383
S. 32
Kgsberg den 13 Jänner 773.

2
letzten Brief
HKB 382
Ich habe heute eben Ihren letzten Brief vom 2
huj.
erhalten, da ich vor

3
Verdruß und Langweil den Anfang gemacht meinen alten
Platon
von neuem

4
zu lesen, aber nicht weiter als bis auf den Anfang gekommen bin, und seinen

5
Lebenslauf zu Ende gebracht.

6
Ihr freundschaftliches Andenken, liebster Herder, ist meiner Lampe Oel.

7
Empfang meiner Antwort
vgl.
HKB 382 ( III 28/5 )
Es würde mir lieb gewesen seyn, wenn Sie mir den Empfang meiner

8
Antwort bis auf das
datum
bestimt hätten. Mein gantzer Einfall durch Einschluß

9
des Päderasten zu schreiben, war eine bloße
Chicane,
um mich an den

10
Philistern
den Berlinern, u. a.
Friedrich Nicolai
und
Moses Mendelssohn
; wohl auch indem er ihnen indirekt seine Verbundenheit mit Herder anzeigt
Philistern rächen zu können.

11
Eine Beyl. zu den Denkwürdigkeiten des sel. Sokrates von einem

12
Geistlichen in Schwaben
ist bereits zu Ende des
Nov.
abgegangen um in

13
Schwäbisch Halle gedruckt zu werden. Es sollte noch im alten Jahr fertig

14
seyn; man weiß hier aber noch nicht eine lebendige Sylbe von dem Schicksal

15
wie dem ersten Theil
Hamann beschwerte sich wiederholt über die Qualität des Drucks der
Sokratischen Denkwürdigkeiten
1759 bei Hartung.
dieser kleinen Handschrift, der es vermuthl. wie dem ersten Theil gehen wird.

16
So bald ich was davon erfahren werde, und das Kind zur Welt gebracht seyn

17
wird; werde ich gleich für Ihre Neugierde sorgen – Ob selbige befriedigt

18
werden wird, steht dahin. Weil ich keinen Einfluß in die Expedition haben kann.

19
Thun Sie mir wenigstens die Gefälligkeit, so bald Sie etwas erhalten, mir ein

20
Recepisse
Empfangsbestätigung
Recepisse
darüber oder Empfangsschein
stehendes Fußes
zu übermachen.

21
in einer Wüste gelebt
vgl.
HKB 382 ( III 28/18 )
Ich habe seit 3
Wochen
Monathen selbst in einer Wüste gelebt und in

22
wie ein unreines jüdisches Weib
3 Mo 12
einer Entfernung der Welt, wie ein unreines jüdisches Weib. Verdenken Sie

23
mir also nicht, wenn mein Brief diese Empfindungen des Wiederwillens und

24
Unzufriedenheit athmet. Vielleicht ist unsere Freundschaft hierinn

25
sympatheti
scher als von irgend einer andern Seite. Der einzige Freund u. Vertraute

26
3te Hofprediger Lindner
Johann Gotthelf Lindner
ist unser jetzige 3te Hofprediger Lindner, der jetzt im Vorschlage zu
Buchholtz

27
Stelle ist. Dieser ist plötzlich den 4
huj.
gestorben.

28
Selbstgespräch eines Autors
Hamann,
Selbstgespräch eines Autors
Hoffentl. werden Sie das tolleste
Programm
v
Selbstgespräch eines

29
Leuten zu thun zu haben
im Kontext der Publikationsversuche der
Philologischen Einfälle
Autors
eher erhalten. Ich bin aber so unglückl. mit Leuten zu thun zu haben,

30
die kein Gefühl aber desto mehr Wahn besitzen und wenn ich auf Knieen

31
flehte um ein paar Zeilen: so erhalt ich doch nichts als durch Sturm und

32
Göttin Τυχη
Zufall, Schicksal
Ungewitter im ästhetischen Verstande. Die Göttin
Τυχη
wird also auch den

33
Ausgang dieser Arbeit übernehmen.

34
Ihre Winke uns ohne Unterhändler und Zeugen zu unterreden ist mein

35
eigener Wille und das erste geschah mit Fleiß, wie Sie leicht von selbst

36
ex posterioribus
aus dem späteren
erachten können und einsehen werden
ex posterioribus.

S. 33
mein Prospectum
vgl.
Hamann,
Selbstgespräch eines Autors
, S. 72: „Ich habe den Schulton der europäischen Mandarinen in einer einzigen Stelle zu übertreiben versucht, die ich lieber aus meiner Urkunde auskratzen will, um sie gegenwärtigem Programm oder Prospectus einzuverleiben: weil Definitionen in Pe-kim Gesetze sind und zum Monopol des Monarchen gehören.“
Ich hoffe also daß Sie für mein
Prospectum
weder
erschrecken
, noch

2
jener Philosoph …
Der Stoiker Chrysippos von Soloi starb darüber vor Lachen, nach
Diog. Laert.
, VII,185.
erröthen
noch wie jener Philosoph über den Geschmack seines Esels an Feigen

3
für Lachen bersten werden
. Ich besorge aber zu meiner – – daß der Scherz

4
wie die Vögel …
Plin.
nat.
, XXXV,35,65f. berichtet von einem Wettstreit zwischen den Malern Parrhasius und Zeuxis, in welchem die von Zeuxis gemalten Weintrauben so echt erschienen, dass die Vögel sie zu picken versuchten.
so naif gerathen wird, daß die Kunstrichter wie die Vögel sich an den

5
zu hoch ist
Anspielung auf
Fontaine,
Fabeln
, III,11 „Le renard et les raisins“
gemalten Weintrauben vergaffen werden, falls er ihnen nicht zu
hoch
ist, das

6
heißt
bitter
, in der Sprache der Füchse. Auch Ihre Erklärung eines

7
Biedermanns
und
Freunds
erwarte hierüber, folglich mehr als ein
Recepisse

8
exponire Sie also nicht so viel als mich selbst
Herder, dem Hamann das Manuskript der
Philologischen Einfälle
vorenthielt, war über die befürchtete Kritik seiner
Preisschrift
ernstlich besorgt, vgl.
HKB 385 ( III 37/20 )
; möglicherweise war das einer der Gründe Hamanns, seine Bemühungen um die Drucklegung aufzugeben; vgl auch die selbstkritische Bemerkung in einem späteren Brief an Hartknoch,
HKB 417 ( III 116/19 )
.
Ich
exponi
re Sie also nicht so viel als mich selbst, und Sie sind wenigstens

9
so gut gedeckt, als ich für meine eigene Haut sorge. Weil Sie ein

10
Pythagoräer
Schweigender, vgl.
HKB 356 ( II 434/9 )
Pythagoräer
geworden sind:
so spielen
Sie Ihre Rolle eines olympischen

11
Zuschauers,
bis Sie es Ihrer Mühe werth finden.

12
Fool of Quality
Brooke,
The Fool of quality
Außer dem
Fool of Quality by Mr. Brooke
von dem ich nur noch 2 Theile

13
Landbibliothek
nicht ermittelt
erst im Original gelesen, den Sie aber in
den
der
Abendstunden
Landbibliothek

14
zerfetzt u verstümmelt finden können, hat mich kein Buch
so
erquickt als Ihr

15
Thunmann
, den ich vorigen Sonntag verschlungen und mir sogl.

16
angeschaft. Ich versteh nichts von dem Fache; aber der
Geist des Mannes

17
non possum dicere quare?
dt. ich kann nicht sagen, warum?
entzückt so wie mich Schlötzers Styl und Ton immer wiederstanden hat,
Büsching hat durch die Herausgabe dieses kleinen

19
Phaenomenon,
wie es Kant nennt, in meinen Augen seine Sünde einer

20
Dedications Schrift zu den historicis selectis de main de maitre
eine Zueignungsschrift von
Anton Friedrich Büsching
an
Friedrich II.
und dessen historischen Schriften; nicht ermittelt
Dedications
Schrift zu den
historicis selectis de main de maitre

21
ausgesöhnt.

22
Hemsterhuysens Schriften
Frans Hemsterhuis
, vgl.
HKB 382 ( III 31/22 )
Nach
Hemsterhuysen
s Schriften bin immer lüstern gewesen ohne bisher

23
davon etwas gesehen zu haben.
Diderot
s moralische Versuche haben mir wie

24
Elendsbraten
Hirsch- vielleicht auch Elchbraten
ein alt Stück Rindfleisch geschmeckt oder wie ein zäher Elendsbraten, für den

25
weder meine Zähne noch mein Magen gemacht sind.

26
Klotzens Correspondentz …
Hagen (Hg.),
Briefe an Klotz
; der ‚lustige Abend‘ bezieht sich auf die Feindschaft Hamanns und Herders gegen Klotz und dessen Polemiken in der
Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften.
Klotzens Correspondentz hat mir einen lustigen Abend gemacht. Der ehrl.

27
Tiefensee und Lippert sind die eintzigen, die mir gefallen haben. Unser

28
Landsmann Harder ist ein rechter Preuße, der aber nicht Verstand gnug besitzt um

29
falsch zu seyn.

30
Riga verlegten Schrift über den Ursprung der Sprache
die anonym in Riga bei Hartknoch erschienene Schrift
Versuch einer Erklärung des Ursprunges der Sprache
, welche Hamann in den
Zwo Recensionen nebst einer Beylage, betreffend den Ursprung der Sprache
neben Herders
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
rezensierte; Herder antwortete nicht auf diesen Punkt.
Wißen Sie nicht den wahren Verf. von der
bey
in Riga verlegten Schrift

31
Schlegel
nicht ermittelt
über den
Ursprung der Sprache
.
Schlegel
hat sich hier ausgelaßen ein

32
Concurrent
von Ihnen gewesen zu seyn. Ihr Verleger hat mir zugeschworen,

33
daß er es nicht wäre – Er ist aber auch ein würdiger Landsmann des ehrlichen

34
Harders. Wenn Sie etwas
positiv
es über diesen kleinen Umstand wißen: so

35
bitte mir solches mitzutheilen.

36
Bützowsche neue Schrift
Tetens,
Ueber der Ursprung der Sprachen und der Schrift
, erschienen in Bützow und Wismar
Göttingschen Zeitungen
Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen
, 140. St. vom 21.11.1772, S. 1191–1193
Die Bützowsche neue Schrift kenne blos aus den Göttingschen Zeitungen

37
u scheint dasjenige gar nicht zu seyn, was ich mir davon versprach.

S. 34
anti-newtonischen Geschmack in der Optik
HKB 382 ( III 31/26 )
Ich habe über Ihren
anti
-newtonischen Geschmack in der Optik herzlich

2
gelacht; weil er mit meinen Grillen eine Ähnlichkeit hat. Ich bin immer der

3
kanonische System von Thorn
das Weltbild von Nikolaus Kopernikus, der in
Thorn
geboren wurde
Meynung gewesen daß das gantze kanonische System von Thorn auf optische

4
illusiones
hauptsächlich beruht und denke noch eine
revolution
zu erleben.

5
Systeme du Monde
Lambert,
Système du Monde
Ich erwartete etwas von einem
Systeme du Monde;
und es war ein bloßer

6
Auszug des
Lambert,
der kühn in die Wolken baut und den Grund von Fels

7
abergläubisch voraussetzt.

8
Michaelis mosaisches Recht
Michaelis,
Mosaisches Recht
Des Michaelis mosaisches Recht ist ein sehr unterhaltendes und nützliches

9
Werk. Den 3ten Theil davon hab ich noch nicht ansehen können und möchte

10
ihn auch kaum lesen, als bis ich ihn zum vierten werde können binden laßen.

11
Seine Bibliothek ist das einzige
Journal
was ich selbst halte und mit rechter

12
Wollust lese oder vielmehr durchlaufe und beylege. Wißen Sie daß man von

13
Rabelais
Montaigne
in Frankr. eine große Handschrift entdeckt hat? und

14
daß Haller seine Briefe herausgeben wird – in allen Sprachen
des

15
cultivirten Europa – Um heimzukommen auf unsere Platonische Legenden:

16
γην πρεσβυτατην…
dt. die Erde sei die älteste der Götter im Himmel; Stelle bei Platon nicht ermittelt.
so habe heute noch mit einem merklichen Nutzen gelesen
γην πρεσβυτατην

17
ειναι των εν τω ουρανω Θεων.
Ist dies nicht ziemlich dem mosaischen

18
Tagewerk
ähnl.
Origenes
;
war ein kleiner Versuch, den ich nach den Sokr. Denkw.

19
schreiben wollte. Ich weiß aber nichts mehr davon. Der Muth davon zu

20
schreiben ist mir gantz entfallen – aber die Idee liegt mir noch immer im Gemüthe.

21
Ich endigte den Thunmann mit dem Gedanken; daß sich noch unendl. vieles

22
o servum pecus
Hor.
epist.
, an Maecenas, I 19,19: „O imitatores, servum pecus, ut mihi saepe / bilem, saepe iocum vestri movere tumultus!“ – dt. „O ihr Nachahmer, ihr Sklavenherde! Wie oft hat euer tolles Treiben mir die Galle, wie oft auch Lachen schon erregt.“
entziffern ließe, wenn wir
o servum pecus
wären, die mit durchlöcherten

23
Genesin
1 Mo 1
Rinnen für lieb nähmen. In Riga habe einen halben Bogen über die
Genesin

24
aufgesetzt die ich immer bedaure verloren zu haben, so wenig auch daran

25
gewesen seyn mag; weil sie wenigstens zum Faden meines damaligen Fluges

26
dienen könnten. Ich glaube, daß nichts in unserer Seele verloren geht, so

27
wenig als vor Gott; gleichwol scheint es mir daß wir gewißer Gedanken nur

28
einmal in
seinem
unserm
Leben fähig sind.

29
Dies
Thema
liegt mir also eben so stark am Herzen als Ihr guter Name

30
bey der Nachwelt. Schreiben Sie also alles auf, was Ihnen Ihr
Daemon

31
sagt: aber laßen Sie sich Zeit fertig zu werden – und erlauben Sie mir

32
wenigstens Ihr
Gottsched
zu seyn.

33
Lücken und Mängel – ist die höchste und tiefste Erkenntnis der menschl.

34
Einfälle und Zweifel
nach
Hamann,
Philologische Einfälle
Natur, durch die wir uns zu ihrem Ideal hinauf winden müßen – Einfälle

35
summum bonum
das zentrale Thema in
Cic.
de fin.
und Zweifel – das
summum bonum
unserer Vernunft. Die Heiden sind

36
mit den Briefen […] Cicero
vgl. das Motto von
Hamann,
Selbstgespräch eines Autors
, N III,67 aus
Cic.
fam.
große Propheten gewesen – Ich habe mit den Briefen u philosophischen

37
Schriften des
Cicero
das alte Jahr beschloßen. Eine
Oeconomie,
ein

S. 35
Sauerteig läuft durch alle Aeonen bis zu ihrer Vollendung.
Weisheit
ist
Gefühl
,

2
das
Gefühl
eines
Vaters
und eines
Kindes
. –

3
Erfüllen Sie Ihr Versprechen im Sinn. Ich habe aller Autorschaft

4
beynahe entsagt und will mit einer
Farce
aufhören; desto brauchbarer hoffe ich

5
dadurch zu Ihren Absichten zu werden. Vielleicht wird die Losung Ihres

6
Werks die lodernde Asche bey mir aufwecken und ich werde Ihnen meine

7
Zweifel und Einfälle in der Stille mittheilen um selbige so gut Sie können

8
zu nutzen und anzuwenden.

9
Glauben Sie mir, liebster Freund, daß Ihr
Thema
glücklich gewählt ist

10
und ein großes Feld immer für einen nachforschenden Geist bleibt, gesetzt daß

11
man auch der Einbildungskraft daneben die Zügel ließe – aber ohne den

12
Gehorsam die Analogie des Glaubens dabey zu verleugnen.

13
Ich schlüße auf heute – ohn zu wißen wenn dieser Brief abgehen wird, der

14
Ευ πραττειν, ευ διαγειν, χαιρειν!
gr. Grußformeln, handle gut, lebe gut, freue dich!
vielleicht so lang u alt als Ihr erster werden kann. Gute Nacht.
Ευ πραττειν,

15
ευ διαγειν, χαιρειν!

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 83–84.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 21–27.

ZH III 32–35, Nr. 383.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
33/10
so spielen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
so spielen
33/11
Zuschauers,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Zuschauers
33/13
den
der
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
der
33/14
so
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
so
34/18
ähnl.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ähnl.?
34/22
o servum pecus
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
servum pecus