163
424/29
Königsberg, den
12.
Octobr.
1759.
30
Seine Strafe … Gottes Lieb in Ewigkeit
8. Strophe aus
P. Gerhardts
„Sollt ich meinem Gott nicht singen“
Seine Strafe, Seine Schläge, ob sie mir gleich bitter seynd, dennoch, wenn
31
ichs recht erwäge, sind es Zeichen, daß mein
Freund
, den ich
liebe
, mein
32
gedenke, und mich von der schnöden Welt, die uns
hart gefangen
hält, durch
33
das Kreutze zu ihm lenke. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in
34
Ewigkeit. Ich bin erst gestern mit meinem Vater zum Abendmal gewesen,
S. 425
ohngeachtet unser Vorsatz war vor acht Tagen zu gehen. Heute erhielt Ihren
2
Brief
nicht überliefert
Brief, und habe auch Ihre liebe Mama besucht, die ich aber nicht lange
3
Bräutigam
George Steinkopf
aufhalten wollte, weil sich die Jungfer Braut putzte mit ihrem Herrn Bräutigam
4
Besuche abzulegen. Ich habe mich nebst meinem Alten herzlich über die
5
Nachricht gefreut, und wünsche Ihnen gleichfalls Glück dazu. Vielleicht ist dies
6
Räthin
Die Mutter Lindners
eine Zubereitung für Ihren alten Vorsatz die Frau Consistorial Rähtin nach
7
Riga zu locken oder nach Mitau; wie Gott will. Was macht Ihr Herr
8
Bruder, unser Doctor. Ich habe ihm neulich
meines Wißens
einen ganz
9
galant
en Brief geschrieben, um ihm zu zeigen, daß seine Feder an mich nicht
10
muckern
stocken
muckern
darf. Soll ich nach der Strenge urtheilen; so hat er kein gut
11
Gewißen; nach der Liebe, keine Zeit noch Lust. Das letzte geht bey der
12
Freundschaft nicht an. Gute Freunde zu besuchen, halbe Stunden lang, hat man
13
in einem Vierteljahr immer Anfechtung und läst lieber einen Patienten
14
sitzen
zu laßen
, ehe man derselben wiederstehen solle.
15
Meine Gesundheit ist erträglich, und ich wundere mich selbst darüber, da
16
ich fast gar nicht ausgehe, mit Leidenschaften, Grillen und tollen Einfällen
17
belagert bin, ein großer Freßer, für züchtigen Ohren zu reden, und täglich
18
Wein, Waßer, wieder Wein trinke, und ein Bierkännchen zum Schlafküßen
19
mache.
20
Magister
Weymann
hat hier
de mundo non optimo disputi
rt. Ich habe
21
bloß hineingeguckt in seine
Dissertation,
und die Lust vergieng mir zu lesen;
22
ich gieng ins
Auditorium
und die Lust vergieng mir zu hören. Bleib zu Hause,
23
dachte ich, damit Du dich nicht ärgern darfst und sich andere an Dich ärgern.
24
Immanuel Kant
; stattdessen respondierte Johann Christian Granow.
Herr Mag. Kant ist zum
opponi
ren ersucht worden hat es aber verbeten; und
25
dafür eine Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über den
Optimismus
26
drucken laßen, die ich für
s
Sie aufhebe. Er hat mir auch ein
Exemplar
27
davon zugeschickt. Seine
Gründe
verstehe ich nicht; seine
Einfälle
aber sind
28
Sprichwort: canis festinans parit caecos catulos / eiliger Hund gebiert blinde Hündchen
blinde Jungen, die eine eilfertige Hündinn geworfen. Wenn es der Mühe
29
lohnte ihn zu wiederlegen; so hätte ich mir wohl die Mühe geben mögen, ihn
30
Gantze
Kant,
Betrachtungen über den Optimismus
( AA II S. 35): „Unermeßliche Räume und Ewigkeiten werden wohl nur vor dem Auge des Allwissenden die Reichthümer der Schöpfung in ihrem ganzen Umfange eröffnen, ich aber aus dem Gesichtspunkte, worin ich mich befinde, bewaffnet durch die Einsicht, die meinem schwachen Verstande verliehen ist, werde um mich schauen, so weit ich kann, und immer mehr einsehen lernen: daß das Ganze das Beste sei, und alles um des Ganzen willen gut sei.“ Vgl.
HKB 170 ( I 452/32 ) zu verstehen. Er beruft sich auf das
Gantze
, um von der Welt zu urtheilen.
31
Stückwerk
1 Kor 13,9
Dazu gehört aber ein Wißen, das kein
Stückwerk
mehr ist. Vom Gantzen also
32
vom Unbekannten
vgl. die Umkehrung in
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 12, N II S. 61, ED S. 15.
auf die Fragmente zu schließen, ist eben so als vom Unbekannten auf das
33
Bekannte. Ein Philosoph, der mir also befiehlt auf das
Ganze
zu sehen, thut
34
eine eben so schwere Forderung an mich, als ein anderer, der mich befiehlt auf
35
das
Herz
zu sehen, mit dem er schreibt. Das ganze ist mir eben verborgen, wie
36
mir Dein Herz ist. Meynst du denn, daß ich ein Gott bin? Du machst mich
37
dazu durch Deine
Hypothese,
oder hälst dich selbst dafür, daß du in Dein
S. 426
und Mein Herz sehen kannst. Ob der Stoltz nicht öfters ein Kind des
2
Leichtsinns ist, gehört für die Kenner des Menschlichen Herzens; um wie viel
3
Grad aber ein leichtsinniger Stoltz für einen steifen beßer oder schlechter ist,
4
damit mag sich ein Seelmeßer abgeben. Die Unwißenheit oder Flüchtigkeit
5
im Denken macht eigentlich stoltze Geister; je mehr man aber darinn weiter
6
kommt, desto demüthiger wird man, nicht im Styl, sondern am inwendigen
7
den kein Aug …
1 Kor 2,9
Menschen, den kein Aug sieht und kein Ohr hört, und keine Elle ausmißet.
8
Der Anfang im Christenthum macht uns daher reich an guten Werken, daß
9
wir unser Bibellesen, unsere Eingezogenheit, unsere Nutzbarkeit dem lieben Gott
10
anrechnen, und unsern Nächsten verachten, nicht mit der Zunge, wie ein Spötter
11
und Ismaelit, der aus dem Heiligthum unserer Hände heraus muß, sondern,
12
wie Sie selbst sagen, in der Tiefe unseres Herzens, die Gott allein ergründet.
13
Sie erhalten ein Pack, worunter einige Sachen an meinen Bruder sind,
14
mit dem Sie sich wegen der Fracht vergleichen werden. Ich habe die Werke
15
des
Maillard
beygelegt, weil ich glaubte, daß sie in Ihre Bibliothek gehören.
16
Sie sind von mir ganz flüchtig durchblättert worden. Ein lateinisch Gedicht
17
hat mir darinn gefallen, das dem
Cassius,
dem Mörder des
Caesars
18
zugeschrieben wird und
Orpheus
heist.
J’aime mes amis,
schreibt
Rollin
an ihn
19
de tout le coeur et je ne compte d’amitié que celle qui sera eternelle.
20
Wieland,
Erinnerungen an eine Freundin
(1754; 1758 war eine Neuauflage in Berlin/Leipzig erschienen)
J’espere que la notre sera de ce gout.
Ich habe die Erinnerungen an eine
21
Freundinn als ein sehr schätzbar Gedicht beygelegt, auch den Brief des
22
Rousseau
an
Voltaire,
weil ich meynte, daß wenn Sie ihn hätten, Sie nicht
23
ermangelt haben würden es mir zu melden. Im Fall, so ist es eine
24
Gedichten
nicht ermittelt
Kleinigkeit, die Sie bald loß werden können. Die Lisbonner nebst 2 Gedichten auf
25
Gottsched, die ich nicht einmal gelesen, habe bloß beygelegt, weil Sie mehr
26
Scartecken
unnützes, wertloses Schriftstück (
Grimm DWB
s.v. Scharteke)
Scartecken von der Art erhalten werden. Die Idee in der Insel der Pucklichten
27
ist in meinen Augen sehr philosophisch und noch leidlich genung eingekleidet.
28
Die Predigten des Baumgartens über die Lüsternheit sich selbst zu helfen,
29
habe vorher selbst gelesen, ehe sie Ihnen beygelegt worden. Sie werden sich
30
14 Tage zu seinen Anmerkungen Zeit nehmen. Er ist ein philosophischer
31
Gesetzprediger des Evangelii. Wer denken will und sich auf die Gabe zu denken
32
beruft, muß so denken wie er, und sich doch noch immer
Schwäche
und
33
Ungewißheit
bewußt seyn. Wenn man wie die Kinder hinten nachdenken und
34
andern nachplappern will und sich doch
für
auf das
Forum
der Vernunft
35
gegeckt
verhöhnt
beruft, der muß gegeckt und nicht wiederlegt werden, muß mit der Schule der
36
Roße und Mäuler für lieb nehmen, muß zum Narren gemacht werden, und
37
sich schämen lernen, wenn er nicht denken lernen will.
S. 427
Die Stelle des
Cicero
hat wo ich nicht irre
Toland
in ihr Licht gesetzt. Sie
2
werden sie in
Olivets Eclog
en dieses Autors finden und steht wo ich nicht irre
3
Cic.
nat.
II, 93: „Soll ich mich nun hier nicht wundern, daß es jemanden gibt, der sich einredet, eine Art von festen und unteilbaren Körpern bewege sich infolge ihrer Schwerkraft und unsre so wunderbar ausgestattete und herrliche Welt entstehe aus dem zufälligen Zusammentreffen dieser Körper? Wer glaubt, daß das geschehen konnte, von dem Mann kann ich nicht begreifen, warum er sich nicht auch einbildet, wenn man die Formen der einundzwanzig Buchstaben, aus Gold oder sonst einem Material, irgendwo zusammenwürfe, könnten sich aus ihnen, wenn man sie auf den Erdboden schüttete, die ‚Annalen‘ des Ennius so bilden, daß man sie der Reihe nach lesen könnte; dabei dürfte der blinde Zufall wahrscheinlich auch nicht bei einem einzigen Vers so viel fertigbringen können! Wie können aber diese Epikureer so zuversichtlich behaupten …“ Das Motiv der zufällig ausgeschütteten Buchstaben spielte in der zeitgenössichen Diskussion über das ‚blinde Ungefähr‘, also das Fehlen einer göttl. Intention in der Entwicklung der Welt, eine Rolle; bspw. wird der Zufall bei
Diderot,
Pensées sur l’interpretation de la nature
affirmiert, wogegen mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung in
Zimmermann,
Das Leben des Herrn von Haller
Diderots These widerlegt werden soll.
in seinem Buch
de natura Deorum.
Mein Bruder wird
Olivet
haben, wo Sie
4
selbige auf den ersten Blättern finden werden. Es steht eine franzosische
5
Anmerkung
Olivet,
Ciceronis Eclogæ
, S. 7: „On veut que ce passage de Ciceron ait servi à faire inventer l’art de l’Imprimerie.“
Anmerkung darunter. Ich weiß nicht, daß man von
Cicero
Blindheit redet,
6
warum hat man
Cicero
so lange gelesen, und dies Witzspiel, die Beziehung
7
seiner Worte mit der Buchdruckerkunst, nicht eher bemerkt.
8
Die
petite lettre sur des grands Philosophes,
worinn von dem Streit des
9
Michaels geschrieben steht, ist die Epistel Juda
coll:
2 Petri.
10
Sie lesen die Bibel, Forstmann und Reichel mit Geschmack –
Wie
liesest
11
Du?
ist eine Frage des Gewißens, die man niemanden thun darf, und worauf
12
man niemand zu antworten nöthig hat. Ich muß mir gefallen laßen, daß Sie
13
meine Briefe lesen, wie Sie wollen. Ehe ich aber ein
Contro
versienschreiber
14
werde, will ich lieber stumm seyn. Wenn der Titel meines vorigen Briefes
15
ruhmräthig
gewesen; so ist es eben derselbe, den Sie mir Selbst in Ihrem
16
letzten Briefe am Ende gaben. Da Sie mich: alter wahrer Freund! nannten,
17
habe ich dies Wort aufgeschnappt wie die Gesandten eines geschlagenen
18
Königes in der Schrift aus dem Munde seines Ueberwinders.
19
Sie schelten andere, die mit Gnade prangen, und
rühmen sich selbst
der
20
Barmherzigkeit, die Ihnen wiederfahren. Sie sind bey aller Armuth des
21
Geistes, auf einmal so reich, so satt, so herrschend worden wie die Korinther
22
1
Cor. IV.
8. Wollte Gott, sagte Paulus, und dachte eine weinende Ironie
23
dabey.
24
Sie üben sich in Gottes Wort, und sind ein Schriftgelehrter ohne
25
Schrifttoll
zu seyn. Sie beweisen
ihren
Glauben durch
Tugend
, und in ihrer Tugend
26
Bescheidenheit
, und
Mäßigkeit
, und
brüderliche
Liebe und
allgemeine
27
Hungrigen
Lk 1,53
Liebe. So bald können die Armen reich werden, und die Hungrigen mit
28
Klippen
Fallen
Gütern überfüllt. Hüten Sie sich für die Klippen, für die Sie mich so
29
treuherzig gewarnt. Je heiliger Sie werden, desto beißiger.
30
Es fehlt nicht viel, so fallen Sie in Offenbarungen. Sie sind nicht Herr
31
mehr von Ihrem Geiste, ungeachtet Paulus den Propheten dies beylegt. Sie
32
wißen nicht,
warum
Sie schreiben oder
wozu?
aber Sie
sollen
es schreiben?
33
und was denn? daß ich in Armen Schulen auftreten soll. Sie kommen mit
34
diesem Einfall zu spät, aufrichtig zu sagen. Meine Gründe Ihnen darüber zu
35
vmtl.
Johann Reichard Pittius
sagen, lohnt nicht der Mühe. In der AbschiedsPredigt, die mir ein Knecht des
36
Herren in Engl. halten muste, hieß es: Iß dein Brot mit Freuden und trink
37
Deinen Wein mit gutem Muth ppp.
S. 428
Mein Vater giebt mir alles reichlich, was zur Leibes Nahrung und
2
Nothdurft gehört; und hat mich nicht her geruffen, mich in die Armen Schulen zu
3
verpflanzen, sondern zu seiner Handreichung. Und ich wiederhole das Wort:
4
Ich muß in dem seyn, das meines Vaters ist. Gott wird seine armen Schulen
5
schon mit tüchtigen Leuten besetzen; und die unwürdigsten sind die besten für
6
Fürst
Machiavelli,
Il Principe
ihn. Wie der Fürst dieser Welt seine Ämter nach Gunst und nicht nach
7
nicht nach Gaben …
2 Tim 1,9
Verdienst besetzt: so ist der Beruf Gottes in seinem Reiche auch, nicht nach Gaben,
8
nicht nach Werken, sondern heilig, wunderbar und
verkehrt
. Wenn ich auch
9
alle Stunden meines Tages zu
Bißen
machte, und sie unter den Armen
10
Womit der Römer Scaevola während des Kriegs gegen die Etrusker seine Vaterlandstreue unter Beweis stellt –
Livius
2,12;
Machiavelli
erwähnt diese Anekdote in
Vom Staate oder Betrachtungen über die ersten zehn Bücher des Tit. Livius
, im 24. Kapitel mit dem Titel: „Wohlgeordnete Republiken setzen Belohnungen und Strafen für ihre Bürger fest, und gleichen nie die einen durch die andern aus.“
Schulen austheilen wollte, und ließe nicht nur wie
Scaevola
meine Hand, die
11
hätte der Liebe nicht
1 Kor 13,1–3
lauter Fehlstiche thut, sondern meinen ganzen Leib brennen, und hätte der
12
Liebe nicht, so wäre mirs nichts nütze. Wer frey ist und seyn kann, soll nicht
13
ein Knecht werden; und wem Gott ein Erbtheil unter den Häuptern seines
14
Volks und Eigenthums zugedacht, soll nicht ein Gibeoniter aus Demuth
15
werden. David verließ nicht seinen Thron bey seinem Thürhüter Dienst im
16
Disteln und Dornen
1 Mo 3,18
Tempel. Daß mich Gott in ein
Feld
getrieben hat, das
Disteln
und
Dornen
17
trägt, erkenne ich mit Dank und Demuth.
18
Ihre Anmerkung ist sehr richtig, daß der Leichtsinn uns nicht erlaubt stoltz
19
zu seyn; er macht uns aber desto
eitler
. Und die Eitelkeit ist ein Affe des
20
Stoltzes, eine lächerliche Copie eines schlechten Originals.
21
Ein Herz ohne Leidenschaften, ohne Affeckt ist ein Kopf ohne Begriffe, ohne
22
Mark. Ob das Christenthum solche Herzen und Köpfe verlangt, zweifele ich
23
sehr. Wie Sie beten können: Ich bin blind, lehre mich o Gott Deine Rechte
24
und doch dabey so klare Augen haben Licht und Finsternis in mir auf ein
25
Haar zu unterscheiden, was der Geist und das Fleisch in Ihnen so wohl als
26
mir thut, begreife ich nicht. Treiben Sie die Verleugnung ihrer Vernunft
27
und Phantasie nicht zu weit. Vernunft und Phantasie sind Gaben Gottes,
28
die man nicht verwerfen muß. Das Saltz ist eine gute Sache es muß aber
29
nicht tum seyn; sonst ist es Saltz und kein Saltz. Ein ungesaltzen Saltz und
30
christlicher
Sokrates
vgl.
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 16, 34, 38, N II S. 64/4, 74/20, 77/12, ED S. 23, 51, 56
ein christlicher Sokrates gehören in eine Klaße. Sie fällen über die
31
Schulfüchserey ein Urtheil, daß sie nicht gut sey und bitten gleich darauf um eine
32
Erklärung der Schulfüchserey. Wie kann man sagen, daß eine Sache gut und
33
nicht gut ist, die man nicht versteht?
34
Der Sokrates, deßen Denkwürdigkeiten ich geschrieben, war der gröste
35
Idiot
Privatmann, Laie, Pfuscher
Idiot in seiner
Theorie
und der gröste Sophist in seiner
Praxi.
Lesen Sie nur
36
das Gespräch mit Alcibiades. Verstehen Sie eben den Sokrates, oder
37
vielleicht einen andern, der ein Prahlhans der weisen und klugen Leute ist, und
S. 429
die Maske starker Geister. Mein Sokrates bleibt als ein
Heyde
groß, und
2
nachahmenswürdig. Das Christenthum würde seinen Glanz verdunkeln. Er
3
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 43, N II S. 80/33, ED S. 62
starb als ein Verführer der Jugend. Für ein solch
Gerücht
und
Gnadenlohn
4
wird uns der Himmel wohl behüten. Er lief weder in Armen Schulen noch
5
Präbenden
Pfründe, bzw. Unterhalt eines Leibeigenen, von mlat. praebenda (
Grimm DWB
s.v. Präbende)
zu
Platon
vgl.
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 16, 34, 38, N II S. 64, 74, 77, ED S. 23, 51, 56
Präbenden; sondern zog
Alcibia
den und Platonen.
6
Ihre
andere Welt
von Nabaliten und Abimelechs ist mir so unbekannt
7
Weymann,
Dissertatio philosophica de mundo non optimo
; Kant schreibt am 28.10.1759 an
Johann Gotthelf Lindner
: „Alhier zeigte sich neulich ein Meteorum auf dem academischen Horizont. Der M. Weymann suchte durch eine ziemlich unordentlich und unverständlich geschriebene dissertation wieder den Optimismus seinen ersten Auftritt auf diesem Theater, welches eben so wohl als das Helferdingsche Harlequins hat solenn zu machen. Ich schlug ihm wegen seiner bekannten Unbescheidenheit ab ihm zu opponiren aber in einem programmate welches ich den Tag nach seiner dissertation austheilen lies und das
HE. Behrens
zusamt einer oder der andern kleinen Piece Ihnen einhändigen wird vertheidigte ich kürzlich den optimismus gegen Crusius ohne an Weymann zu denken. Seine Galle war gleichwohl aufgebracht. Folgenden Sontag kam ein Bogen von ihm heraus darinn er sich gegen meine vermeinten Angriffen vertheidigte und den ich künftig übersenden werde weil ich ihn jetzo nicht bey Hand habe, voller Unbescheidenheiten Verdrehungen u. d. g.“ (Kant: AA X, Briefwechsel 1759, Nr. 13, S. 18)
als
Weymans non optimus
und Kantens
Optimismus.
Chimären haße ich
8
wie die
entia
der Vernunft.
9
Wehe … Sanft
1 Kor 4,21
Zu Hirtenbriefen gehören 2 Griffel, der Griffel Wehe und der Griffel
s
10
Sanft. Wir müßen die Bibel nicht nach §. sondern ganz lesen; es ist ein
11
zweyschneidig Schwert, und Gott muß uns Gnade geben es recht zu
theilen;
zur
12
Rechten und zur Linken
2 Kor 6,7
Rechten und zur Linken damit umzugehen. 1
Cor.
4, 21. Ja, das ist meines
13
Herzens Wunsch, mit dem Magister Kant, nicht §. weise sondern das ganze,
14
was man geschrieben, und gelebt, zu überlegen, damit das
tumultuari
sche
15
nicht das Gute ersticke. Sind wir aber nicht Kinder am Verstande. Wir
16
ersticken an Ungeziefer und trauen uns zu Kamele zu verschlucken. Wir sind zu
17
Nadelöhr
Mt 19,24
ungedultig und fladderhaft seidene Faden durch das Nadelöhr zu treffen, und
18
fordern Schiffseile. Halten wir uns selbst für Hexenmeister, oder wißen wir
19
blinde
1 Joh 2,11
nicht daß wir Betrüger sind. Wir sind arme blinde Menschen, denen es leichter
20
fällt sich und andere zu hintergehen, ohne daß wir wißen was wir thun, als
21
Wunder zu schaffen.
22
Mit unserm
Leichtsinn
, der über alles wegglitschet, wird unsere
23
Unwißenheit
aufhören, und mit unserer
Unwißenheit
unsere
Eitelkeit
. Ich habe Dir
24
gesagt Mensch! was gut ist, und was der Herr Dein Gott von Dir fordert,
25
nämlich Gottes Wort halten – Wie können wir es halten wenn wir es nicht
26
verstehen? Wie können wir es verstehen, wenn wir nicht glauben wollen. Wir
27
halten es so schlecht als wir es verstehen. Wenn wir es nicht verstünden, oder
28
wüsten, daß wir blind dagegen wären; so wäre es beßer für uns. Denn kommt
29
Liebe üben
Mi 6,8
Liebe üben – hat es den Verdammten daran gefehlt. Sie waren sich bewust,
30
daß sie mehr gethan hatten, als die Auserwählten – und endlich demüthig
31
seyn
vor deinem Gott
. Als ein Unterthan kann ich mit Pharao, meinem
32
Tochter
2 Mo 2,5ff.
Wohlthäter, deßen Tochter mich erzogen, Blut, Hagel, Feuer, Heuschrecken,
33
Finsterniß, Blattern, Läuse und Mord und Todschlag reden. Was geht Dir
34
thörichten Mann das an, daß heut zu Tage viel Knechte ihren Herrn
35
entlaufen?
36
Du brauchst nur Deine Vernunft, wenn du Schwachheiten,
37
Menschlichkeiten entschuldigen und tadeln sollst. Ist aber von Wahrheit die Rede, so ist
S. 430
Diog. Laert.
6,2,40: Replik des Diogenes auf die Definition des Menschen als federloses, zweifüßiges Tier.
Flügel
deine Vernunft ein platonischer Mensch ein Federloser Hahn; und eine Flügel
2
gelähmte Einbildungskraft.
3
Phil 1,18
: „es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit“; πρόφασις: prophasis, Begründung, Motiv, Anlaß, Vorwand, Grund; ἀλήθεια: alētheia, Wahrheit
Unterdeßen ist es mir lieb, wenn Christus geprediget wird
ειτε προφασει,
4
ειτε αληθεια
; das gehört für den Herzenskündiger, der die Menschen richten
5
wird nach dem Rath ihres Herzens, und das Verborgene ans Licht bringen.
6
Ich will nichts erklären. Ihr gutes Herz ist der beste
Exeget
meiner schweren
7
schnellen Zeugen
Mal 3,5
Stellen; und Sie haben einen schnellen Zeugen an Ihrem Gewißen.
8
Ob es eitle Schulweisheit ist in Gleichnißen und Sprüchwörtern zu reden,
9
mögen Sie als ein Prediger dieser Weisheit am besten wißen. Ob die Moral
10
durch äsopische Larven eckel gemacht, und wenn die Gottseeligkeit alles
11
niederreist, warum haben die Evangelien Bücher so viel Parabeln. Rede mit uns frey
12
heraus, damit wir Dich kurz und gut steinigen können als einen Gotteslästerer;
13
so wirst Du leichter sterben als am Kreutz nach Recht und Gerechtigkeit.
14
Unser Leben ist uns nicht deswegen geschenkt, noch verlängert, weil es
15
Gott nützen kann;
sondern achtet
die Gedult des
Herren und die Fürbitte
16
Reichthum …
Röm 2,4
eines treuen Gärtners für eure Erhaltung, und last euch durch den Reichthum
17
seiner Güte zur Buße leiten.
18
Gott wird mit den Scherben einer Wittwe für lieb nehmen, die ich ihm
19
heilige; und mir Gnade geben seinen Bund mehr zu achten denn Opfer. Der
20
L
Psalm handelt vom wahren Gottesdienste.
21
Da unser Briefwechsel immer mehr ausarten möchte, und man weder auf
22
die Schranken Acht geben
kann
noch
will
, die ich mir setze. Da ich die
23
Gränzen ehre, für denen sich die Wellen meines Stoltzes legen müßen; und meine
24
Freunde wie Spreu vom Wirbelwinde über die Zäune und Hecken der Logick,
25
der Moral, des Gewißens und Wohlstandes wegwirbeln laßen. Da mir meine
26
Briefe
Arbeit
kosten, die
Tage kurz
und die
Nächte lang
für mich werden,
27
ich
Beschäftigungen
so wohl als
Nebendinge
nach dem
Maas meiner
28
Zeit
und
Kräfte
habe; so wünschte ich, daß wir uns eine Weile ausruhten.
29
Wollen Sie noch hierauf antworten: gut; lieber nicht, doch wie Sie wollen.
30
Haben Sie mir etwas aufzutragen, oder zu melden; so bin zu Ihren Diensten
31
der
nächste
und
schuldigste
. Fällt mir etwas vor; so bediene mich gleicher
32
Freyheit.
33
Herrn Magister Kant 1.) denke noch
nicht so bald zu besuchen
. Er wird
34
sich freuen mit einem Schreiben von Ihnen Selbst beehrt zu werden. 2.) Fürchte
35
ich mich zu urtheilen, und
anderer Urtheile
durch
meine Feder
fließen zu
36
laßen. 3. Weil der Vater durch
Nachrichten
, wie Sie mir melden,
beruhigt
37
seyn will; so muß man nach dem Sprüchwort nicht den Teufel an der Wand
S. 431
mahlen, weil sich gutherzige Leute mehr für den gemahlten Teufel als den
2
Geist deßelben fürchten.
3
Sie sind vielleicht zu bescheiden mir einen Waffenstillstand unter den
4
Bedingungen eines gänzlichen Stillschweigens aufzulegen; ich will mein Werk
5
durch diese
Grobheit
krönen. Da Ihre Antworten mehr aus einer
gesetzlichen
6
Gefälligkeit
zu flüßen scheinen; so sind dies keine Pflichten der Freundschaft,
7
die alle Menschensatzungen wie die Noth und Liebe bricht und keine Gesetze
8
kennt, sondern wie die Luft, der Othem unsers Mundes, frey seyn will. Ein
9
natürl. Hang zur Freyheit ist mir gewißermaßen mehr natürlich als Ihnen;
10
ich liebe also auch in dieser Absicht das Christenthum als eine
Lehre
, die
11
meinen
Leidenschaften
angemeßen ist; die nicht eine Saltzsäule, sondern
12
neuen Menschen
Eph 2,15
Geist Gottes …
2 Kor 3,17
einen neuen Menschen verlangt, und verspricht. Wo der Geist Gottes ist, da
13
Wahrheit macht uns frey
Joh 8,32
ist Freyheit. Und die Wahrheit macht uns frey. Die Gerechtigkeit in Christo ist
14
Harnisch
Eph 6,15
kein Schnürleib, sondern ein Harnisch; an den sich ein Streiter wie ein
15
Mäcänas an seinen
dissoluto habitu,
losen Tracht gewöhnt.
16
Ich habe Ihren Herrn Schwager noch nicht gehört, und wähle mir keine
17
Prediger mehr, sondern nehme für lieb mit dem der liebe Gott giebt.
18
Baumgarten, Forstmann, Reichel, Paulus, und Kephas sind Menschen, und ich höre
19
Pharisäers
Apg 23,6
öfters mit mehr Freude das Wort Gottes im Munde eines Pharisäers, als
20
eines Zeugen wieder seinen Willen, als aus dem Munde eines Engels des Lichts.
21
Für Leute, die blöde Augen haben, ist die schwarze Farbe eines Predigers
22
erträglicher, als ein glänzender Talar und mit Ihrer pragmatischen Regel
23
kranke Augen
durch das
Licht
zu stärken bin nicht einig. Schirme, Vorhänge,
24
gefärbte Gläser, Wolken, und ein Wiederschein im Waßer, sind Methoden
25
der Natur, der Vernunft und Geschmacks; wie ihre morgenländische
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romanische
vll. romanhafte
Abweichungen
vll. bez. auf Lindners Beurteilung des Romans in
Lindner,
Anweisung zur guten Schreibart
, S. 287: „Die Romanen sind Bastarde der Geschichte und erdichtete Begebenheiten“.
Erzählungen, romanische Dialogen, Schauspiele gleichfalls Abweichungen Ihrer
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Theorie
sind. Hier strafen auch die Kinder den Vater und treten wieder ihn auf.
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So bald ich meine sokratische Denkwürdigkeiten erhalte, schicke ich ein
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Exemplar.
Wer sich daran ärgert, thut sich selber schaden. Wahrheiten,
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Grundsätze, Systems bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle.
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Ein jeder nach seinem Grund und Boden. Ich warte mit Ungedult auf den
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Abdruck. Mein Vater grüst herzl. Sie und Ihre liebe Hälfte, die ich umarme.
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Ich bin
jusqu’à revoir
Ihr Freund
in petto.
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Adresse:
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A Monsieur / Monsieur Lindner. M. A. / Recteur du College Cathedral /
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de et / à
Riga
.
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HE.
Justiz
Rath
Trescho
hat mir ein
Compliment
an Sie aufgetragen.
S. 468
Johann Gotthelf Lindner notierte einige Stichworte am Schluss des Briefes,
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zu HKB 163 (I 431/36):
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Ich zwinge dich nicht, aber daß der Sünder nicht bleibe. Bis ich
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frdl. werde scheinen.
14
Um nicht gesezl. zu schreiben so kurz gut zu theilen nach dem
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Schwert drohen?
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ihr Schwert Menschen trifft aber Petrus hieb das Ohr ab.
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Optim.
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Socrat.
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Seine Strafe sind Schläge.
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Damit nicht Bitterkeit werde
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Gibeoniter sind gute Schleuderer gewesen
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Ich danke dir Gott daß du mich gedemüthigt hast
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Bassa
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Woltersdorf
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (46).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 490–497.
ZH I 424–431, Nr. 163.
Zusätze fremder Hand
468/12 –24
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Johann Gotthelf Lindner |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
427/10 |
liesest ]
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: liesest |
427/25 |
ihren ]
|
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: Ihren |
468/10 –24
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Johann […] hast BassaWoltersdorf] |
In ZH im Apparat. |