383
S. 32
Kgsberg den 13 Jänner 773.

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Ich habe heute eben Ihren letzten Brief vom 2
huj.
erhalten, da ich vor

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Verdruß und Langweil den Anfang gemacht meinen alten
Platon
von neuem

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zu lesen, aber nicht weiter als bis auf den Anfang gekommen bin, und seinen

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Lebenslauf zu Ende gebracht.

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Ihr freundschaftliches Andenken, liebster Herder, ist meiner Lampe Oel.

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Es würde mir lieb gewesen seyn, wenn Sie mir den Empfang meiner

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Antwort bis auf das
datum
bestimt hätten. Mein gantzer Einfall durch Einschluß

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des Päderasten zu schreiben, war eine bloße
Chicane,
um mich an den

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Philistern rächen zu können.

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Eine Beyl. zu den Denkwürdigkeiten des sel. Sokrates von einem

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Geistlichen in Schwaben
ist bereits zu Ende des
Nov.
abgegangen um in

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Schwäbisch Halle gedruckt zu werden. Es sollte noch im alten Jahr fertig

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seyn; man weiß hier aber noch nicht eine lebendige Sylbe von dem Schicksal

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dieser kleinen Handschrift, der es vermuthl. wie dem ersten Theil gehen wird.

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So bald ich was davon erfahren werde, und das Kind zur Welt gebracht seyn

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wird; werde ich gleich für Ihre Neugierde sorgen – Ob selbige befriedigt

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werden wird, steht dahin. Weil ich keinen Einfluß in die Expedition haben kann.

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Thun Sie mir wenigstens die Gefälligkeit, so bald Sie etwas erhalten, mir ein

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Recepisse
darüber oder Empfangsschein
stehendes Fußes
zu übermachen.

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Ich habe seit 3
Wochen
Monathen selbst in einer Wüste gelebt und in

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einer Entfernung der Welt, wie ein unreines jüdisches Weib. Verdenken Sie

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mir also nicht, wenn mein Brief diese Empfindungen des Wiederwillens und

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Unzufriedenheit athmet. Vielleicht ist unsere Freundschaft hierinn

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sympatheti
scher als von irgend einer andern Seite. Der einzige Freund u. Vertraute

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ist unser jetzige 3te Hofprediger Lindner, der jetzt im Vorschlage zu
Buchholtz

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Stelle ist. Dieser ist plötzlich den 4
huj.
gestorben.

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Hoffentl. werden Sie das tolleste
Programm
v
Selbstgespräch eines

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Autors
eher erhalten. Ich bin aber so unglückl. mit Leuten zu thun zu haben,

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die kein Gefühl aber desto mehr Wahn besitzen und wenn ich auf Knieen

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flehte um ein paar Zeilen: so erhalt ich doch nichts als durch Sturm und

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Ungewitter im ästhetischen Verstande. Die Göttin
Τυχη
wird also auch den

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Ausgang dieser Arbeit übernehmen.

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Ihre Winke uns ohne Unterhändler und Zeugen zu unterreden ist mein

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eigener Wille und das erste geschah mit Fleiß, wie Sie leicht von selbst

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erachten können und einsehen werden
ex posterioribus.

S. 33
Ich hoffe also daß Sie für mein
Prospectum
weder
erschrecken
, noch

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erröthen
noch wie jener Philosoph über den Geschmack seines Esels an Feigen

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für Lachen bersten werden
. Ich besorge aber zu meiner – – daß der Scherz

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so naif gerathen wird, daß die Kunstrichter wie die Vögel sich an den

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gemalten Weintrauben vergaffen werden, falls er ihnen nicht zu
hoch
ist, das

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heißt
bitter
, in der Sprache der Füchse. Auch Ihre Erklärung eines

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Biedermanns
und
Freunds
erwarte hierüber, folglich mehr als ein
Recepisse

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Ich
exponi
re Sie also nicht so viel als mich selbst, und Sie sind wenigstens

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so gut gedeckt, als ich für meine eigene Haut sorge. Weil Sie ein

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Pythagoräer
geworden sind:
so spielen
Sie Ihre Rolle eines olympischen

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Zuschauers,
bis Sie es Ihrer Mühe werth finden.

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Außer dem
Fool of Quality by Mr. Brooke
von dem ich nur noch 2 Theile

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erst im Original gelesen, den Sie aber in
den
der
Abendstunden
Landbibliothek

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zerfetzt u verstümmelt finden können, hat mich kein Buch
so
erquickt als Ihr

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Thunmann
, den ich vorigen Sonntag verschlungen und mir sogl.

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angeschaft. Ich versteh nichts von dem Fache; aber der
Geist des Mannes

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entzückt so wie mich Schlötzers Styl und Ton immer wiederstanden hat,
non

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possum dicere quare?
Büsching hat durch die Herausgabe dieses kleinen

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Phaenomenon,
wie es Kant nennt, in meinen Augen seine Sünde einer

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Dedications
Schrift zu den
historicis selectis de main de maitre

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ausgesöhnt.

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Nach
Hemsterhuysen
s Schriften bin immer lüstern gewesen ohne bisher

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davon etwas gesehen zu haben.
Diderot
s moralische Versuche haben mir wie

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ein alt Stück Rindfleisch geschmeckt oder wie ein zäher Elendsbraten, für den

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weder meine Zähne noch mein Magen gemacht sind.

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Klotzens Correspondentz hat mir einen lustigen Abend gemacht. Der ehrl.

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Tiefensee und Lippert sind die eintzigen, die mir gefallen haben. Unser

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Landsmann Harder ist ein rechter Preuße, der aber nicht Verstand gnug besitzt um

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falsch zu seyn.

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Wißen Sie nicht den wahren Verf. von der
bey
in Riga verlegten Schrift

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über den
Ursprung der Sprache
.
Schlegel
hat sich hier ausgelaßen ein

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Concurrent
von Ihnen gewesen zu seyn. Ihr Verleger hat mir zugeschworen,

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daß er es nicht wäre – Er ist aber auch ein würdiger Landsmann des ehrlichen

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Harders. Wenn Sie etwas
positiv
es über diesen kleinen Umstand wißen: so

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bitte mir solches mitzutheilen.

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Die Bützowsche neue Schrift kenne blos aus den Göttingschen Zeitungen

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u scheint dasjenige gar nicht zu seyn, was ich mir davon versprach.

S. 34
Ich habe über Ihren
anti
-newtonischen Geschmack in der Optik herzlich

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gelacht; weil er mit meinen Grillen eine Ähnlichkeit hat. Ich bin immer der

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Meynung gewesen daß das gantze kanonische System von Thorn auf optische

4
illusiones
hauptsächlich beruht und denke noch eine
revolution
zu erleben.

5
Ich erwartete etwas von einem
Systeme du Monde;
und es war ein bloßer

6
Auszug des
Lambert,
der kühn in die Wolken baut und den Grund von Fels

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abergläubisch voraussetzt.

8
Des Michaelis mosaisches Recht ist ein sehr unterhaltendes und nützliches

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Werk. Den 3ten Theil davon hab ich noch nicht ansehen können und möchte

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ihn auch kaum lesen, als bis ich ihn zum vierten werde können binden laßen.

11
Seine Bibliothek ist das einzige
Journal
was ich selbst halte und mit rechter

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Wollust lese oder vielmehr durchlaufe und beylege. Wißen Sie daß man von

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Rabelais
Montaigne
in Frankr. eine große Handschrift entdeckt hat? und

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daß Haller seine Briefe herausgeben wird – in allen Sprachen
des

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cultivirten Europa – Um heimzukommen auf unsere Platonische Legenden:

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so habe heute noch mit einem merklichen Nutzen gelesen
γην πρεσβυτατην

17
ειναι των εν τω ουρανω Θεων.
Ist dies nicht ziemlich dem mosaischen

18
Tagewerk
ähnl.
Origenes
;
war ein kleiner Versuch, den ich nach den Sokr. Denkw.

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schreiben wollte. Ich weiß aber nichts mehr davon. Der Muth davon zu

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schreiben ist mir gantz entfallen – aber die Idee liegt mir noch immer im Gemüthe.

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Ich endigte den Thunmann mit dem Gedanken; daß sich noch unendl. vieles

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entziffern ließe, wenn wir
o servum pecus
wären, die mit durchlöcherten

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Rinnen für lieb nähmen. In Riga habe einen halben Bogen über die
Genesin

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aufgesetzt die ich immer bedaure verloren zu haben, so wenig auch daran

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gewesen seyn mag; weil sie wenigstens zum Faden meines damaligen Fluges

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dienen könnten. Ich glaube, daß nichts in unserer Seele verloren geht, so

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wenig als vor Gott; gleichwol scheint es mir daß wir gewißer Gedanken nur

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einmal in
seinem
unserm
Leben fähig sind.

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Dies
Thema
liegt mir also eben so stark am Herzen als Ihr guter Name

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bey der Nachwelt. Schreiben Sie also alles auf, was Ihnen Ihr
Daemon

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sagt: aber laßen Sie sich Zeit fertig zu werden – und erlauben Sie mir

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wenigstens Ihr
Gottsched
zu seyn.

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Lücken und Mängel – ist die höchste und tiefste Erkenntnis der menschl.

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Natur, durch die wir uns zu ihrem Ideal hinauf winden müßen – Einfälle

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und Zweifel – das
summum bonum
unserer Vernunft. Die Heiden sind

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große Propheten gewesen – Ich habe mit den Briefen u philosophischen

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Schriften des
Cicero
das alte Jahr beschloßen. Eine
Oeconomie,
ein

S. 35
Sauerteig läuft durch alle Aeonen bis zu ihrer Vollendung.
Weisheit
ist
Gefühl
,

2
das
Gefühl
eines
Vaters
und eines
Kindes
. –

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Erfüllen Sie Ihr Versprechen im Sinn. Ich habe aller Autorschaft

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beynahe entsagt und will mit einer
Farce
aufhören; desto brauchbarer hoffe ich

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dadurch zu Ihren Absichten zu werden. Vielleicht wird die Losung Ihres

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Werks die lodernde Asche bey mir aufwecken und ich werde Ihnen meine

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Zweifel und Einfälle in der Stille mittheilen um selbige so gut Sie können

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zu nutzen und anzuwenden.

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Glauben Sie mir, liebster Freund, daß Ihr
Thema
glücklich gewählt ist

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und ein großes Feld immer für einen nachforschenden Geist bleibt, gesetzt daß

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man auch der Einbildungskraft daneben die Zügel ließe – aber ohne den

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Gehorsam die Analogie des Glaubens dabey zu verleugnen.

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Ich schlüße auf heute – ohn zu wißen wenn dieser Brief abgehen wird, der

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vielleicht so lang u alt als Ihr erster werden kann. Gute Nacht.
Ευ πραττειν,

15
ευ διαγειν, χαιρειν!

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 83–84.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 21–27.

ZH III 32–35, Nr. 383.