwischen Schul- und Predigtamt: die neuen

13
Geschäfte: und noch mehr die vielen dabei
vorgefallnen
Comitantien haben mich

14
also etwas aus meinem Cirkel gerückt, in den ich mich schwer zurückfinden

15
werde. Meine Autorschaft ist unterbrochen: Lecture unterbrochen; und darf

16
ich sagen, auch meine Bestrebsamkeit: die Correspondence eines halben Jahres

17
ist zu beantworten: die Sachen der
Meße
habe ich noch wenig genutzt: das

18
Land beinahe gar nicht gesehen: den Sommer auf meiner Stube, und die

19
Hundstagsferien zu Bette
zugebracht
,
.
Ich liebe die Einsamkeit, oder den

20
Umgang eines Hauses: bin in allen Gesellschaften fremde geworden: kann weder

21
lesen,
noch schreiben: denken u. sprechen, bloß wenn ich muß. Sonntag acht

22
Tage habe ich eine feierliche Kirchensühne zu verrichten gehabt, wo ich für

23
4 Sonntage geredet, und die 3. vorhergehenden Tage für 14. Tage gearbeitet

24
habe: überdem ist der eine Past. der Vorstädt. Kirche auch eine Zeitlang krank

25
gewesen: ich selbst zerstreut, unheiter, und halbgesund. Der Schlaf hat mich

26
über ein Viertheiljahr sehr
verlaßen
: mein Kopf schmerzt oft: ich habe eine

27
Zeitlang alle Vorboten vom hitzigen Fieber gehabt: und ich weiß keine
beßere

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Zeit, als wenn ich mit ein paar Freundinnen spreche, oder mein Pfeifchen

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rauche. – – Nun sehen Sie, warum ich Ihnen nicht geantwortet, und ein paar

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der letzten Briefe wirklich mit Verdruß gelesen, was einige ungeduldige und

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pochende Stücke anbetrift; übrigens aber glauben Sie, lieber H., daß Sie

32
einer von denen in meinem Leben sind, in deren Umgang ich mich oft

33
zurückwünsche: ich denke an Sie mit
Ah
Achtung,
und freundschaftlicher Sehnsucht.

34
Meinen 4. Th. der Fragmente werde ich Ostern liefern: ich hatte ein anderes

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Stück unter der Feder, davon ich nicht den Titel sagen mag: 6. Bogen
liegen

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fertig: das übrige fehlt:
manet aeternumque manebit forsan.
Mit Ihrem

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Urteil
geschrieben
kommen Sie so bald Sie wollen:
gedruckt
– meinetwegen,

S. 401
wenn der 4. Theil da ist. Ich arbeite das ganze Werk um zur 2ten Auflage,

2
die ganz auf Schreibpapier gedruckt werden soll, und bald nöthig ist, wie ich

3
höre. Wollen Sie mit einem, wie Sie schreiben,
lesbaren
Briefe über die

4
3. ersten Theile mich unterstüzzen: so kommen Sie sehr zu rechter Zeit: ich

5
brauche Aufmunterung, wenn ich sie je gebraucht. Die Rec. in ihren Zeit.
ist

6
vom 3t. Th. ist elend: alle Welt sagt, daß der Styl im 3t. Th. nur gar zu

7
feurig sey, statt zu ältern; freilich Bildervoll ist er nicht, daß sollte er auch

8
nicht seyn, und bei der 2ten Aufl. fallt das meiste bildervolle weg, weil
jetzt

9
die fremde Blumendecke
not
blos war, um ein Liefländisches Phönomenon

10
mit mehr Sonderbarkeit in die Litteraturcirkel zu Berlin einzuführen. Gegen

11
alles Lob bin ich taub: und die Apotheose der Häll. Zeit. rührt mich nicht:

12
die einzige Recens. der Bibl. d. sch. W. ist mir schäzzbar; gründlich und ich

13
werde
Sie
sehr brauchen: von Moses erwarte ich eine in der Deutsch. Bibl.

14
Die Hamb. haben blos einen feinen Auszug gegeben: die Göttinger ein

15
hämisches Lob, und Klotz in den
actis
ein
elogium
nach seiner Art, ohne

16
großes Urteil. Wenn Sie mir das Ihrige zukommen ließen, und dasselbe

17
weder aus dem Magen, noch aus der Milz,
Galle,
oder Herzgrube käme:

18
so wären Sie mir in vielen Stücken ein
Iudex competens,
nur, wie

19
gesagt, kein Schattenspiel von Einfällen, sondern lieber ein kleines Häufchen

20
Samenkörner.

21
Ihre Umkehr zur Zollnerbude wundert mich: ich lobe Sie aber, und wünsche

22
Ihnen Glück: auch ich ändere mein Quartier, über wenige Wochen: verlege

23
den Tisch bei Hartknoch u. s. w. Wir eklipsiren beide nur
laßen
Sie uns nicht

24
unsre Laufbahnen gerade durchschneiden. Ob Sie gleich einigen Antheil an

25
Lindners Lehrbuch zu haben scheinen: so mag ich doch meine Meinung nicht

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schreiben: mir komts vor, wie ein Papier voll chorographischer Linien, oder

27
voll
Hogarthscher
verzogner Gesichter, da ich einen
Abriß
erwartete, ohne

28
Schlängelung und Welle, ohne Farbe und Reichthum, mit
Lin

29
Topographischen Linien, die richtig, vest, deutlich seyn sollen. Nichts mehr! – Für Ihren

30
Charakter Rousseaus in den Zeitungen danke ich Ihnen verbindlichst: wenn

31
Warton
über Pope. Gen. u. Schr. der Uebers. würdig gewesen: so dies eher.

32
Wollen Sie etwas recht schönes lesen: so nehmen Sie den
Landpriester
von

33
Wakefield
: ein Märchen, voll Weltkenntniß, Critik, Kunst,
und
so seltnem

34
stillem Humor, daß ich jetzt bei dem 3ten mal noch immer Züge finde, die mir

35
entwischt waren. Dies Buch ist kaum aus unsrer Zeit, und die meisten Leser

36
werfen es daher auch weg, oder finden nichts in ihm. – Die
Menechmen

37
haben Sie vermuthlich gelesen: ich weiß wenig aus Ihnen zu machen,

S. 402
obgleich der Nachahmer Ihrer Prose v. Gerstenb. davon der Verf. seyn soll:

2
von dem Sie auch
d
as
ie
vortreflichen Gedichte des Skalden werden gelesen

3
haben. Vom heil. Chrysostom habe ich einige Stücke gelesen, und denke

4
einmal was über ihn zu schreiben. Jetzt liegt des-Voeux über den Pr. Salomo

5
vor mir, den ich mit Vergnügen zu durchwandern gedenke: und alsdann will

6
ich an
Semlers
anti-prodigieuse Kirchengeschichte der sechs ersten Jahrh. –

7
Hirzels Denkmaal auf Blaarer ist ein Steinhaufen, den ich halb

8
durchgeklettert, da bin ich ermüdet, u. fand, daß er Blaarer darunter habe begraben

9
wollen.
Klotzens
Münzgeschichte
Beitrag, die Kunst der Münzen zu

10
erklären verhält sich zu Winkelmanns Werk wie ein kahler Pfennig zum

11
prächtigen Denkstück:
Wesseling Herodot
habe bei mir, aber noch gar nicht genützt:

12
so auch
Schilter antiquit. vet. German.,
die HE. Hartkn. aus Freundschaft

13
mir zugebracht. Jacobi Romanzen aus dem Spanischen sind nicht der Rede

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werth: und was ich von Clodius hochberühmtem Werk: Versuche über die

15
Litteratur u. Moral hoffen soll, weiß ich noch nicht. Leßings Hamb.

16
Dramaturgie wird kein
großes
, aber sehr nützliches Werk werden: ich kenne aber

17
nur erst 6 Stücke davon. Die schreiende Ankündigung Grillo’s von seiner

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Uebersetzung der Alten habe nicht gelesen: und sein Moschus u. Bion,

19
der zum Nutzen der typogr. Gesellsch. in Berlin so gedehnt ist, verspricht

20
keine Hexereien: so wenig als Heyne hochbelobter Virgil sie zu liefern

21
scheint.

22
– – Ihre Engl. Bücher
laßen
Sie mir doch noch: ich wünschte S.
Blair
e

23
über den
Oßian
auch zu haben: es reizt mich sehr. Einen völligen u.

24
specifischen Revers sollen Sie nächstens gewiß haben. Wenn ich gleich jetzt wenig

25
thau
tauge, so soll es nicht stets so seyn. Schreiben Sie mir doch bald, mein

26
lieber H. u. behalten Sie mich lieb. Ich wünsche Ihnen Friede, Gesundheit,

27
Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn u. desgleichen. Schreiben Sie

28
mir doch, mein guter alter H., nicht blos was Sie machen, sondern auch

29
lesen, denken, wünschen und hoffen. Inlage besorgen Sie doch: ich bin
der

30
meiner guten Mutter einen Brief schuldig, seit einem halben Jahr. Grüßen

31
Sie Lindnern, diesen Brief darf er aber eben nicht lesen: ich werde nächstens

32
an ihn schreiben. Sollten Sie Fischern einmal sehen: so mahnen Sie
ihn doch

33
ebenfalls dazu an.
A
Dieu.
Gute
Nacht

34
den 5ten Sept.

Provenienz

Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 5).

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 36–39.

ZH II 399–402, Nr. 346.

HBGA I 81–84, Nr. 36.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
399/22
halb
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
halb
399/23
können
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
können
399/24
wollen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wollen
399/31
Erlaßung
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Erlassung
400/2
nicht
z
um
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nicht um
400/2
Oberpast.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Oberpast:
400/3
Creaturen, […] übergangen]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Creaturen übergangen
400/10
Lumpen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Lungen
400/13
vorgefallnen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vorgefallenen
400/17
Meße
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Messe
400/19
zugebracht
,
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zugebracht.
400/21
lesen,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lesen
400/26
verlaßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verlassen
400/27
beßere
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bessere
400/33
Ah
Achtung,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Achtung
400/35
liegen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lagen
401/13
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sie
401/17
Galle,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Galle
401/23
laßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lassen
401/27
Hogarthscher
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Hogartscher
401/27
Abriß
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Abriß
402/2
d
as
ie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
die
402/16
großes
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
großes
402/22
laßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lassen
402/22
Blair
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Blair
402/23
Oßian
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ossian
402/33
A
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
a
402/33
Nacht
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Nacht!