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Von erwachsenen Leuten auf Kinder zu schlüßen; so traue ich den letzteren
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mehr Eitelkeit als uns zu, weil sie unwissender als wir sind. Und die
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catechetischen Schriftsteller legen vielleicht, diesem Instinct gemäß, die albernsten
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Fragen dem Lehrer, und die klügsten Antworten dem Schüler in den Mund.
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Wir müssen uns also dem Stoltz der Kinder wie Jupiter sich der
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aufgeblasenen Juno bequemen, die er nicht anders als in der Gestalt eines vom Regen
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triefenden und halbtodten Gugucks um die
Pflicht
ihrer
Liebe
angesprochen
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haben soll, unterdessen er zu seinen Galanterien sehr anständige und
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sinnreiche Verkleidungen wählte.
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Das größte Gesetz der Methode für Kinder besteht also darinn, sich zu ihrer
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Schwäche herunterzulaßen; ihr Diener zu werden, wenn man ihr Meister
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seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren will; ihre Sprache und
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Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen wollen die unsrige nachzuahmen.
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Dieser practische Grundsatz ist aber weder möglich zu
verstehen
, noch in der
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That zu
erfüllen
, wenn man nicht, wie man im gemeinen Leben sagt, einen
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Narren an den Kindern gefressen hat, und sie liebt, ohne recht zu wissen:
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warum? Fühlen Sie unter Ihren Schooßneigungen die Schwäche einer
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solchen Kinderliebe; so wird Ihnen das
Aude
sehr leicht fallen, und das
sapere
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sechs Tagen
1 Mo 1
; vgl.
Pluche,
Histoire du ciel
, S. 396 (dt. Übers.): „Wie! giebet es denn keine allgemeine Naturlehre, welche so viele Entdeckungen unserer Väter und unsere zusammen bringen und sie in eine ordentliche Wissenschaft verbinden könnte? Ja, allerdings giebet es dergleichen. Wir kennen eine einfältige und bescheidene Naturlehre, welche so wohl sicher zu gebrauchen als geschickt ist, das Herze des Menschen zu vergnügen, seinen Verstand auszuschmücken und seinen Bedürfnissen zu statten zu kommen; dieses ist die Naturlehre der Erfahrung, dieses ist die Physik des Moyses, und keine ist von der andern unterschieden.“
HKB 170 ( I 452/25 ) auch flüßen: so können Sie, H.H. in Zeit von sechs Tagen sehr gemächlich
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der Schöpfer eines ehrlichen, nützlichen und schönen Kinderwerks werden, das
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aber kein T – – dafür erkennen, geschweige daß ein Hofmann oder eine Phyllis
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aus Erkenntlichkeit Sie dafür umarmen wird.
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Diese Betrachtungen gehen darauf hinaus, Sie zu bewegen, daß Sie auf
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keinen andern Plan ihrer Naturlehre sinnen, als der schon in jedem Kinde,
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das weder Heyde noch Türke ist, zum Grunde liegt, und der auf die Cultur
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Ihres Unterrichts gleichsam wartet. Der beste, den Sie an der Stelle setzen
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könnten, würde menschliche Fehler haben, und vielleicht größere, als der
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verworfene Eckstein der mosaischen Geschichte oder Erzählung. Da er den
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Ursprung aller Dinge in sich hält; so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft
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immer besser als ein logischer, er mag so künstlich seyn als er wolle. Die
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Natur nach den sechs Tagen ihrer Geburt ist also das beste Schema für ein
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Kind, das diese Legende
ihrer
Wärterin so lange glaubt, bis er
rechnen
,
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zeichnen
und
beweisen
kann; und dann nicht Unrecht thut, den Zahlen,
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Figuren und Schlüssen, wie erst seinen Ammen zu glauben.
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Ich wundere mich, wie es dem weisen Baumeister der Welt hat einfallen
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können uns von seiner Arbeit bey dem großen Werk der Schöpfung gleichsam
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Rechenschaft ab
zu
legen; da kein kluger Mensch sich leicht die Mühe nimmt
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Kinder und Narren über den Mechanismus seiner Handlungen klug zu
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machen. Nichts als Liebe gegen uns Säuglinge der Schöpfung hat ihn zu
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dieser Schwachheit bewegen können.
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Wie würde es ein großer Geist anfangen, der einem Kinde, das noch in
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die Schule gienge, oder einer einfältigen Magd von seinen Systemen und
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Projecten ein Licht geben wollte. Daß es aber Gott möglich gewesen, uns zwey
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Worte über den Ursprung der Dinge vernehmen zu laßen, ist unbegreiflich;
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und die würkliche Offenbarung darüber ein eben so schönes Argument seiner
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Weisheit, als ihre scheinende Unmöglichkeit ein Beweis unsers Blödsinns.
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Ein Weltweiser lieset aber die drey Kapitel des Anfanges mit eben solchen
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gekrönter Sterngucker
Alfons X. (1221–1284), König von Kastilien, der die Ptolemäischen Planetentafeln verbessern wollte; etwa in Zedlers
Universallexikon
überliefert,
Bd. 1, Sp. 1345
: „wenn ihn Gott zur Erschaffung der Welt mit gezogen hätte, wolte er vieles anders gemacht haben.“ Leibniz benutzt die Anekdote in
Von dem Verhängnisse
; Hamann kannte sie aus
Rapin,
Les Reflexions sur l’eloquence
, die er übers. hat (
Hamann,
Rapin
, N IV S. 119) und bezieht sich auch in
Hamann,
Biblische Betrachtungen eines Christen
, LS S. 68/9, darauf. In
Knutzens
Systema Cavsarum Efficientivm
(1745, S. 115) taucht sie auf (s.u.) wie auch in
Lilienthals
Wahrscheinliche Vorstellung Der Geschichte Unsrer Ersten Eltern Im Stande der Unschuld
(1722, S. 513). Vgl.
HKB 146 ( I 344/26 ).
Augen, wie jener
gekrönter
Sterngucker den Himmel. Es ist daher natürlich,
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daß lauter eccentrische Begriffe und Anomalien ihm darin vorkommen; er
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meistert
vgl.
Lilienthal,
Wahrscheinliche Vorstellung der Geschichte
, S. 513f.: „Auf den Spanischen König Alphonsum X. schlug plötzlich der Donner loß / und berührte ihn an seinem Kleide / da er sich einstens vermessener Weise unterstand / die vollkommene Wercke Gottes zu tadeln / und zu sagen: Er hätte eines und das andre weit besser angeben und einrichten wollen / wenn er bey dem Werck der Schöpfung wäre gegenwärtig gewesen / und GOTT hätte Rath geben sollen. Und billig müssen / bey ausbleibender Busse / in der Höllen geschweiget werden die Schand-Mäuler der unverschämten Tadler / welche den allerweisesten Gott meistern wollen …“
meistert also lieber den heiligen Moses, ehe er an seinen Schulgrillen und
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systematischem Geist zweifeln sollte.
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Schämen Sie sich also nicht, H. H. wenn Sie für Kinder schreiben wollen,
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auf dem hölzernen Pferde der mosaischen Geschichte zu reiten, und nach den
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Begriffen, die jedes Christenkind von dem Anfange der Natur hat, ihre
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Physick in folgender Ordnung vortragen:
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I.
Von Licht und Feuer.
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II.
Von der Dunstkugel und allen Lufterscheinungen.
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III.
Vom Wasser, Meer, Flüssen.
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IV.
Vom festen Lande, und was in der Erde und auf der Erde wächst.
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V.
Von Sonne, Mond und Sternen.
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VI.
Von den Thieren.
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VII.
Vom Menschen und der Gesellschaft.
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Mündlich mehr! –
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Hor.
carm.
I,2,35–37: „wenn du dein verlassenes Volk und die Enkel / wieder anschaust, Stammvater, // übersättigt vom allzu langen Kampfspiel“
– Neglectum genus et nepotes
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Respicis AVTOR
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Heu nimis longo satiate ludo.
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HORAT.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg (ohne Signatur).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, II 446–450.
Kant, Werke [Akademieausgabe] X 22–23, vgl. XIII 12 f.
ZH I 446 f., Nr. 169.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
447/2 |
ihrer ]
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Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies wohl seiner statt ihrer |
447/18 |
gekrönter ]
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Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies gekrönte Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): gekrönte |