170
448/2
Freund  … Name
vgl.
HKB 163 ( I 427/16 )
GeEhrter Freund,

3
Dieser Name ist nicht ein leeres Wort für mich; sondern eine Qvelle von

4
Pflichten und Entzückungen, die sich auf einander beziehen. Aus diesem

5
s.u. 449/7
Gesichtspunct werden Sie Beylage beurtheilen. Es gehört nicht immer ein

6
im Unterschied zum Sprichwort: „Man muss zuvor viele Scheffel Salz miteinander essen, ehe die Aufgabe der Freundschaft erfüllt ist.“ (bspw. Cicero, Laelius XIX,67)
Scheffel Saltz zu dem Bündniße, das man Freundschaft nennt. Ich

7
schmäuchele mir also, daß ich mit dem Handvoll abkommen werde, womit ich

8
gegenwärtigen Brief habe würzen müßen.

9
Ihr Stillschweigen über gewiße Dinge, wo die Redlichkeit einem Stummen

10
die Zunge lösen würde, ist eine Beleidigung für mich, die ich eben so wenig

11
erklären kann, oder so schlecht erklären muß, als Sie meine auffahrende Hitze.

12
Ich habe Lust an dem Werke zu arbeiten, davon die Rede unter uns ist.

13
Für einen einzigen ist es zu schwer, und zwey sind beßer als drey. Wir

14
möchten auch vielleicht von einigem Geschicke dazu seyn, und von einem Zuschnitte,

15
der zusammen paßete. Wir müßen aber unsere
Schwächen
und
Blößen
so

16
genau kennen lernen, daß keine Eyfersucht noch Misverständnis unter uns

17
möglich ist. Auf Schwächen und Blößen gründet sich die Liebe, und auf diese

18
die Fruchtbarkeit. Sie müßen mich daher mit eben dem Nachdruck

19
zurückstoßen, womit ich Sie angreife; und mit eben d
ie
er Gewalt sich meinen

20
Vorurtheilen wiedersetzen, womit ich die Ihrigen angreife: oder Ihre Liebe

21
zur Wahrheit und Tugend werden in meinen Augen so verächtlich als

22
Bulerkünste aussehen.

23
Einigkeit
gehört also zu unserm Entwurf. Die darf nicht in Ideen seyn,

24
und kann darinn nicht gesucht noch erhalten werden, sondern in der Kraft

25
und dem Geist, dem selbst Ideen unterworfen sind; wie die Bilder des rechten

26
und linken Auges durch die Einheit des Gesichtsnerven zusammenflüßen.

27
Ich wünschte daher, daß Sie mich über meine 2 Briefe von dieser Materie

28
zur Rede gesetzt hätten. Es ist Ihnen aber nichts daran gelegen, mich zu

29
verstehen, oder nicht zu verstehen; wenn Sie mich nur so ungefehr erklären

30
können, daß Sie dabey nicht zu Schanden werden, noch ich nicht alle gute

31
Meynung verliere. Das heist nicht philosophisch, nicht aufrichtig, nicht

32
freundschaftlich gehandelt.

33
Meine Anerbietung war die Stelle des Kindes zu vertreten. Sie sollten

34
mich daher ausfragen: wie weit ich gekommen? wie und was ich wüste? und

35
Ihr Gebäude darnach einrichten? Sie setzen aber schon zum voraus, daß das

36
Kindereyen sind, was ich gelernt. Dies ist gegen alle Menschenliebe eines

S. 449
Lehrers, der sich auch den schlechtesten Grund bey seinem Schüler gefallen läßt,

2
und ihn durch das, was er schon weiß, und wodurch er ihn überführt, daß er

3
es schon weiß, aufmuntert mehr und weiter und beßer zu lernen.
Sapienti sat.

4
Jesuiten
vll. hat Hamann dabei
René Rapin
im Sinn.
Wißen Sie jetzt, warum die Jesuiten so gute Schulmeister und feine

5
Staatsleute sind?


6
Beylage


7
Soll ich nicht
brennen
, wenn jemand an mir
geärgert
wird? und worann

8
denn? An meinen Stoltz. Ich sage Ihnen, Sie müßen diesen Stoltz fühlen,

9
oder wenigstens nachahmen, ja übertreffen können; oder auch meine Demuth

10
zum Muster wählen, und die Lust der Autorschaft verleugnen. Oder

11
beweisen Sie mir, daß Ihre Eitelkeit beßer ist als der Stoltz, der Sie ärgert, und

12
die Demuth, die Sie verachten.

13
Es ist ein Zug des
Stoltzes
an Cäsar, meines Wißens, daß er sich nicht

14
eher zufrieden gab, biß er alles gethan hatte, und nichts übrig blieb. Wo

15
andere zu schwach sind, Hinderniße zu machen, wirft er sich selbst Alpen im

16
Wege, um seine Gedult, seinen Muth, seine Größe zu zeigen. Ehre ist ihm

17
lieber als Leben. Ein kluger Geist denkt nicht so, und handelt ganz anders;

18
viel weniger ein weiser Mann.

19
Wenn Sie sich
schämen
, oder
vielleicht unvermögend
sind
stoltz
zu seyn:

20
so laßen Sie Ihre Feder schlafen, wenigstens zu dem Werk, woran ich Antheil

21
nehmen soll. In diesem Fall ist es über Ihren Gesichtskreys, und Ihren

22
Schultern überlegen.

23
Fürchten Sie sich nicht für Ihren Stoltz. Er wird genung gedemüthigt

24
werden in der Ausführung des Werkes. Wie würden Sie aber ohne diese

25
Leidenschaft die
Mühe
und
Gefahr
Ihres Weges überstehen können?

26
Es gehört Stoltz zum
beten;
es gehört Stoltz zum
arbeiten
. Ein
eitler

27
Mensch
kann weder eins noch das andere; oder sein Beten und Arbeiten ist

28
schämt sich
Lk 16,3
Betrug und Gaukeley. Er
schämt
sich zu graben und zu betteln; oder er wird

29
Battologist
abgeleitet vom griech. Wort für Schwätzer (bzw. dem entspr. Verb); vgl.
Mt 6,7
(von
Johann David Michaelis
gibt es eine
commentatio de battologia ad Matth. VI, 7
, Göttingen 1753); in
Luthers
Auslegung des 1. Buchs Mose wird das Wort in Bezug auf
Ps 5
verwendet und mit „unnütze Wescher“ übersetzt.
polypragmatischer
vielbeschäftigter; vll. anspielend auf
Schlegel,
Der geschäfftige Müßiggänger
ein betender
Battologi
st und
polypragmati
scher Faulenzer.
Alembert
und

30
Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers
vgl.
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 42, N II S. 80/19, ED S. 61; 1758 konnte der 8. Band nicht erscheinen, da die Druckerlaubnis nicht erteilt wurde; im März 1759 wurde die Encyclopédie gar von Papst Clemens XIII. auf den Index gesetzt; erst 1765 konnte die Publikation fortgesetzt werden. Über den Kampf der Enzyklopädisten war Hamann u.a. durch
Prades,
Apologie
(bzgl. der ersten Kontroverse nach Erscheinen des 2. Bds.) unterrichtet.
Diderot
haben dem Nahmen ihrer Nation zur Ehre eine Encyclopedie

31
aufführen wollen; sie haben
nichts
gethan. Warum ist es ihnen mislungen?

32
und warum ist es ins Stecken gerathen? Beyde Fragen hängen zusammen,

33
und haben eine gemeinschaftl. Auflösung. Die Fehler ihres Plans können uns

34
mehr unterrichten, als die guten Seiten deßelben.

35
Wenn wir an einem Joche ziehen wollen; so müßen wir gleich gesinnt seyn.

36
Es ist also die Frage; ob Sie zu meinem Stoltz sich erheben wollen, oder ob

S. 450
ich mich zu Ihrer Eitelkeit herunterlaßen soll? Ich habe Ihnen schon im

2
Vorbeygehen bewiesen, daß wir Hinderniße finden werden, denen die Eitelkeit

3
zu schwach ist ins Gesicht zu sehen, geschweige zu überwinden.

4
Mein Stoltz kommt Ihnen unerträglich vor; ich urtheile von Ihrer

5
Eitelkeit weit gelinder. Ein
Axiom
ist einer
Hypothese
vorzuziehen; die letztere

6
aber ist nicht zu
versetzen
verwerfen; man muß sie aber nicht wie einen

7
Grundstein, sondern wie ein
Gerüste
gebrauchen.

8
Der Geist unsers Buchs soll moralisch seyn. Wenn wir es selbst nicht sind,

9
wie sollen wir denselben unserm Werke und unsern Lesern mittheilen können.

10
Wir werden, als Blinde, Leiter von Blinden zu werden uns aufdringen, ich

11
sage uns aufdringen, ohne Beruf und Noth.

12
Natur ist ein Buch
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 18, N II S. 65/11, ED S. 26
Die Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel (im philosophischen Verstande)

13
oder wie Sie sie nennen wollen. Gesetzt wir kennen alle Buchstaben darinn so

14
gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und aussprechen, wir wißen

15
so gar die Sprache in der es geschrieben ist – – Ist das alles schon genung ein

16
Buch zu verstehen, darüber zu urtheilen, einen Charakter davon oder einen

17
Auszug zu machen. Es gehört also mehr dazu als Physik um die Natur

18
Aequation
Gleichung
auszulegen. Physik ist nichts als das
Abc.
Die Natur ist eine
Aequation
einer

19
Hamann,
Aesthaetica
, N II S. 207/18, ED S. 194
unbekanten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern

20
geschrieben wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß.

21
Wir schreiben für eine Nation, wie die französischen
Encyclopedi
sten; aber

22
für ein Volk, das Maler und Dichter fordert.


23
Hor.
ars.
372: „Mittelmäßigkeit haben den Dichtern nicht die Menschen und nicht die Götter noch die Ausstellungspfeiler erlaubt.“ (
HKB 40 ( I 102/18 )
)
Mediocribus esse poetis

24
Non homines, non di, non concessere columnae;

25
Dies ist kein Einfall des Horatz, sondern ein Gesetz der Natur und des guten

26
Geschmacks. Alle Ideen aber stehen in Ihrem Verstande wie die Bilder in

27
Ihrem Auge umgekehrt; Einfälle sehen Sie für Wahrheiten, und diese für

28
jene an. Mit dieser umgekehrten Denkungsart werden wir unmöglich

29
zusammen fortkommen können.

30
Sie sind stoltz, Ihnen die Wahrheit zu sagen; ich nicht, oder ich muß Ihnen

31
so vorkommen. Mit
W.
mögen Sie umgehen, wie Sie wollen; als ein Freund

32
fordere ich eine andere Begegnung. Ihr Stillschweigen in Ansehung seiner ist

33
heimtückischer und verächtlicher, als seine tumme Critick über Ihren Versuch.

34
Sie begegnen mir auf gl. Fuß; ich werde Sie aber dafür nicht ungestraft

35
laßen.

36
Seine Einwürfe zu wiederlegen, ist Ihnen zu schlecht. Ein neuer Beweiß,

S. 451
gegen den alle Einwürfe von selbst wegfallen, macht Ihnen in Ihren Augen

2
mehr Ehre. Sie haben auf meine Einwürfe nichts geantwortet, und denken

3
vielleicht auch auf einen neuen Plan. Der Plan, auf den ich gehe, gehört mir

4
nicht, sondern ist das Eigenthum jedes Kindes, und hat Mose zum Urheber;

5
deßen Ansehen ich beßer im Nothfall vertheidigen will, als mein eigenes.

6
Wenn Sie ein Lehrer für Kinder seyn wollen; so müßen Sie ein väterl.

7
Herz gegen Sie haben, und dann werden Sie ohne roth zu werden auf das

8
Mähre
Wortspiel mit Mähre=Pferd / Märe=erfundene Geschichte; zu den Pferden, hier das trojanische und Pegasus vgl.
HKB 157 ( I 398/20 )
.
höltzerne Pferd der Mosaischen Mähre sich zu setzen wißen. Was Ihnen ein

9
holtzern Pferd vorkommt, ist vielleicht ein geflügeltes – – Ich sehe leider, daß

10
Philosophen
nicht beßer als Kinder sind, und daß man sie eben so in ein

11
Feenland führen muß, um sie klüger zu machen; oder vielmehr aufmerksam

12
zu erhalten.

13
Ich sage es Ihnen mit Verdruß, daß Sie meinen ersten Brief nicht

14
verstanden haben; und es muß doch wahr seyn, daß ich schwerer schreibe, als ich

15
es selbst weiß, und Sie mir zugeben wollen. Es geht meinen Briefen nicht

16
allein so, sondern mit dem platonischen Gespräch über die Menschl. Natur

17
Mt 23,24
(‚seihen‘ hier durch „saugen“ ersetzt); ein auch an
Johann Gotthelf Lindner
geschriebener Vorwurf,
HKB 163 ( I 429/16 )
kommen Sie auch nicht fort. Sie saugen an Mücken und sch
l
ucken Kameele.

18
Steht nicht drinn geschrieben und ist es nicht gründlich genung bewiesen,

19
Platos lehrreiches Gespräch von der menschlichen Natur
, S. 51: „Sokrates. Du bist also niemals wankend und ungewiß über solche Dinge, die du nicht weißt, wofern es dir nur bewußt ist, daß du sie nicht weißt. // Alcibiades. Das halte ich dafür. // Sokrates. Du begreiffst also hieraus vollkommen, daß alle Fehler, die man begeht, aus dieser Art von Unwissenheit herkommen, welche machet, daß man etwas, so man nicht weiß, dennoch zu wissen glaubet. // Alcibiades. Was willst du hiermit sagen? // Sokrates. Ich sage, daß dasjenige, was uns eine Sache zu unternehmen antreibt, der Gedanke ist, daß wir es zu thun verstehen; denn wenn man überzeugt ist, daß man es nicht weiß, so überläßt man es andern. // Alcibiades. Das ist gewiß. // Sokrates. Diejenigen also, welche in dieser letzten Art der Unwissenheit stehen, begehen niemals einen Fehler, weil sie die Sorge für solche Dinge, die sie zu thun nicht verstehen, andern überlassen.“
daß keine Unwißenheit uns schadet; sondern bloß diejenige, die wir für

20
Eitelkeit halten. Ich setze noch hinzu, daß keine Unwißenheit uns verdammen

21
kann, als wenn wir Wahrheiten für Irrthümer verwerfen und verabscheuen.

22
Ist es Dir nicht gesagt; wird es dann heißen; ja es ist mir gesagt, ich wollte

23
es aber nicht glauben, oder es kam mir abgeschmackt vor, oder ich hatte meine

24
Lügen lieber.

25
Parrhesie
griech. παρρησία, Offenbarkeit, Wahrsprechen, Freimütigkeit, vgl.
HKB 157 ( I 397/1 )
,
HKB 162 ( I 422/25 )
Homeromastix
Homergeißel: Spitzname für den kynischen Redner Zoilos von Amphipolis (ca. 400–ca. 320 v.Chr.) wegen seiner Schmähschriften gegen Homer (aber auch gegen Platon u. Isokrates).
Sehen Sie immer meine
Parrhesie
für den Frevel eines
Homeromastix

26
oder für eine
cyni
sche Unverschämtheit an. Sie sind Herr, Dingen Nahmen zu

27
geben, wie Sie wollen – – Nicht Ihre Sprache, nicht meine, nicht Ihre

28
vll. anspielend auf die Schlussverse der 3. Str. von
Albrecht v. Hallers
„Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit“, das in
Kant,
Allgemeine Naturgeschichte
, S. 115 paraphrasiert und teilweise zitiert ist: „Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht, / Eilt eine Sonn, aus GOttes Kraft bewegt: / Jhr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt, / Du aber bleibst, und zählst sie nicht.“
Vernunft, nicht meine: hier ist Uhr gegen Uhr. Die Sonne aber geht allein recht;

29
und wenn sie auch
nicht recht
geht, so ist es doch ihr Mittagsschatten allein,

30
der die Zeit über allen Streit eintheilt.

31
vll. anspielend auf
Ov.
fast.
6,319ff., das Fest, zu dem Kybele die Götter, Nymphen und Satyrn lädt, außer Silenos, der mit seinem Esel dennoch auftaucht. Als alle betrunken sind, ist es der Schrei des Esels, der verhindert, dass Priapos sich an Vesta vergreift. In
Plat.
symp.
215a–217a vergleicht Alkibiades Sokrates mit einem Satyr, dabei geht es um den Zusammenhang von äußerlicher Hässlichkeit und innerer Schönheit (als Wahrhaftigkeit). Zum Esel vgl. auch
Hamann,
Aesthaetica
, N II S. 197/12, ED S. 161, mit
Ri 5,10
.
Wenn Sie ein Gelehrter Eroberer wie Bacchus seyn wollen; so ist es gut,

32
daß Sie einen
Silen
zu Ihrem Begleiter wählen. Ich liebe nicht den Wein des

33
Weins wegen, sondern weil er mir eine Zunge giebt Ihnen in meinem

34
Taumel auf meinem Esel die Wahrheit zu sagen.

35
Zoilus
s. oben
Z. 25
Weil ich Sie hochschätze und liebe, bin ich Ihr
Zoilus;
und
Diogen
gefiel

36
einem Mann
Alexander der Große hatte Hochachtung vor
Diogenes Laertius
trotz dessen frechem Ausspruch, er möge ihm aus der Sonne gehen: „Es geht auch die Rede, Alexander habe die Äußerung getan, wenn er nicht Alexander wäre, möchte er Diogenes sein.“ (
Diogenes Laertius
6,32)
einem Mann, der gleiche Neigungen mit ihm hatte; so ungl. die Rollen waren,

37
die jeder spielte.

S. 452
Wer eine beste Welt vorgiebt, wie
Rousseau,
und eine
individuelle,

2
atomi
stische und
momentanen
Vorsehung leugnet; der wiederspricht sich selbst.

3
Giebt es ein Zufall in Kleinigkeiten; so kann die Welt nicht mehr gut seyn,

4
ewigen Gesetzen
so etwa auch von Kant vertreten,
Kant,
Allgemeine Naturgeschichte
, S. 216.
noch bestehen. Flüßen Kleinigkeiten aus ewigen Gesetzen; und wie ein
Saecul.

5
aus unendl. Tagen von selbst besteht; so ist es eigentl. die Vorsehung in den

6
kleinsten
Theilen, die das
ganze
gut macht.

7
gefällt sich
1 Mo 1,10, 12
u.ö.; das Gefallen des Schöpfers wird auch betont in
Rollin,
Traité de la manière d’enseigner
(S. XLIIII in der dt. Übers. von Albert Fabricius, 1730).
Ein stoltzes Wesen ist der Urheber und Regierer der Welt. Er gefällt sich

8
selbst in seinem Plan; und ist für unsere Urtheile unbesorgt. Wenn ihm der

9
Pöbel über die Güte der Welt mit klatschenden Händen und scharrenden Füßen

10
Phocion
Plut.
vit.
, Phok. 8 (Phokion/Cato Minor)
Höflichkeiten sagt und Beyfall zujauchzt, wird er wie
Phocion
beschämt, und

11
bedeckten Augen und Füßen
Jes 6,2
frägt den Kreys seiner wenigen Freunde, die um seinen Thron mit bedeckten

12
Augen und Füßen stehen; ob er eine Thorheit gesagt, da er gesprochen: Es

13
werde Licht! weil er sich vom gemeinen Haufen über seine Werke bewundert

14
sieht.

15
Nicht der Beyfall des gegenwärtigen Jahrhunderts, das wir sehen, sondern

16
des künftigen, das uns unsichtbar ist, soll uns begeistern. Wir wollen nicht nur

17
unsere Vorgänger beschämen, sondern ein Muster für die Nachwelt werden.

18
Wie unser Buch für alle Klaßen der Jugend geschrieben seyn soll; so wollen

19
wir solche Autors zu werden suchen, daß uns unsere Urenkel nicht für

20
kindische Schriftsteller aus den Händen werfen sollen.

21
Ein eitles Wesen schafft deswegen, weil es gefallen will; ein stoltzer Gott

22
denkt daran nicht. Wenn es gut ist,
mag aussehen
wie es will; je weniger es

23
gefällt, desto beßer ist es. Die Schöpfung ist also kein Werk der Eitelkeit;

24
sondern der Demuth, der herunterlaßung. Sechs Worte werden einem großen

25
Genie
so sauer, daß er 6 Tage dazu braucht, und den siebenten sich ausruht.

26
Hor.
ars.
240ff.: „Auf eine Verssprache werde ich zielen, die ich aus Altbekanntem neu schaffe, so daß jeder, der sich Gleiches erhofft, viel schwitzt und vergeblich sich abmüht, sofern Gleiches er wagt“
Ex
noto
fictum carmen sequar; vt sibi quiuis

27
Speret idem; sudet multum, frustraque laboret

28
Ausus idem.

29
Heidelbergschen Catechismum
Kurfürst Friedrich III. gab den Katechismus 1562 in Auftrag, um die Streitigkeiten, die es in der Kurpfalz zwischen den verschiedenen Richtungen der Reformation gab, durch eine einheitliche Lehre zu beruhigen. Von den Lutheranern wurde er wegen seiner calvinistischen Tendenz abgelehnt.
Ex
noto
fictum carmen sequar;
Wenn Du einen Heidelbergschen

30
Cate
chismum schreiben willst; so fange nicht mit einem Philosophen vom Herrn

31
Christo
an, denn er kennt den Mann nicht. Und wenn
Du
deinen Zuhörern

32
einen Beweiß geben willst, daß die Welt gut ist; so weise sie nicht auf das

33
gantze
Kant,
Betrachtungen über den Optimismus
: „Unermeßliche Räume und Ewigkeiten werden wohl nur vor dem Auge des Allwissenden die Reichthümer der Schöpfung in ihrem ganzen Umfange eröffnen, ich aber aus dem Gesichtspunkte, worin ich mich befinde, bewaffnet durch die Einsicht, die meinem schwachen Verstande verliehen ist, werde um mich schauen, so weit ich kann, und immer mehr einsehen lernen: daß das Ganze das Beste sei, und alles um des Ganzen willen gut sei.“
HKB 163 ( I 425/30 )
,
HKB 163 ( I 429/13 )
gantze, denn das übersieht keiner, noch auf
Gott
, denn das ist ein Wesen, das

34
nur ein Blinder mit starren Augen ansehen kann, und deßen Denkungsart und

35
moralischen Charakter sich nur ein eitler Mensch zu erkennen zutraut. Ein

36
aufrichtiger Sophist
Simonides von Keos,
Cic.
nat.
I,60
aufrichtiger Sophist sagt, je länger ich dran denke, desto weniger kann ich aus

37
ihm klug werden.

S. 453
Ich will meinen Beweiß noch mit einem
Dilemma
schlüßen, und Sie

2
dadurch zur Freymüthigkeit und Offenherzigkeit gegen mich aufmuntern?

3
Warum sind Sie so zurückhaltend und blöde mit mir? und warum kann ich so

4
dreist mit Ihnen reden? Ich habe entweder mehr Freundschaft für Sie als Sie

5
für mich? oder ich habe mehr Einsicht in unsere Arbeit wie Sie? Sie fürchten

6
sich selbst zu verrathen, und mir die Unlauterkeit Ihrer Absichten, oder den

7
Mangel Ihrer Kräfte zu entblößen? Denken Sie an den Bach, der seinen

8
Ich glaube …
Ps 116,10
Schlamm auf dem Grunde jeden zeigt, der in denselben sieht. Ich glaube;

9
darum rede ich. Ueberzeugen
können
Sie mich nicht; denn ich bin keiner von

10
Ihren Zuhörern, sondern ein Ankläger und Wiedersprecher. Glauben
wollen

11
Sie auch nicht. Wenn Sie nur meine Einfälle
erklären
können; so argwohnen

12
Sie nicht einmal, daß Ihre Erklärungen närrischer und wunderlicher als meine

13
Einfälle sind. Ich will gern Gedult mit Ihnen haben, so lange ich Hofnung

14
schwach seyn
2 Kor 12,10
haben kann Sie zu gewinnen, und
schwach
seyn, weil Sie
schwach
sind. Sie

15
müßen mich fragen und nicht Sich, wenn Sie mich verstehen wollen.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg (ohne Signatur).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 504–514.

Kant, Werke [Akademieausgabe] X 26–31, vgl. XIII 15 f.

Walther Ziesemer: Hamannbriefe. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 7 (1942), 117–124.

ZH I 448–453, Nr. 170.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
449/27
Mensch
]
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH:
Mensch
451/10
Philosophen
]
Geändert nach Druckbogen (1940); ZH:
Philisophen

Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
Philosophen

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Philosophen
452/2
momentanen
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
momentane

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
momentane
452/22
mag aussehen
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
mag
es
aussehen

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): mag
es
aussehen