417
115/8
Kgsberg den 24
Oct.
74.
9
Mein lieber bester Hartknoch,
10
Ich habe gestern den halben Tag in Gedanken an Sie geschrieben, weil hier
11
die Nachricht über Helmstädt angekommen, daß unser Freund Herder sich mit
12
seinem LandesHErrn überworfen hätte und gegenwärtig
brodtlos
und
13
verlaßen
säße, sich angeboten hätte aber vergeblich, in seinem Wandel und
14
Kleidung sich durch so viel
Soloecismen
auszeichnete als in seinem Styl – Diese
15
Nachricht von der mir die Hälfte nicht ganz unwahrscheinlich vorkam, machte
16
mich so unruhig, daß ich zu Ihnen mein Zuflucht nehmen wollte um über sein
17
Schicksal einige Auskunfft durch Sie zu erhalten. Heute zu Mittag hat mir
18
Ihr lieber Schwager
Laval,
dem ich recht sehr gut wieder zu werden anfange,
19
mit einem kleinen
billet doux
und den so sehnlich gewünschten
Corporibus
20
delicti
erfreut, mit denen ich ungeachtet eines sauren Posttages auf dem
21
Bureau
diesen Augenblick beym
Zapfenstreich
zu Ende gekommen bin.
22
Ich sehe daß der Verf. der Provinzialblätter ein Prediger ist, der das
23
Mäntelchen auf beyden Schultern zu tragen, und Luther mit Spalding –. Ich will
24
aber nicht sagen: wie reimt sich Christus und Belial? Aber wenn dies Politick
25
seyn soll, ist sie nicht ein wenig zu
grob
und zu
unehrlich
– oder zu
26
auffallend
mich eines Modeworts zu bedienen.
27
Um das Gold seiner Autorschaft von den Schlacken zu reinigen, dürfte
28
freylich eine kleine Feuerprobe unumgänglich seyn. Ich hoffe und wünsche,
29
daß sie kurz und leicht und wohlthätig für ihn seyn wird. Der gewaltige Rauch
30
scheint doch immer ein wirkliches Feuer zu verrathen, das in seinem Busen
31
brennt und ein solcher
lebendige Funke
kann es mit dem grösten Walde
32
aufnehmen. Gute Nacht! mein lieber Hartknoch. Wir haben beyde uns heute
33
so müde gearbeitet, und Sie haben einen Grund mehr schlafen zu gehen.
34
Morgen mehr. Wer weiß, was uns träumen wird?
S. 116
Den 25
Oct.
2
Ich bin diesen Morgen nach der Stadt gelaufen, um die Nachricht von
3
Herder selbst zu lesen. Der Brief ist nicht aus Helmstädt, sondern
4
Brandenburg
; und der ganze
passus
in meinen Augen von keiner
Authenticität
5
sondern bloß Geschwätz. Was unsern Freund bewogen an Spalding zu schreiben,
6
möchte ich eben so gern wißen als lesen, was er geschrieben.
7
In einigen Provinzialblättern scheint der Verf. seinen Styl ziemlich
8
vortheilhafft verleugnet zu haben; aber gegen das Ende wird er gar zu kenntlich.
9
Die Wahrheit zu sagen, halt ich es
mit
ihm gegen seine Gegner, aber
wider
10
ihn mit seinen Freunden. Der ganze Knoten beruht darauf, beyde Parteyen
11
unterscheiden zu wißen.
12
Ich komme von meinem
Bureau
erschöpft mehr vor langer Weile als Arbeit
13
zu Hause und finde den Meß-
Catalog
vor mir, den ich durchgelaufen – aber
14
wenig für meine künftige Neugierde gefunden. Durch meine veränderte äußerl.
15
Lage scheint mein Beruf zur Autorschaft, der ohnehin wenig immer zu
16
bedeuten gehabt, fast gänzlich erstickt zu werden. Wie ich eben so voll Planen
17
als Herder war, wurde ich auf einmal in meiner tollen Laufbahn
18
unterbrochen. Er hat mich wieder aus meinem Schlummer halb ermuntert. Sie
19
wißen, was ich für rasende Sprünge über se. Preisschrifft gemacht. Bey seiner
20
ältesten Urkunde war den Augenblick fertig – zu gutem Glück schläft alles,
21
und ich habe nicht Lust die kleine Maschiene mit einem Finger anzurühren,
22
weil mich die Zeit abgekühlt hat und der Augenblick scheint verfloßen zu seyn.
23
Was soll ich im deutschen und französischen ankündigen, da ich gar keine
24
Möglichkeit absehen kann mein Wort gutzumachen. – Es ist wahr, einige
25
meiner
Saamenkörner
scheinen sich durch des Herders Fleiß und Feder in
26
Blumen
und
Blüthen
verwandelt zu haben; ich wünschte aber lieber
27
Früchte
und
reife
. Und zu allen diesen Wünschen gehört
Zeit
und
Glück
,
28
wie Salomon sagt, und beydes hängt nicht von uns ab.
29
Bey meiner gegenwärtigen Schwermuth und Erwartung der Dinge hab
30
ich keinen Muth und Anlaß an Herder zu schreiben. Bitte mir aber dafür aus
31
mir so bald Sie Nachricht von ihm erhalten,
mir
daran Theil nehmen zu
32
laßen. Mein Briefwechsel soll Ihnen selbst keinen Zwang auflegen, als bloß
33
in Ansehung dieses
einzigen Punctes
, der mir am Herzen liegt. Ihr
34
gegenwärtiges Frey Jahr und Ihre Genauigkeit in Geschäften sind mir zu
35
ehrwürdig und bekannt, als daß ich Sie nach dem Maasstabe, womit ich Hintz
36
meße
Sie
beurtheilen sollte. An die Mitausche Aussichten lohnt es nicht zu
S. 117
denken. Wenn dieses Project hätte durchgetrieben werden können; so möchte
2
fast darüber wetten, daß die Denkungsart sr. jetzigen Gegner sich eben so sehr
3
geändert haben würde, als des zeitigen Sachwalters seine, und daß sich letzterer
4
am meisten geirrt haben würde. Es ist für kein menschl. Auge mögl. den Haß
5
der Freunde und die Liebe der Feinde zu erkennen – und dies sind doch
6
gleichwol die stärksten Elemente unsers Schicksals –
7
Nun mein lieber Hartknoch! ich glaube nunmehr mehr geschrieben zu haben
8
als Sie im Stande seyn werden zu lesen und zu verstehen; weil ich nur die
9
äußersten Ende
n
meiner innigsten Gedanken und Gesinnungen, die mich wie
10
ein dicker Nebel unterdrücken habe berühren können – und mich selbst ein
11
wenig zu erleichtern gesucht habe. Ich umarme Sie auf das herzlichste für
12
schleunige Befriedigung meiner Wünsche, da ich es am wenigsten vermuthen
13
war und es am nöthigsten hatte. Empfehlen Sie mich Ihrer besten Hälfte,
14
und wirthschafften
s
Sie gut mit Ihrer Liebe und Zärtlichkeit, damit etwas
15
übrig bleibt, wenn die Jahre kommen, wo man weder sich noch andern mehr
16
gefällt. Meine Gänse- Schwan- und Rabenfedern sind alle stumpf und ich
17
habe gegenwärtiges mit meiner Trappen-Feder geschrieben – der erste Versuch
18
den ich in meinem Leben gemacht habe. Vielleicht kann auch dieser äußere
19
Umstand etwas zur Entschuldigung des Innhalts beytragen. Leben Sie wohl
20
und glücklich – biß wie lange? Ohne neuen Anlaß werde im alten Jahr kaum
21
mehr schreiben können. Mein Paarchen schläft schon; ich danke im Namen der
22
Mutter und warte nächstens der guten Dinge das Dritte. Amen!
23
Adresse mit Mundlackrest:
24
An / meinen Freund Hartknoch /
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 5.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 99–103.
ZH III 115–117, Nr. 417.