161
411/30
Königsberg den
28.
Sept:
1759.

31
Mein wahrer alter Freund,

32
Für Ihre Critick über die
petites lettres sur de grands Philosophes
bin

33
verbunden. Ich habe vorige Woche meinen Jesaias vom Buchbinder

34
bekommen, und habe selbigen jetzt durchlesen können. Da ich aus dem bloßen

35
Anfange von der Güte dieses Werkes urtheilte; so bin ich jetzt desto mehr

S. 412
zufrieden, daß ich es Ihnen überschickt und empfehle es Ihrem Gebrauch. Es ist

2
mir eine große Zufriedenheit meine eigene Empfindungen und Gedanken in

3
anderer Schriften zurückgeworfen zu sehen. Wenn ich diese Werke und

4
Männer, welche ich jetzt kennen gelernt vor meiner Reise in England, gelesen, so

5
würde ich immer die Furcht haben, meine Erkenntnis als eine bloße Frucht

6
einer menschlichen Belesenheit oder Umganges in ungleich mehr Zweifel zu

7
Sie
die Werke und Männer s.o.
ziehen. Jetzt sind alle meine Betrachtungen vor Sie gewesen, ohne daß ich es

8
gewust, daß Sie meine Vorgänger gewesen sind. Ich habe besonders in dem

9
Commentario
dieses Dieners des Evangelii viele Wahrheiten in starkem

10
Lichte gefunden, die ich mir vor einige Wochen Mühe gegeben zu schattiren;

11
weil ich mir die Kühnheit dieses gesalbten Mannes nicht erlauben konnte noch

12
wollte. Wenn ich wenige Wochen dies Buch eher gekannt hätte; so würde ich

13
vielleicht dreister gewesen und weiter gegangen seyn.

14
Jesaias lebte zu Zeiten, welche die Staatsleute und das öffentliche Wesen

15
Kützel
Übermut
sehr nahe angiengen; und wo die Noth,
nicht dem Kützel
, Gelegenheit zu

16
vielen Anschlägen geben muste. Sein Amt war zu strafen, seine Mitbürger auf

17
Gott zu weisen, und Ihnen in seinem Namen die tröstlichsten Erlösungen zu

18
versprechen. Er warnte sie zugleich, daß Gott seine Ehre mit Egypten nicht

19
theilen würde; man müste ihm ganz allein trauen. Man kann sich die

20
Wirkungen seiner Reden bey einem verderbten Volke, das blind und taub mit

21
sehenden Augen und hörenden Ohren war, leicht vorstellen. Wer giebt Dir

22
Recht uns zu strafen, hieß es? Bist Du beßer als wir? Die frechsten

23
Bösewichter und die frömmsten Leute unter ihnen machten gemeinschaftliche

24
Sache; von den ersten verlacht, von den letzten gehaßet, verläumdet und

25
verfolgt. Wir glauben so gut einen Gott als Du, wir hoffen auch auf die

26
Erscheinung eines Weibessaamens – – aber das sind Dinge, die nicht hieher gehören.

27
Hier ist von Staatssachen, von Bündnißen, von Mitteln die Rede den Aßyrern

28
zu wiederstehen. Du forderst, daß Gott Wunder thun soll; wir glauben an ihn

29
wie Ahas ohne Wunder von ihm zu fordern; wir wollen ihn nicht versuchen.

30
Er rief daher nach dem 41. Capitel

31
Immer her mit euerer
Controvers,
spricht der Herr; bringt eure stärksten

32
Waffen her, spricht der König in Jakob. Sie mögen es vorbringen und uns

33
erzählen, wie es ablaufen wird; entweder erzählt uns, was der Ursprung

34
davon ist, so wollen wirs verständig überlegen und erkennen, was es für einen

35
Ausgang nehmen möchte; oder laßt uns einmal hören, wies künftig seyn

36
wird. Zeiget an, was nachher erfolgen wird, damit wir erkennen, daß Ihr

37
Göttlich seyd: O Ja! ihr werdet euch wohl halten, und einen solchen Schaden

S. 413
anrichten, daß wir erstaunen und es alle mit ansehen werden. Siehe, Ihr seyd

2
weniger denn nichts, und Eure Thaten heißen vollends garnichts. Abscheulich

3
ist, wer sich zu eurer Parthey schlägt. Derjenige, den ich aus Norden ruffe,

4
daß er wieder kam, wird vom Aufgang der Sonnen an, meinen Namen

5
predigen und wird über die babylonischen Fürsten dahin gehen wie über Leimen,

6
und wie ein Töpfer den Thon unter sich tritt.

7
Was du redst, soll immer als des Herren Wort von uns angenommen

8
werden. Was thut denn der heilige in Israel selbst, daß wir ihm so blindlings

9
glauben sollen. Wenn Du in Gottes Namen redetest, würdest Du mit so viel

10
Affekt, Ironie und Verachtung gegen hohe Häupter reden. Wir sind keine

11
frommen Leute wie du, wir wißen aber sanftmüthiger und mit mehr

12
Mäßigkeit und Bescheidenheit das Zeugnis des Herrn abzulegen. So viel vom

13
Jesaias.

14
Was unsere
Contro
vers, alter wahrer Freund! betrift; so sehe ich selbige

15
nicht als einen Anhang meiner Briefe an. Glauben wir einen Gott im

16
Himmel, und am Creutz, eine unsterbl. Seele, und ein ewig Gericht; so hat diese

17
Controvers
mit allen den Dingen den genausten Zusammenhang. Da ich

18
heute sterben, und Sie morgen mir nachfolgen können: so will ich nicht mehr

19
durch Gleichniße mit Ihnen reden. Paulus ermahnte seine lieben Brüder bey

20
den Barmherzigkeiten Gottes, sich nicht dieser Welt gleich zu stellen, und zu

21
prüfen
, welches da sey der
gute
, der
wohlgefällige
und der
vollkommene

22
Wille Gottes
.

23
Meine Angelegenheiten mit jenen gehen Sie
im strengen Verstande
nichts

24
an, oder
höchstens
nur so
weit
, als es Ihnen wie einem alten wahren Freund

25
beliebt
sich selbiger anzunehmen. Und dies wie
weit?
dürfen Sie sich weder

26
von mir noch der Gegenparthey vorschreiben laßen. Es bleibt also immer von

27
beyden Theilen ein
Misbrauch der Freundschaft
, wenn wir Ihnen den

28
geringsten Nothzwang darinn anthun; und wenn ich in Ihrer Stelle wäre,

29
so hätte ich mir von keinem zu nahe darinn kommen laßen, oder beyden gleich

30
nahe treten müßen, wobey ich mich aber immer auf Leiden getrost gefaßt

31
gemacht hätte. Ungeachtet aller dieser Grundsätze, die ich mir so viel möglich

32
bestrebt nicht aus dem Gesichte zu verlieren, bin ich doch derjenige, welcher

33
selbige am meisten übertreten hat; oder zu haben scheint. Meine

34
Verdammung würde daher, im Gericht der Vernunft, größer als jener ihre seyn, die

35
sich nicht diese Gesetze der Vernunft und Billigkeit vorgeschrieben. Hier muß

36
ich Ihnen aber ein Rad in dem andern entdecken. Ich bin Ihnen deswegen

37
wieder mein Gewißen und Gefühl so überlästig in unserer Privatsache

S. 414
gewesen, weil ich gehofft und gewünscht, daß Sie mehr
Anwendung davon

2
auf Sich
Selbst machen würden, und nicht bey mir und meinen Antipoden

3
stehen bleiben. Wie oft bin ich aber an das Leyden unsers Erlösers erinnert

4
worden, da seine Nächsten, seine Tischfreunde, der
keines vernahmen
, und

5
nicht wusten, was er redete
, noch
ihnen zu verstehen geben wollte
.

6
Man hat mich hart beschuldigt, daß ich Mittel verachtete und von Gott auf

7
eine
ich weiß nicht was für eine unmittelbare Art geholfen zu werden

8
suchte. Verachtete ich Mittel, so wäre ich ein Verächter Göttl. Ordnung und

9
ich würde meinem Gerichte ohne einen Fürsprecher nicht entgehen. Ob ich dies

10
thue, weiß Gott am Besten, und sey Richter zwischen mir und Ihnen. Wenn

11
ich Mittel verachtete, so würde ich keine Briefe schreiben, und nicht ein Wort

12
mehr verlieren. Ich will ruhig, aber nicht unthätig seyn; ich will wuchern,

13
aber nicht in die Erde graben. Wer ist aber ein Verächter der Mittel? Braucht

14
Gott keine Mittel uns zu bekehren, und was für ein beßer Mittel als ein

15
1 Kor 7,14
; Anspielung auf die verweigerte Ehe mit
Catharina Berens
.
gläubig Weib für einen ungläubigen Mann oder Umgekehrt wie St. Paulus

16
sagt. Was für ein beßer Mittel hätten sich meine Freunde von Gott selbst

17
erbitten können, als mich, den man für einen alten wahren Freund ansieht, und

18
immer angesehen hat, wenn er in seinem eigenen Namen kommt. Weil man

19
aber den nicht kennt, der mich gesandt hat, so bin ich auch verworfen, so bald

20
ich in seinem Namen komme. Wer ist also ein Verächter der Mittel? Ich setze

21
etwas an den Mitteln aus, die Sie zu ihren irrdischen Absichten wählen; und

22
versiegelt
2 Kor 1,22
Sie verwerfen den, den Gott dazu versiegelt hat, zum Dienst Ihrer Seelen

23
Bauches
Phil 3,19
und nicht Ihres Bauches; der ihr Gott ist, den ich versöhnen soll.

24
Man mag mir also immer so viel Frevel und heimliche Sünden

25
beschuldigen, als Hiob von seinen Freunden wurde: so freue ich mich das Ende des

26
Herren zu sehen, und will nicht aufhören Seinen Tod zu verkündigen, biß

27
daß er kommt. Das sey ferne von mir, daß ich Euch Recht gäbe. Biß daß

28
mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Frömmigkeit ppp.
Iob:

29
XXVII.

30
Brief
nicht überliefert
Mein erster Brief, den ich aus Engl. schrieb, war mit der fröhlichen

31
Bothschaft angefüllt: Ich habe den funden, von welchem Moses im Gesetz, und

32
die Propheten geschrieben haben – Des Menschensohn ist der Schöpfer,

33
Regierer und Wiederbringer aller Dinge, der Erlöser und Richter des

34
Menschlichen Geschlechts. Ich bin also nicht wie ein Mörder und Dieb sondern durch

35
die rechte Thür eingegangen.

36
Ich bin meinem Freunde mit meinen Religionsgrillen lange nicht so

37
beschwerlich geworden in meinem Umgange als ich von seinen Handlungs und

S. 415
Staats
ideen
aushalten
, wie ich noch keinen Begrif von diesen

2
Schwarzkünsteleyen hatte, biß ich auch diese Geheimniße und ihre Eitelkeit ihm zu

3
Gefallen kennen lernte, und vielleicht eben so weit in der
Theorie
davon als er

4
hatte kommen können, wenn ich Lust und Liebe zur Practick gehabt hätte.

5
Ich weiß, daß meinen Freunden eckelt für der losen Speise, die Sie in

6
meinen Briefen finden. Was lese ich aber in Ihren, nichts als die
Schlüße

7
meines eigenen Fleisches und Blutes
, das verderbter ist wie ihr eigenes,

8
nichts als das Murren und die Heucheley meines eigenen alten Adams, den

9
ich mit meinen eigenen Satyren geißele, und die Striemen davon eher als Sie

10
selbst fühle, länger als Sie selbst behalte, und mehr darunter brumme und

11
girre wie Sie, weil ich mehr Leben, mehr Affekt, mehr Leidenschaft als Sie

12
besitze nach Ihrem eigenen Geständnis. Und doch hält man sich über die

13
Gewand im Keltern
Jes 63,2f.
Tropfen meines eigenen Blutes auf, mit dem ich mein Gewand im Keltern

14
befleckt habe und noch beflecken muß.

15
Das ist also Ihre Sünde, daß Sie nicht glauben an mich. Ich hätte mehr

16
Gründe wie Sie; ich brauche Sie nicht, und sage lieber Einfälle, damit Sie

17
Wenn ich von mir …
Joh 7,18
nicht meinen Gründen glauben mögen. Wenn ich von mir selbst redete; wenn

18
ich meine eigene Ehre suchte – – Daher ist Ihre Vernunft und Ihr Gewißen

19
blind, so sehr Sie sich auf beyde immer steiffen, weil Sie nicht glauben

20
können, daß Sie blind sind, sondern sich für sehend halten; und das Blut der

21
Vater …
Lk 23,34
Versöhnung umsonst ruffen laßen: Vater vergieb Ihnen, denn Sie wißen

22
unerkannte Sünde …
Ps 90,8
nicht, was Sie thun. Sie glauben nicht, daß Gott die
unerkannte Sünde

23
vor sein Angesicht stellt, sondern wißen es beßer als Gott und sein Geist, was

24
Sie verfolgen …
Ps 69,26
Sünde ist und nicht ist. Sie verfolgen den Du geschlagen hast, und rühmen,

25
Laß Sie …
Ps 69,27
daß Du die Deinen übel plagest. Laß Sie in eine Sünde über die andere fallen,

26
daß sie nicht kommen zu Deiner Gerechtigkeit. Dieser Fluch muß alle Feinde

27
Buche …
Mt 5,18
Gottes treffen; er steht im Buche geschrieben, davon nicht ein
Iota
vergehen

28
Fluch …
Röm 3,14
wird, wenn Himmel und Erde vergehen, dieser Fluch läuft aus ihrem eigenen

29
Munde und Herzen ohne daß sie wißen, was sie reden.

30
Ich will nicht von himmlischen Dingen reden; sondern bloß von irrdischen,

31
Verheißung
1 Tim 4,8
und wie Sie, auf das Sichtbare sehen. Sind Sie nicht der Verheißung dieses

32
Holtzhauer …
Jos 9,27
Lebens schon beraubt. Sind Sie nicht alle Holtzhauer und Waßerträger,

33
Gibeoniten, die sich selbst durch ihre Lüste und Gesetzliche Gerechtigkeit, durch

34
Sünden,
aber noch mehr durch ihre Tugenden
und guten Werke
ihre

35
zeitl. Glückseeligkeit
vereiteln. Was kommt denn aus ihren Arbeiten heraus?

36
Nichts, alles halb gethan, Verräther ihres beßeren Geschmackes,

37
Verstümmeler ihrer Gaben. Nicht Kälte der gesunden Vernunft, nicht
Feuer
Wärme

S. 416
Licht … böse
Joh 3,19
eines gesunden Herzens. Sie fürchten sich im Licht der Critick zu erscheinen,

2
Pasqvillanten
Schmäher, Spötter
weil ihre Werke böse sind. Sie sind Pasqvillanten der Schulfüchse, und leiden

3
keine Satyre auf die Schulfüchserey ihres Christenthums; und die jüngste

4
Schrift ist ein Brandmark ihrer nächsten Schwester. Eine Mutter, die eine

5
Scharfrichterinn ihres eigenen Kindes wäre, hätte wenig Recht sich über die

6
Ruthenschläge eines Vaters zu beschweren, der seinen Sohn ziehen wollte.

7
Ich sehe allenthalben Zeichen um mich herum, die meine Furcht für Gott

8
und Sein heilig Wort vermehren. Was B. durch Sie umsonst an mir

9
versucht, hat ihn nicht klüger gemacht; er hat nur das Instrument geändert.

10
Diesem neuen Werkzeuge ist es nicht beßer gegangen. Ich habe ihn auch zu

11
meinem Feind gemacht. Ein jeglicher in das Seine, und man läßt mich alleine.

12
ich bin es nicht
Lk 22,58
,
Joh 1,21
,
Joh 18,25
,
Apg 13,25
Aber ich bin es nicht, sondern mein Vater ist mit mir.

13
Wenn wir uns alle nur entschlüßen wollten als vernünftige Menschen zu

14
leben; so würde jeder dem andern kein Bedenken tragen die Gefahr des

15
Irrweges und den Ausgang deßelben vorzustellen. Als bloß natürlich mitleidige

16
Bürger oder gutherzige Freunde müßen wir uns einander nicht auslachen,

17
Ich glaube …
Ps 116,10
sondern bedauren. Ich glaube, sagte David, darum rede ich; wenn ich aber

18
rede, so fangen Sie Krieg an. Was würde aber in diesem Kriege Ihnen mit

19
einem Waffenstillstande gedient seyn, um den Sie in Ihrem letzten Briefe

20
bitten. Warum nicht lieber
Friede
. Siehe drein und schilt, daß des Reißens

21
Sie sagen
wohl Bezug auf Lindners Brief (nicht überliefert), auf den Hamann antwortet (siehe auch J.G. Lindners Anm., in „Zusätze ZH“ zu Brief Nr. 
159
, dort zu
405/9
)
und Brennens ein Ende werde.
Ψ
. 80. Sie sagen nichts mehr als 1.) aus

22
Deinen Worten wirst Du gerichtet werden – Ja, das wünsche ich, weil ich

23
gerechtfertigt
Mt 12,37
zugleich durch selbige gerechtfertigt zu werden glaube. Da Ihre Sprache aber so

24
verkehrt wie meine ist; so bleibt es bey dem Grundwort auf das ich gebaut

25
habe und noch baue. Denn kann mich weder Ihre Zunge noch meine eigene

26
verdammen, weder ihr Herz noch mein eigenes. Er ist größer als unser Herz und

27
treu – – Wißen Sie aber auch was das heist: Der geistliche richtet alles und

28
wird von niemanden gerichtet, und daß dies mit eine Wahrheit ist, die kein

29
fleischlicher oder sinnlicher versteht noch vernehmen kann. Wißen Sie was es

30
heist wenn Paulus sagt: Mir ist es ein geringes, daß ich von Euch gerichtet

31
werde oder von einem
menschlichen Tage
; auch
richte ich mich Selbst

32
nicht
. Ich bin wol
nichts mir bewust
, aber
darum bin ich nicht

33
2.
Bezug auf Lindners Thesen (siehe J.G. Lindners Anm., in „Zusätze ZH“ zu Brief Nr. 
159
, dort zu
405/22
)
gerechtfertigt;
der Herr ists, der mich richtet. 2. Freundschaft fordert

34
Gleichheit, die der Unterricht nicht zuläßt.
Distinguo
hiebey können auch

35
Empfindungen der Liebe seyn bey einem und des Gewißens beym andern.

36
Gesichterschneiden und Geberden machen ist zweydeutig, und warum das, wenn man

37
reden kann.

S. 417
Ich verstehe diese Stelle nicht deutlich genung und will ihr keinen Verstand

2
aufdringen, der willkührlich wäre.
Distinction
en
Affect
en entgegen zu setzen,

3
Wellen
Hi 38,11
heist den Wellen des Meers den Sand zur Gränze setzen. Wenn

4
Gesichterschneiden zweydeutig ist; so geht es den
Distinction
en nicht beßer. Es ist also

5
recht sehr gut, daß man die Wahrheit von Herzen redet weder durch Geberden

6
noch durch
Distinction
en sie verfälschet.

7
Ob das Gesicht zweydeutiger ist wie der Mund, ist eine küzliche

8
Untersuchung; weil man aus Minen mehr und sicherer öfters schlüst und dem Auge

9
mehr Wahrheit zuzuschreiben gewohnt ist als der Zunge. Da ich aber an

10
Temperam
enten und
physiognomie
theils unwißend, theils ungläubig

11
bin: so freue ich mich, daß das Gesichterschneiden und Geberden machen nicht

12
schlechterdings von Gott als Sünde angesehen ist, weil er durch den Mund

13
des Propheten sagt:

14
Verachtet hat sie Dich, verspottet hat sie Dich, die Jungfrau, die Tochter

15
Zions, den Kopf hat sie dir drein geschüttelt, die Tochter Jerusalems.

16
3.)
Bezug auf Lindners Thesen (siehe J.G. Lindners Anm., in „Zusätze ZH“ zu Brief Nr. 
159
, dort zu
406/19
)
3.) Ich wiederrathe nicht Stand zu halten, wenn man gesucht wird,

17
sondern geschieden zu bleiben, wenn man nicht Lust zum Ersteren hat, oder nach

18
seinen Einsichten den, der uns sucht fliehen muß.

19
Sie denken mir zu
fein
, liebster Freund, und ich Ihnen vielleicht zu stark.

20
Ich glaube, daß wir beyderseits uns Mühe machen einander zu verstehen, oder

21
unsere eigene und des andern Worte so auslegen, wie wir am ersten mit fertig

22
werden können. Ich verstehe keine
Casuistic
weder in der
Moral
noch in der

23
Theologie
und werde Sie auch nicht zu meinen Gewißensrath noch jemanden

24
anders nöthig haben, als den, der mir, Augen, Ohren, die Sinnen und die

25
Vernunft, und die 10 Gebote gegeben hat, daß ich die ersteren alle nach den

26
2 Tafeln brauchen soll. Man kann
Lust haben gesucht zu werden
, und

27
denn flieht ein bulerisch Mädchen auch. Wenn es aber darauf ankomt:

28
Wiedersteht
Jak 4,7
Wiedersteht dem Teufel, so muß man nicht die Gloße machen, wenn Du Lust hast;

29
sondern da muß man eben gegen sein eigen Fleisch und Blut mitkämpfen.

30
4.)
Bezug auf Lindners Thesen (siehe J.G. Lindners Anm., in „Zusätze ZH“ zu Brief Nr. 
159
, dort zu
407/2
)
4.)
Welt
sind überhaupt Menschen und es ist immer schlimm mit ihnen

31
umzugehen. Ich bin versichert, nichts böses Ihnen gewünscht zu haben.

32
Die Worte Ihres vorigen Briefes sind diese: Bitten Sie Gott, daß man

33
nie nöthig habe sich in die Welt einzulaßen, und streiten sie immer mit

34
Freunden; so bleiben sie noch erträglich.

35
Ich soll mich also nicht mit Menschen überhaupt einlaßen, sonst würde ich

36
ihnen unerträglich seyn. Ich soll immer mit Freunden streiten; in der

37
Situation
und Verhalten gegen sie bliebe ich erträglich. In dem Zusammenhange

S. 418
dieser Begriffe mag immerhin ein
sensus hermeneuticus
oder
mysticus
liegen,

2
ich finde aber keinen
sensum communem
darinn. Die natürlichste Frage, die

3
einem einfällt, ist die: Sind denn Deine Freunde keine Menschen überhaupt,

4
haben Sie die Unart des menschlichen Geschlechts nicht an sich, daß Du sie

5
mehr beleidigen kannst als einen jeden andern Nebenmenschen. Das müßen

6
fürtrefliche
Menschen sind
, die zu Freunden hast, ein Ausbund der Menschen

7
überhaupt. Und Du must boshafter als das ganze menschliche Geschlecht seyn,

8
daß Du mit ihnen streiten kannst. Diese Empfindungen liegen in ihrem Schluß,

9
es sind also keine
Consequentz
en, die ich daraus ziehe, sondern die
Principia,

10
aus denen ihre Begriffe entstanden. Ein Mensch der so aussieht hat freylich

11
nöthig zu beten; aber was für ein Verdienst, das
gegen
sich gegen ihn seine

12
Freunde machen können. Wie können Sie Gott danken, daß sie nicht solche

13
Juden sind wie dieser harte Zöllner, der der Vernunft mit Grausamkeit

14
eintreibt, was der Vernunft gehört.

15
Wie mein Bruder aber ein
Plagiarius
dieser geheimen Gedanken geworden,

16
Antwort
nicht überliefert; auf die Hamann wiederum mit Brief Nr. 
162
antwortet.
begreife ich nicht. Er hat eben die
Idee
zum Grunde gelegt in seiner Antwort.

17
bis. Z. 28 Paraphrase eines Briefes des
Bruders
(nicht überliefert)
Du hast gut, ein
Pasquillant
zu seyn, meldt er mir heute. Wenn mir Gott

18
Deinen Witz und Deine Gaben gegeben hätte, sie wären beßer angebracht. Mit

19
dem Glück, was er Dir durch Menschen hat zuflüßen laßen, bist Du eben so

20
verschwenderisch umgegangen. Danke Gott, daß ich ein Christ bin und

21
Brüderliebe
vgl.
HKB 162 ( I 422/22 )
christliche Brüderliebe gegen Dich fühle, die dir alles bittere, alles anzügliche und

22
hämische von Herzen vergiebt. Deine Absichten sind nicht zu tadeln; aber von

23
Mitteln hast Du keinen Verstand, keinen Witz, und sie zu brauchen keine

24
Klugheit. Du lebst auf Unkosten anderer Leute, und weist nicht wie einem

25
Menschen zu muthe ist, der sein Brodt verdienen muß im Schweiß seines

26
Angesichtes. Sey mein Nachfolger und lerne von mir Sanftmuth und herzliche

27
Demuth: so wirst Du so ruhig wie ich leben können, und über das Allgemeine

28
Wohl, Dein eigen Glück nicht aus dem Gesichte verlieren. – –

29
5.
Bezug auf Lindners Thesen (siehe J.G. Lindners Anm., in „Zusätze ZH“ zu Brief Nr. 
159
, dort zu
407/20
)
erinnernde
mahnende
5. hämische und erinnernde Minen sind zweyerley. – Dies sey gesagt
sine

30
applicatione.

31
Wenn ich es nicht anwenden soll; so müßen Sie mir wenigstens als von

32
einem unnützen Worte Rechenschaft geben. Ich sage ja, daß ich zu hämischen

33
Minen berechtigt bin. Niemand kann zween Herrn dienen; er muß den einen

34
haßen und den andern lieben. Mein Glaube ist mir näher als die Freundschaft

35
der Welt und ihrer Kinder. Ich haße die da halten auf lose Lehre. Ich haße ja

36
Herr! die Dich haßen und verdreust mich auf sie, daß Sie sich wieder Dich

37
setzen. Ich haße sie in rechtem Ernst, darum sind sie mir feind.

S. 419
Ob wir beßer oder schlechter geworden; aus diesem Einfall, mein alter

2
wahrer Freund, wollen wir beyde eine ernsthafte Aufgabe machen, die einer

3
reifen Untersuchung werth ist. Ich bin ohnedem zu einer Prüfung meiner

4
Selbst desto mehr aufgemuntert, da ich künftige Woche zum Tisch des Herrn

5
zu gehen willens bin, und mein Bündnis mit ihm, meine Gemeinschaft

6
erneuren und bevestigen will. Jonathan gab David seinen Rock, seinen Mantel,

7
sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel. Er wird mich auch mit neuen

8
Kräften zu Seinem Dienste ausrüsten und mir Gnade geben mich klüglich

9
zu halten, wo
zu
hin ich geschickt werde; Vater, Mutter, Bruder ja mein

10
Leben zu haßen um seines Namen willen, nicht nur meinen Stoltz, sondern

11
auch meine
Demuth
zu verleugnen, nicht nur das Böse zu meiden, sondern

12
mich auch von allem Guten
, das durch ihn geschieht,
selbst auszuleeren
,

13
und ihm allein die Ehre zu geben. Ich will ihm nicht nur meine Thorheit

14
bekennen; sondern auch die Blindheit und Tücke meines guten Herzens, und

15
Bathseba … Urias
2 Sam 12,9ff.
nicht an Bathseba noch an Urias denken; sondern sagen: Dir, Dir allein habe

16
ich gesündigt, und Unrecht vor
Dir
gethan auf daß
Du
Recht behaltest in

17
Deinen
Worten und rein bleibest, wenn
Du
gerichtet wirst – von meinen

18
Unterthanen und Feinden. Seht da den Mann nach dem Herzen Gottes, ein

19
Ehebrecher und witziger Mörder! Was soll man von den Psalmen denken, die

20
er dichtet, oder von dem Gott, deßen Gnade er sich rühmt!

21
Noch einen
Punct
aus Ihrem letzten Briefe. „Ich habe ihrem Bruder Nein!

22
gesagt, wie Sie wollen und es gut ist.“

23
Das Nein! ist eine Antwort auf eine Frage die Sie mir nicht gemeldet

24
haben. Ich wünschte, wenn Sie sich ein wenig näher über den Eindruck

25
Brief
Nr. 
154
oder
158
erklärt hatten, den ihm mein Brief gemacht, und insbesondere von dem

26
Gebrauch, den Sie selbst davon in Ansehung seiner zu Ihren eigenen Absichten,

27
meiner Entschuldigung und Seinem Vortheil angestellt, da ich auf Ihre

28
Veranlaßung gewißermaaßen einen Hirtenbrief geschrieben. Jetzt ziehen Sie

29
gleichsam den Kopf aus der Schlinge und sagen Nein! ohne daß ich weiß

30
worauf? und das liebe Flickwort: wie Sie wollen und endlich: wie es gut ist,

31
als das letzte, was man in Betrachtung ziehen und wieder seinen Willen

32
gestehen muß. Wißen Sie nicht mehr, daß Sie mich dazu aufgemuntert? Ist dies

33
der erste Versuch, den Sie von mir haben, daß ich heißen Brey vorher in das

34
Maul nehmen würde, ehe ich ihm meine Meynung sagen würde.

35
unerkannte Sünden
Ps 90,8
Glauben Sie nicht, liebster Freund, daß ich allein unerkannte Sünden

36
begehe. Ist mein übertriebener Ernst, Eyfer eine? Was denkt Gott von Ihrem

37
Leichtsinn, Lauigkeit, Furchtsamkeit; und zurückhaltenden Sinn, wenn man

S. 420
Posaunen
Offb 4,1
mit Posaunen reden muß. Der Schade, den ich mir durch meine Heftigkeit

2
zuziehe ist ein bloß sinnlicher Betrug; ich gewinne dabey. Die Vortheile, die

3
Sie durch Ihre Menschenfurcht und
Leutseeligkeit
zu ziehen glauben, sind

4
eben solche Scheingüter, die aber für Sie Schaden und Nachtheil zu Folgen

5
haben.

6
Ueberlegen Sie selbst, ob es mir nicht gleichgiltig, daß ich menschlich rede,

7
seyn kann, man mag mein Zeugnis von Christo, oder mein Christenthum, für

8
Schwärmerey, einen Deckmantel des Stoltzes und ich weiß nicht wofür

9
halten. Richten die aber nicht, und lästern, die so davon urtheilen und auf diesem

10
gefährlichen Urtheil trauen. Bin ich nicht bey meinen Strafpredigten gegen

11
mich selbst mehr grausam, als gegen andere. Ist denn die Bibel ein

12
1 Mo 6,5
u.ö.
Pasqvill, die das menschl. Herz für unergründlich böse beschreibt, und ist diese

13
Wahrheit eine Satyre auf das menschliche Geschlecht. Ein Mensch kann nichts

14
nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel.

15
Wer sie ängstet, der ängstet ihn auch. Wer euch antastet, der tastet Seinen

16
Augapfel an. Dies sind Worte der Schrift, und es mag Ihnen so fremde

17
vorkommen als es will, daß ich ein Geschrey darüber mache, als wenn Gott

18
selbst Leid wiederführe; so sehe ich daraus, daß Sie Christum wol als den

19
Weg und die Wahrheit, aber nicht als das
Leben
kennen. Wer meine Worte

20
hält, wird die Erfahrung davon haben, und das
Leben
ist das
Licht der

21
Menschen
.

22
Ich schütte mein Herz gegen Sie aus, so viel ich kann. Sie werden dies als

23
keine Schule sondern als ein Bekenntnis meines Glaubens ansehen, von dem

24
ich auch meinem Nächsten schuldig bin Red und Antwort abzulegen. Habe ich

25
irrige Grundsätze, so will ich aus der Schrift belehrt seyn, und sehr gern von

26
Ihnen. Daß man aber ins Gelach hereinschreyt: Er geht in allem zu weit,

27
ist für mich nichts geredt. Soll ich den Krebsgang gehen? Dafür wird mich Gott

28
behüten. Was nennt ihr denn zu weit: Soll mir eure Vernunft die Gränzen

29
meiner Pflichten setzen das leyde ich nicht von meiner eigenen, und die ist mir

30
doch immer die nächste. Wenn ich der nicht glaube, wie könnt ich einer

31
Hi 22,28
u.ö.
fremden glauben. Fehlt es mir denn an Licht auf meinem Wege. Es brennt wie die

32
Sonne und es liegt an euch, daß ihr die Augen nicht muthwillig verschlüßt,

33
oder Gott so lange anrufft biß er euch sehend macht. Einem Sehenden wird es

34
aber nicht so leicht einfallen Gott um erleuchtete Augen zu bitten; und die

35
Artzt
Mt 9,12
Gesunden brauchen keinen Artzt nicht. Christen, denen die schwerste Pflicht,

36
Feinden zu vergeben eine Kleinigkeit ist, ist die Beichte eine Staats Formel

37
und ein Wort der Lippen.

S. 421
In dem Streit über den Leichnam Moses, erzählt uns eine
petite lettre sur

2
de grands philosophes,
behielt Michael den Sieg. So geht es in allen

3
Kriegen über die gesetzliche Gerechtigkeit, die auf Satzungen der Väter, und gute

4
Werke beruht.

5
Trescho
hat mir geschrieben. Ich stöhne noch immer, aber
ich sterbe nicht
.

6
Mein Leben
und
ist zähe und hart. Diese Nachricht giebt er mir von seiner

7
Gesundheit.

8
Zitat aus
Bodmer,
Noah
, V. 38ff.
Die unprophetischen Seelen schwimmen in Freuden

9
Ihnen schwant nichts von der Hand des nahen Verderbens

10
Die verräthrisch über dem Haupt der Schlafenden lauret.

11
sterben müße
Ps 90
Ein beßerer Prophet bittet Gott ihn zu lehren, zu bedenken, daß er sterben

12
müße, auf daß er klug werde. Ich umarme Sie als Ihr aufrichtiger Diener

13
und Freund.

14
Hamann.



S. 467
Handschriftliche Anmerkungen von Johann Gotthelf Lindner:

33
Zu HKB 161 (I 418/37):
Sie misbrauchen die Bibel, sie sollen nicht

34
richten? vorher richtet alles. Ihre Rechthaberey und ihr Naturstolz

35
ist gleich stark.

36
Denken sie mit Paulo von ihrem Bruder nicht daß ichs ergriffen habe,

37
sondern
pp.

38
Zu HKB 161 (I 420/21):
Man tadelt das Menschl. an Ihnen, nicht ihr

39
Christenth. Und ihr alter Adam schreit eben so gut… Selbstgerecht.

40
Zu HKB 161 (I 421/4):
Alle blind außer Sie. Sie selbst blind. 2 Blinde

41
fallen in die Grube.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (45).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 482–488.

ZH I 411–421, Nr. 161.

Zusätze fremder Hand

467/33
–37
Johann Gotthelf Lindner
467/38
–39
Johann Gotthelf Lindner
467/40
–41
Johann Gotthelf Lindner

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
412/15
nicht dem Kützel
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies wohl
nicht der Kützel

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): der Kützel
415/1
aushalten
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): aushalten
mußte
418/6
Menschen sind
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
seyn
statt
sind

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Menschen seyn
467/32
–41
Handschriftliche […] Grube.]
In ZH im Apparat.