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369/29
eilfte Kapitel
Herder versucht dem Brief die Anmutung eines Kapitels aus
Sternes
Tristram Shandy
zu geben,
s.u.
.
Das
erste
eilfte Kapitel

30
seit der Abreise
am 6. Mai, vgl.
HKB 324 ( II 367/20 )
Mitau
heute
Jelgava
(40 km südwestlich von Riga)
(Meine Merkwürdigkeiten seit der Abreise aus Mitau.)


31
Präcise 2.
gemeint ist die Uhrzeit
Präcise 2. fuhr ich ab, u. war drei Meilen durch, stumm und
in

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Schlucken …
Nach einer volkstümlichen Auffassung bekommt man Schluckauf, wenn jemand an einen denkt; Herder will damit wohl sagen, dass er viel an Hamann gedacht hat.
Gedanken voll; wenn mein Schutzgeist über das Schlucken etwas Jurisdiction hat:

33
so muß mein Hamann sehr oft zu sich selbst gesagt haben: „curieuse!
ich

34
schlucke ich doch niemals so!

S. 370
Ich machte dabei die wahre Praktische Anmerkung, daß, wenn man auch

2
nicht verliebt ist, man doch durch den Zusammenstoß u. Veränderung der

3
Gegenstände sich so sehr zerstreuen kann, daß man nur oft wenige

4
Augenblicke den Angelegenheiten des Herzens schenke
n
t
kann,
um deren willen

5
Freunde doch zu einander wallfahrten. Habe ich doch kaum eine halbe Stunde,

6
mit meinem H. gemeinschaftlich, einander unser Herz geöfnet: und

7
Das ist der Freundschaft …
Herder variiert die 5. Strophe des Kirchenliedes „Von Gott will ich nicht lassen“ (von Ludwig Helmboldt): „Lobt ihn mit herz und munde, für das er uns geschenkt, das ist ein sel’ge Stunde, darinn man sein gedenckt, / sonst verdirbt alle zeit, die wir zubringen auf Erden, wir sollen selig werden, und bleib’n in ewigkeit.“ (nach
Quandt,
Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder
, S. 311)
Das ist der Freundschaft selge Stunde

8
Drinn man sein Herz bedenkt:

9
sonst verschwindt alle Zeit

10
die man zubringt auf Erden

11
wir wollen glücklich werden

12
und seyn in Ewigkeit.

13
Ruhe …
Vgl. Herders Brief an
Johann Gotthelf Lindner
, 31.10.1764: „Er [Hamann] sucht im Jordanus Brunus, und im Saxo-Grammaticus, im Euklid und Caßiodor die Ruhe, die er auf seinem Kreuzzuge gesucht hat: und nicht gefunden hat, und nicht findet, und – wie Sie und ich wünschen – finden mag. Die unendlichen Schwärmereyen des Schwedenborgs hat er auch letztens durchwandert. Ihn, den keine Muse mehr trösten kann, die aus staubigten Büchern blickt, wird gewiß Ihre Umarmung, die Umarmung einer lebenden Muse aufheitern und sammlen können.“ (
HBGA,
Bd. 1, S. 34)
Mein Freund findet auch da nicht seine Ruhe? – Er schmachtet wieder nach

14
Veränderung? – Er findet auch nicht mehr in den Armen seines Freundes

15
die alte Aufmunterung? – Elendes Menschliches Leben, das man nicht

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genießet, wenn man es zu früh, und wenn mans zu Eklektisch durchläuft.

17
Ich nahm mir dabei vor, gleich Abends an meinen H. einen langen, vollen

18
Die Briefe …
vgl.
Mt 26,41
; vgl. in der Vorrede der
Kreuzzüge des Philologen
, KdP 6/17-22 (N II,116).
Brief zu schreiben, von dem es heißen sollte: „Die Briefe sind stark, aber die

19
Gegenwart des Leibes ist schwach, u. die Rede zu muthig.“ Und was wäre

20
dies für fürtreflicher freundschaftlicher Brief geworden, aber eben die besten

21
Entschlüße, haben, wie die besten Väter, keine Kinder.

22
Auch nahm ich mir vor, Pazz zu bitten, daß er mir von dem kleinen lieben

23
Hagen
,
das
den Chirurgischen Diät-Tarif eintreiben sollte, und mein

24
Intereßen
Zinsen
verspr
schuldiggebliebnes Abschiedskompliment mit allen Intereßen, an

25
Rathsherr Tottin u. noch angelegentlicher an seine liebenswürdige Frau

26
abtragen sollte.

27
Aber unter allen diesen Entschlüßen kam ich dem Schlaf nahe, und wäre

28
näher gekommen, wenn nicht der schnelle Fuhrmann, und der
höckerichte

29
Weg den Schlummer von meinen Augenliedern weggescheucht hätte.

30
Kibitka
aus dem Polnischen stammende Bezeichnung eines schlechten Wagens oder Schlittens, auch für einen leichten, ungefederten russischen Reisewagen
Ich fing also an zu singen:
unter dem
das Rütteln der Kibitka schlug

31
Takt, machte Triller, Bebungen u. Kontrapunkte, Schleifungen u. Sprünge;

32
Gaßenlieder
vgl.
HKB 319 ( II 363/3 )
dem ohngeachtet sang ich ein Duzzend Gaßenlieder „kläglich“ ab.

33
Düna
westruss. Fluss, der bei Riga in die Ostsee mündet
Und kam, nach Regen u. Wind an die Düna, ließ mich schnell übersezzen,

34
denn ob
ich
gleich an eben dem Tage 2. Mädchen ersoffen waren, so war

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Julius Cäsar
nach
Plut.
vit.
, Caesar 38 sagte Julius Cäsar bei Sturm zu einem Bootsmann: „Vorwärts, mein Freund, wag’s und fürchte nichts! Du fährst Caesar in deinem Boot, und Caesars Glück fährt mit.“
Grecourt
Jean-Baptiste de Grécourt
, Selbstidentifikation Herders
doch dies bei Julius Cäsar u. einem
Grecourt
nicht zu vermuthen. Man

36
hatte die Thore mir zu Gefallen, eine Stunde über Gewohnheit offen

37
Feldteufel
3 Mo 17,7
u.ö.
Wirthin
Frau Hartmann in Riga, vgl.
HKB 314 ( II 355/23 )
gelaßen, u. ich kam, wie ein Feldteufel, zu meiner lieben Wirthin.

S. 371
Diese hatte mich vor der Tischgesellschaft sehr ernstlich vertheidigt: ich

2
könnte ohnmöglich zu Steidel gesagt haben: „fahren Sie zum Teufel!“ und

3
doch war es
wahr
, leider! wahr!

4
Den folgenden Tag schlief ich
von
bis 9. u. von 10–12. bekam über dem

5
Pasquillzettel, aus Kön.
Schmäh- oder Spottbrief aus Königsberg, nicht überliefert
Eßen einen Pasquillzettel, aus Kön. u. vermuthlich von H. pp. l. wie ich

6
errathe, daß ich Sch. ffn. noch nicht geantwortet: ich ärgerte mich, schrieb an

7
Sch.
vgl.
HBGA
, Bd. 1, S. 52f.
den Narren Sch. so höflich, als man an Narren schreibt, u. lies den Zettel

8
ohne Antwort.

9
Zur Vertreibung der Grillen besuchte ich die
Komödie
, wo das Schlegelsche

10
Lustspiel „der Triumph der guten Frauen“
sehr
gut aufgeführt wurde,

11
daß ichs gestern mit Vergnügen nochmals gesehen. Die
Candidaten
, das

12
Rhynsolt u Sapphira
Martini,
Rhynsolt und Sapphira
mittelmäßige Trauerspiel,
Rhynsolt
u
Sapphira
, u. das noch schlechtere

13
Lustspiel Patelin habe ich besucht, um insonderheit von einem vortreflichen

14
Akteur Kantner, zu lernen.

15
Es ist leicht zu erachten, daß mein Projektfach in der Seele dabei nicht leer

16
Critik …
Die Theaterstücke von
Johann Elias Schlegel
und
Johann Christian Krüger
werden in
Herder,
Haben wir eine Französische Bühne?
behandelt, vgl. SWS I, S. 210 und 217f.
geblieben, sondern daß für 4. Ort ich eine Critik über das Schlegelsche u.

17
Trauerspiels
vgl.
HKB 331 ( II 379/1 )
Crügersche Lustspiel,
u
eine Umbildung des Trauerspiels, u. ein ganzes

18
Nachspiel im Kopfe habe.

19
Meßcatalog …
Im
Messkatalog für Ostern 1766
, S. 672 wurde die
2. Sammlung der
Fragmente
angekündigt.
Gegenwärtig arbeite ich am
3.ten
Fragment; nachdem der
Meßcatalog

20
wieder etwas den Funken meiner Autorschaft angefacht. Ich will Steidel

21
Mit.
Mitau
erinnern, daß er diesen Catalog nach Mit. schicken soll: es ist in ihm wenig

22
Laokoon …
Lessing,
Laokoon
neues, ausgenommen ein
Laokoon
von Leßing, über die Gränzen der Poesie

23
Michaelis
Michaelis,
Vermischte Schriften
(im
Messkatalog für Ostern 1766
, S. 688: „Michaelis, J. Dav. Sammlung vermischter kleiner Abhandlungen, 8. Frankfurt bei J. Gottl. Garbe“)
u. Malerey, von
Michaelis
zerstreute Abhandlungen, von
Willamov
. ein

24
Schriftlein über den
Aristophan
von
Zachariä
sein Cortez, und Samlung

25
Deutscher Gedichte
Zachariae,
Auserlesene Stücke
Deutscher Gedichte, u. einige andre, die mir nicht beifallen: vorzüglich aber

26
eines Ungenannten: Fragmente über die Deutsche Litteratur, die, wie er

27
selbst, Blut zu viel, Serum zu wenig haben, u. Lebenssaft, das Gott erbarm!

28
Ungenannte
Herder selbst (
die
Fragmente
erschienen anonym und sein Name wird im
Messkatalog für Ostern 1766
, S. 672 nicht genannt)
Dritten Fragment
Die
3. Sammlung
wird die klassische lateinische Literatur und ihre Nachbildung in deutscher Sprache behandeln.
Weil dieser Ungenannte zu seinem Dritten Fragment, von der Römischen

29
Poesie den Spence braucht, so will er ihn noch etwas zögern, wie auch den

30
Fabriz, den er unumgänglich nöthig hat. Sie nehmen es doch nicht übel, mein

31
HE. P. Ruprecht
Johann Christoph Ruprecht
HE. P. Ruprecht, ich mache ihnen mein Kompliment.

32
Ich möchte auch wohl
G
gern Saintfoix von Paris haben, weil ich dem

33
Leibniz …
Wohl eine kursierende Geschichte über Leibniz; in
Müller,
Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst
, II 346 (das Buch wurde von Herder angeregt) heißt es: „In Nürnberg hörte er [Leibniz] von einer Gesellschaft, die den Stein der Weisen suchte. Seine Wißbegierde trieb ihn an, auch diese kennen zu lernen. Um ihre Geheimnisse zu erfahren, studierte er alchymistische Bücher, bemerkte sich die dunkelsten Redensarten, schrieb hierauf an den Vorsteher einen Brief, den er selbst nicht verstand, und bat um den Zutritt, den er erhielt; doch, obwohl ihm bald alle Schriften der Gesellschaft übergeben wurden, ohne die geringste Aufklärung dabei zu gewinnen.“
großen Leibniz nachahmen will, da er in eine Gesellschaft
Chymiker
eintrat:

34
ich habe etwas im Kopfe, dazu ich
Saintfoix
nöthig habe.

35
fluctus …
vgl.
Ov.
trist.
1,2,49: „qui venit hic fluctus, fluctus supereminet omnes: / posterior nono est undecimoque prior.“ (dt. Die Welle, die da naht, ragt über alle andern hinaus: sie kommt nach der neunten, vor der elften!)
Ich sehe wohl, daß dies Kapitel unter die
fluctus
von Geschichte gehört,

36
von denen Ovid singt:
posterior decimo est, duodecimoque prior;
daher

37
schicke ichs statt Brief an meinen lieben Freund H., als ein Memoire zur

S. 372
Marc Aurels …
vmtl. eine Gemme aus Karneol mit dem Gesicht
Marc Aurels
als Motiv, das Herder als Siegelstempel verwendet
Vergeßenheit und besiegele es mit dem Kopfe des Marc Aurels, den ich heute

2
im schönen Karneol geschenkt bekommen. Es ist doch eine gute Sache, um die

3
Capitel …
diesen Brief,
s.o.
; Hamann ist in dem
Tristram-Shandy-Rollenspiel
Uncle Toby
Träumerei im Briefschreiben: heute schicke ich dies Capitel meines

4
Shandyschen Romans an meinen Onkel Tobias Shandy, und hoffe von ihm bald

5
eine freundliche Antwort.


6
Adresse:

7
à Monsieur / Monsieur
Hamann
/ homme de lettres / à
Mitow
/

8
Francò
/
bey HE. Hofrath
Tottien
/