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An HErn Hamann
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Was werden Sie sagen, daß ich endlich wiederkomme, wie Epimenides auf
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Kreta, oder wie der verlohrne Sohn im Evangelio: denn in der That mein
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langes Stillschweigen ist eine Produktion von Jugend u. greisem Alter, von
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Schicksal und Zufall,
halb
eine Sünde der Schwachheit, halb der Bosheit.
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Hören Sie meine Geschichte: so werden Sie mich erklären
können
, wenn Sie
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nicht entschuldigen
wollen
.
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Ihr erster unbeantworteter Brief kam mir in der Zeit meiner so genannten
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Augenkur in die Hände, und da war mein Auge gebunden, um nicht schreiben
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zu können. Meine 2. Urlaubsmonate, die ich
dazu
mir erbeten hatte, um
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die Augenkur abzuwarten, wurden drauf durch eine unvermuthete Vokation
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nach Petersburg abgekürzt, in die Stelle, die jetzt Willamov., wie ich höre,
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übernommen hat. Der Rath, um mich hier zu behalten, erklärte mich zum
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Past.adj. der beiden Vorstädt. Kirchen, mit
Erlaßung
des Vikariats in der
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Schule; wo ich
aber
die ordentl. Stunden abwarte, sonst aber ganz
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abgetrennt bin. Natürlich verflocht mich die Veränderung des Standes in
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Unbequemlichkeiten, ich will nicht sagen, Geschäfte, und mein Kopf war also von
S. 400
andern Dingen voll. Bald fanden sich aber auch würkliche Ungemächlichkeiten:
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das Minist. war in der Eil
nicht
z
um
Rath gefragt: der
Oberpast.
mit allen
3
seinen
Creaturen
,
von Candidaten übergangen
: Stadtkinder übergangen: auf allen Seiten
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schrie man über was außerordentliches: dieser, daß die Stellen nicht
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compatibel wären: jener, daß man mich doch nicht lange haben würde: dieser, daß
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ich für einen Prediger zu gelehrt wäre u. s. w. Endlich wagte noch der Ob.past.
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das letzte, mich zum Adj. des ganzen Minist. machen zu wollen: auch dies
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mißlang ihm, ich ward dem Consistorio vorgestellt. Nun sollte ich examinirt
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werden: man verschob es aber von einer Woche zur andern: Fest über Fest
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kam dazwischen, u. so verlief ¼ Jahr bis endlich ein
Lumpen
mageres Ding,
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was 3 Stunden währte, Ex. hieß, und ich endl. ordin. u. introduc. wurde.
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Die große Verschiedenheit zwischen Schul- und Predigtamt: die neuen
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Geschäfte: und noch mehr die vielen dabei
vorgefallnen
Comitantien haben mich
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also etwas aus meinem Cirkel gerückt, in den ich mich schwer zurückfinden
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werde. Meine Autorschaft ist unterbrochen: Lecture unterbrochen; und darf
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ich sagen, auch meine Bestrebsamkeit: die Correspondence eines halben Jahres
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ist zu beantworten: die Sachen der
Meße
habe ich noch wenig genutzt: das
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Land beinahe gar nicht gesehen: den Sommer auf meiner Stube, und die
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Hundstagsferien zu Bette
zugebracht
,
.
Ich liebe die Einsamkeit, oder den
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Umgang eines Hauses: bin in allen Gesellschaften fremde geworden: kann weder
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lesen,
noch schreiben: denken u. sprechen, bloß wenn ich muß. Sonntag acht
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Tage habe ich eine feierliche Kirchensühne zu verrichten gehabt, wo ich für
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4 Sonntage geredet, und die 3. vorhergehenden Tage für 14. Tage gearbeitet
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habe: überdem ist der eine Past. der Vorstädt. Kirche auch eine Zeitlang krank
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gewesen: ich selbst zerstreut, unheiter, und halbgesund. Der Schlaf hat mich
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über ein Viertheiljahr sehr
verlaßen
: mein Kopf schmerzt oft: ich habe eine
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Zeitlang alle Vorboten vom hitzigen Fieber gehabt: und ich weiß keine
beßere
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Zeit, als wenn ich mit ein paar Freundinnen spreche, oder mein Pfeifchen
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rauche. – – Nun sehen Sie, warum ich Ihnen nicht geantwortet, und ein paar
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der letzten Briefe wirklich mit Verdruß gelesen, was einige ungeduldige und
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pochende Stücke anbetrift; übrigens aber glauben Sie, lieber H., daß Sie
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einer von denen in meinem Leben sind, in deren Umgang ich mich oft
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zurückwünsche: ich denke an Sie mit
Ah
Achtung,
und freundschaftlicher Sehnsucht.
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Meinen 4. Th. der Fragmente werde ich Ostern liefern: ich hatte ein anderes
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Stück unter der Feder, davon ich nicht den Titel sagen mag: 6. Bogen
liegen
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fertig: das übrige fehlt:
manet aeternumque manebit forsan.
Mit Ihrem
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Urteil
geschrieben
kommen Sie so bald Sie wollen:
gedruckt
– meinetwegen,
S. 401
wenn der 4. Theil da ist. Ich arbeite das ganze Werk um zur 2ten Auflage,
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die ganz auf Schreibpapier gedruckt werden soll, und bald nöthig ist, wie ich
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höre. Wollen Sie mit einem, wie Sie schreiben,
lesbaren
Briefe über die
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3. ersten Theile mich unterstüzzen: so kommen Sie sehr zu rechter Zeit: ich
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brauche Aufmunterung, wenn ich sie je gebraucht. Die Rec. in ihren Zeit.
ist
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vom 3t. Th. ist elend: alle Welt sagt, daß der Styl im 3t. Th. nur gar zu
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feurig sey, statt zu ältern; freilich Bildervoll ist er nicht, daß sollte er auch
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nicht seyn, und bei der 2ten Aufl. fallt das meiste bildervolle weg, weil
jetzt
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die fremde Blumendecke
not
blos war, um ein Liefländisches Phönomenon
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mit mehr Sonderbarkeit in die Litteraturcirkel zu Berlin einzuführen. Gegen
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alles Lob bin ich taub: und die Apotheose der Häll. Zeit. rührt mich nicht:
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die einzige Recens. der Bibl. d. sch. W. ist mir schäzzbar; gründlich und ich
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werde
Sie
sehr brauchen: von Moses erwarte ich eine in der Deutsch. Bibl.
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Die Hamb. haben blos einen feinen Auszug gegeben: die Göttinger ein
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hämisches Lob, und Klotz in den
actis
ein
elogium
nach seiner Art, ohne
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großes Urteil. Wenn Sie mir das Ihrige zukommen ließen, und dasselbe
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weder aus dem Magen, noch aus der Milz,
Galle,
oder Herzgrube käme:
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so wären Sie mir in vielen Stücken ein
Iudex competens,
nur, wie
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gesagt, kein Schattenspiel von Einfällen, sondern lieber ein kleines Häufchen
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Samenkörner.
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Ihre Umkehr zur Zollnerbude wundert mich: ich lobe Sie aber, und wünsche
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Ihnen Glück: auch ich ändere mein Quartier, über wenige Wochen: verlege
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den Tisch bei Hartknoch u. s. w. Wir eklipsiren beide nur
laßen
Sie uns nicht
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unsre Laufbahnen gerade durchschneiden. Ob Sie gleich einigen Antheil an
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Lindners Lehrbuch zu haben scheinen: so mag ich doch meine Meinung nicht
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schreiben: mir komts vor, wie ein Papier voll chorographischer Linien, oder
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voll
Hogarthscher
verzogner Gesichter, da ich einen
Abriß
erwartete, ohne
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Schlängelung und Welle, ohne Farbe und Reichthum, mit
Lin
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Topographischen Linien, die richtig, vest, deutlich seyn sollen. Nichts mehr! – Für Ihren
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Charakter Rousseaus in den Zeitungen danke ich Ihnen verbindlichst: wenn
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Warton
über Pope. Gen. u. Schr. der Uebers. würdig gewesen: so dies eher.
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Wollen Sie etwas recht schönes lesen: so nehmen Sie den
Landpriester
von
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Wakefield
: ein Märchen, voll Weltkenntniß, Critik, Kunst,
und
so seltnem
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stillem Humor, daß ich jetzt bei dem 3ten mal noch immer Züge finde, die mir
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entwischt waren. Dies Buch ist kaum aus unsrer Zeit, und die meisten Leser
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werfen es daher auch weg, oder finden nichts in ihm. – Die
Menechmen
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haben Sie vermuthlich gelesen: ich weiß wenig aus Ihnen zu machen,
S. 402
obgleich der Nachahmer Ihrer Prose v. Gerstenb. davon der Verf. seyn soll:
2
von dem Sie auch
d
as
ie
vortreflichen Gedichte des Skalden werden gelesen
3
haben. Vom heil. Chrysostom habe ich einige Stücke gelesen, und denke
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einmal was über ihn zu schreiben. Jetzt liegt des-Voeux über den Pr. Salomo
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vor mir, den ich mit Vergnügen zu durchwandern gedenke: und alsdann will
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ich an
Semlers
anti-prodigieuse Kirchengeschichte der sechs ersten Jahrh. –
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Hirzels Denkmaal auf Blaarer ist ein Steinhaufen, den ich halb
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durchgeklettert, da bin ich ermüdet, u. fand, daß er Blaarer darunter habe begraben
9
wollen.
Klotzens
Münzgeschichte
Beitrag, die Kunst der Münzen zu
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erklären verhält sich zu Winkelmanns Werk wie ein kahler Pfennig zum
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prächtigen Denkstück:
Wesseling Herodot
habe bei mir, aber noch gar nicht genützt:
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so auch
Schilter antiquit. vet. German.,
die HE. Hartkn. aus Freundschaft
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mir zugebracht. Jacobi Romanzen aus dem Spanischen sind nicht der Rede
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werth: und was ich von Clodius hochberühmtem Werk: Versuche über die
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Litteratur u. Moral hoffen soll, weiß ich noch nicht. Leßings Hamb.
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Dramaturgie wird kein
großes
, aber sehr nützliches Werk werden: ich kenne aber
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nur erst 6 Stücke davon. Die schreiende Ankündigung Grillo’s von seiner
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Uebersetzung der Alten habe nicht gelesen: und sein Moschus u. Bion,
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der zum Nutzen der typogr. Gesellsch. in Berlin so gedehnt ist, verspricht
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keine Hexereien: so wenig als Heyne hochbelobter Virgil sie zu liefern
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scheint.
22
– – Ihre Engl. Bücher
laßen
Sie mir doch noch: ich wünschte S.
Blair
e
23
über den
Oßian
auch zu haben: es reizt mich sehr. Einen völligen u.
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specifischen Revers sollen Sie nächstens gewiß haben. Wenn ich gleich jetzt wenig
25
thau
tauge, so soll es nicht stets so seyn. Schreiben Sie mir doch bald, mein
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lieber H. u. behalten Sie mich lieb. Ich wünsche Ihnen Friede, Gesundheit,
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Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn u. desgleichen. Schreiben Sie
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mir doch, mein guter alter H., nicht blos was Sie machen, sondern auch
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lesen, denken, wünschen und hoffen. Inlage besorgen Sie doch: ich bin
der
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meiner guten Mutter einen Brief schuldig, seit einem halben Jahr. Grüßen
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Sie Lindnern, diesen Brief darf er aber eben nicht lesen: ich werde nächstens
32
an ihn schreiben. Sollten Sie Fischern einmal sehen: so mahnen Sie
ihn doch
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ebenfalls dazu an.
A
Dieu.
Gute
Nacht
34
den 5ten Sept.
Provenienz
Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 5).
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 36–39.
ZH II 399–402, Nr. 346.
HBGA I 81–84, Nr. 36.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
399/22 |
halb |
Geändert nach der Handschrift; ZH: halb |
399/23 |
können |
Geändert nach der Handschrift; ZH: können |
399/24 |
wollen |
Geändert nach der Handschrift; ZH: wollen |
399/31 |
Erlaßung ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Erlassung |
400/2 |
nicht z um ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nicht um |
400/2 |
Oberpast. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Oberpast: |
400/3 |
Creaturen, […] übergangen] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Creaturen übergangen |
400/10 |
Lumpen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Lungen |
400/13 |
vorgefallnen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: vorgefallenen |
400/17 |
Meße ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Messe |
400/19 |
zugebracht , . ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: zugebracht. |
400/21 |
lesen, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lesen |
400/26 |
verlaßen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verlassen |
400/27 |
beßere ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bessere |
400/33 |
Ah Achtung, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Achtung |
400/35 |
liegen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lagen |
401/13 |
Sie ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: sie |
401/17 |
Galle, |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Galle |
401/23 |
laßen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lassen |
401/27 |
Hogarthscher ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Hogartscher |
401/27 |
Abriß |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Abriß |
402/2 |
d as ie ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: die |
402/16 |
großes |
Geändert nach der Handschrift; ZH: großes |
402/22 |
laßen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lassen |
402/22 |
Blair e |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Blair |
402/23 |
Oßian ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ossian |
402/33 |
A |
Geändert nach der Handschrift; ZH: a |
402/33 |
Nacht ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Nacht! |