139
302/32
Herzlich geliebtester Freund,

33
Ich bin gestern bey HE. Hofrath von Baumann gewesen, zweymal, es war

34
Feldmarschalls
vll. Fermov, der mit seinen russ. Truppen Königsberg besetzt hielt.
aber unmöglich anzukommen, weil Ihre Excell. des HE. Feldmarschalls zu

S. 303
Schloße speisten; heute frühe wieder vergebens. Es wird schwer seyn

2
anzukommen während des letzteren Aufenthalts. Ich habe mir Mühe genung

3
gegeben den jungen B. zu sprechen, er hat
Charmois
versprechen laßen mich

4
sogl. zu besuchen, auch im Schloßkeller sein Wort gegeben. Bey dem ersteren

5
kommt er nicht mehr, und bin bisher nicht im stande gewesen ihn aufzufinden.

6
So viel können Sie glauben, daß mir unendl. viel gelegen ihn selbst zu sehen

7
– und mich nach seinen Umständen zu erkundigen. Ich habe gehört, daß er vor

8
einigen Wochen auf der Wache geseßen und alle seine Zeit an öffentl. Oertern

9
zubringen soll. Man hat ihn mir allenthalben als einen gewaltigen

10
Windbeutel beschrieben.
Relata refero.
Er hat durch einen Irrthum seinen Bruder

11
Schwartzen
vll.
Johann Christoph Schwartz
, aber auch das wäre eine Falschmeldung gewesen.
Christoph gewaltig beweinet, weil er die Nachricht von des jungen Schwartzen

12
Tode auf den ersteren misverstanden. Dieser Umstand von seiner Zärtlichkeit

13
macht mir noch einige Hofnung, da ich weiß daß dieser Bruder ihn gleichfalls

14
Weßel
nicht ermittelt
vorzügl. geliebt.
Md
me
Weßel erzählte mir, daß ihr Sohn wo ich nicht irre,

15
ihm die Nacht durch Gesellschaft leisten müßen, wo er nicht zu trösten

16
gewesen. Diese Frau, die sich noch bey HE. von
Charmois
aufhält, hat mir

17
gleichfalls auf das dringendste eine
Commission
aufgetragen, worinn ich ihr

18
versprochen mich an Sie zu wenden, ob es nicht möglich eine Stelle für ihren

19
Sohn in einem dortigen Laden zu finden oder in Petersb. ihn zu einem

20
Kaufmann zu
recommendi
ren. Ich ersuche Sie, Geliebtester Freund, daher sich alle

21
Goth.
evtl.
Paulus de Gothan
Mühe zu geben und HE. Berens mit zu Hülfe zu nehmen – an Goth. mag

22
nicht denken in dieser Angelegenheit – ob dies mögl. ist dort oder in Petersb.

23
auszuwirken. Laßen Sie sich doch diese Sache empfolen seyn; weil man mir

24
die Ohren darüber so voll gewinselt und gepinselt. Der
ehrl. Mann
liegt mit

25
der Schwiegermutter im argen Proceß, weil sie kein Geld herausgeben will –

26
er hat seinen guten Freunden sagt
D.
Funk auf Leib und Seele zugeschworen,

27
daß er wie ein
vernünftiger Mann
heyrathete. Man ist ein Narr solche Leute

28
zu beklagen und ein Unmensch sie nicht zu beklagen.
à Dieu
hierüber.

29
Sie sehen, liebster Freund, warum ich heute noch nicht an die HErren Berens

30
schreiben kann; weil ich noch nichts in Ansehung Ihres Bruders Ihnen

31
melden kann, deßen Schicksal mir sehr zu Herzen geht. Ich werde nicht eher

32
schreiben, als biß ich Ihnen einige Genugthuung über seine Umstände geben

33
kann. Für Ihre Einleitung in seinem Briefe bin Ihnen sehr verbunden. Was

34
Zuschriften
nicht überliefert, wohl von
Johann Christoph Berens
Sie Heftigkeit in unsers Freundes Zuschriften nennen, kenne ich nicht. Ich

35
sehe alles als eine Wirkung seiner Freundschaft an, und diese als ein

36
Geschenk so wohl als Prüfung Gottes. Er droht oder verspricht mir, mich nicht

37
aus dem Gesichte zu verlieren; ich ihn und sein Haus auch gewiß nicht. Er soll

S. 304
sich aber um mich so wenig bekümmern, als ich um ihn. Ich gönne ihm seine

2
Geschäfte; und Er soll mir meine Muße gönnen. Laß ihn Gott danken, daß er

3
arbeiten kann; und ich bin ihm für die Ruhe, die er mir giebt eben so viel

4
schuldig. Prahlen und triumphiren muß er nicht. Doch diesen Spruch versteht

5
Herodot
1,32
er eben so wenig mitten im Gewühl seiner Arbeiten, als
Croesus
unter seinen

6
Reichthümern, was ein wahnsinniger Grieche zu ihm sagte.

7
Alle seine Briefe, die er mir
geschrieben hat
, und noch
schreiben kann
,

8
selbst diejenigen, die er nicht imstande ist zu Papier zu bringen, habe ich schon

9
gelesen und auswendig gewußt, ehe ich
einen Schritt
aus Engl. gesetzt. Also

10
bedaure ich recht sehr die Nächte, die er darüber zugebracht; sie sind für mich

11
verloren – für ihn selbst aber nicht. Sie werden ihm vergolten werden und er

12
wird den Nutzen selbst davon einmal genüßen können, den er mir jetzt

13
zugedacht hat. Sein eigener Gewinn aber wird immer der meinige seyn.

14
Unser Freund ist ein guter Botanist, er versteht sich auf Blumen und

15
Decocte
Absud für Infusionen
Pflantzen. Seine Augen und Nase sind für das Feld gemacht – seine
Decocte
und

16
Säfte sind herrlich in ihrer Art. Im
minerali
schen Reich aber ist er ein

17
Fremdling und ein
Chymi
st wird er niemals werden. Wozu man Stofe und Pfunde

18
von den ersteren nöthig hat, das kann der letzte mit Granen und Qventchen

19
Mercur
Quecksilber
von
Mercur
und
Antimonium
ausrichten. Wahrheiten sind Metalle die unter

20
unter der Erde
Ps 139,15
; vgl.
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 20/15, N II S. 66/12, ED S. 28f. u.
HKB 142 ( I 314/12 )
der Erde wachsen. Graben mag er nicht – das allein heist arbeiten, man mag

21
es mit einem Pfluge oder Spaten thun, ohngeachtet diese Arbeit in nichts

22
besteht als Wegräumen der Erde und Schwitzen des Antlitzes – daß ich mich

23
nicht zu betteln schäme, kann ihm sein Herr Bruder sagen, weil ich aus

24
politischen Gründen weiß daß 100 Bettler einem Staat
mehr
so viel Nutzen

25
bringen, als 1 Pächter ihm Schaden verursacht. Warum die Marktschreyer

26
und Springmeister und Opernsänger so unverschämte Bettler, wie ich und

27
meines gleichen, das liegt an der Unwißenheit und Geschmack. Mächtige

28
Sultane haben Veziere nöthig, die noch mächtiger sind.

29
Ich schleudere meine Gedanken weg. Von Gebirg zu Gebirg sollte der

30
Odenschreiber gehen, aber nicht der Briefsteller.

31
Unser Freund verlangt, ich soll alle seine Briefe nach dem Buchstaben

32
nehmen. Was er mir vom Loch vorsagt, wo nicht Sonne nicht Mond scheint,

33
und wohin er mich zu meiner Beßerung will setzen laßen – – wenn ich das auch

34
nach dem Buchstaben nehmen soll: so wäre das alberner und kindischer von

35
ihm gedacht und geschrieben, als mir je etwas in meinem ganzen Lebenslauf

36
entfahren seyn mag. Lieber Herr Magister, wie heist folgende Figur in der

37
Rhetoric:
Um nicht Hunger zu sterben, hatten Sie die Bibel nöthig, um sich

S. 305
hysteron proteron
Umstellung (von Buchstaben)
zu überwinden herzukommen. Soll das nicht ein
hysteron proteron
von einer

2
Metathesis
Umkehrung der zeitlichen oder logischen Reihenfolge einer Aussage
Methathesis
seyn. Hat er nicht schreiben wollen: Um nicht Hungers zu

3
sterben, hätte ich nöthig gehabt wieder zurückzukommen, um mich zu überwinden

4
aber die Bibel. Dies hat er in Gedanken gehabt – das ist auch
wahr
. Was er in

5
der Figur redet, aber
noch wahrer
, und ich laße es bey den Worten, so falsch

6
des Autors Sinn gewesen seyn mag: daß meinen Hunger nichts anderes als

7
dies Buch gestillt, daß ich es wie Johannes geschluckt, und die Süßigkeit und

8
Bitterkeit deßelben geschmeckt habe – und daß ich mehr Ueberwindung zu

9
Lebenslauf
unklar, ob damit
Hamann,
Gedanken über meinen Lebenslauf
gemeint ist, vgl.
HKB 139 ( I 308/27 )
.
meinem Entschluß nöthig gehabt, als ihm mein Lebenslauf sagt, ich ihm selbst

10
jemals sagen kann und sagen werde. Das weiß derjenige beßer, der nicht nur

11
Herzen sondern auch Nieren prüft – diese Absonderungsgefäße unserer natürl.

12
Unreinigkeiten pp – beßer sage ich, als ich selbst und Er.

13
Ob meine Gedanken mit den Seinigen nicht beßer hätten einschlagen

14
können ohne Verletzung meines Gewißens? Wenn das eine Aufgabe ist, so laß

15
ihn einen Preiß darauf setzen, daß ich weiß, wie viel ich mit meiner Arbeit

16
verdiene. Ich soll mich
rechtfertigen
– – das werde ich nicht, wenn ich es auch

17
noch so gut könnte. Mit seinen Anklagen kommt er auch zu spät, und wird

18
nichts damit für sich Selbst noch wieder mich ausrichten. Ein Geist zum

19
Niederreißen, nicht zum Bauen; darin besteht der
Ruhm
eines
Hume.
Unser

20
Zeit
Pred 3,1
Niederreißen und Bauen – Alles hat seine Zeit, so eitel wie es ist.

21
Ein frommer Mensch ist also ein unbrauchbarer und undankbarer – weil

22
ich es bin. Undankbarkeit wurde nur in Egypten wie ein Verbrechen bestraft;

23
große Leute laßen ihre undankbare Clienten mit einem gedruckten Briefe

24
Glieder …
Livius
,
Ab urbe condita
2,32, eine Fabel von Menenius Agrippa
jetzt laufen und bekümmern sich nicht um sie. Unbrauchbar; schrien die Glieder

25
Journalen
vll. Anspielung auf eine von
Johann Christoph Berens
geplante Publikation,
HKB 55 ( I 134/30 )
.
über den Magen. Wenn ich zu
Journal
en,
Praenumerations
werken – und

26
Handlungsbüchern
vll.
Hamann,
Beylage zu Dangeuil
, für die es eine Praenumeration zur Subskription hätte geben sollen, die aber der Verleger
Johann Friedrich Petersen
unterließ, vgl.
HKB 63 ( I 158/11 )
.
Handlungsbüchern unbrauchbar bin – wenn mich die Welt wie ihren

27
Martha
Lk 10,40
Auskehricht ansieht; desto beßer für mich. Ohne die Mühe einer Martha das beste

28
Theil!

29
unnützer
Lk 17,10
Ich kann und will arbeiten – und habe gearbeitet – aber wie ein unnützer

30
Knecht: am liebsten für meine Freunde und Wohlthäter – nicht wie ein Heyde

31
und Zöllner – die haben ihren Lohn dahin: Ehre und Undank.

32
so etwa in
Johann Albrecht Bengel
Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi
(für dessen Schriften sich Hamann derzeit interessierte,
HKB 137 ( I 298/16 )
) zu lesen (37. Rede, S. 758), worin die babelsche Verwirrung mit den Konfessionen in Verbindung gebracht wird.
Wie lange ist Rom Babel gescholten worden und besteht noch – die starke

33
Stadt! Sie hieß zu alten Zeiten
Valentia
und die Trojaner nannten sie in

34
ihrer Sprache
Roma. Publicum, Commercium, Familie!
Willst du
Hercules,

35
Bildhauer
Praxiteles
Apollo
oder
Mercur
heißen; sagte jener Bildhauer zu seinem Klotz.

36
Ich danke Ihnen für ihren Unterscheid zwischen
Wollen
,
Geitzig wollen
,

37
und eine Sache mit den gehörigen
Mitteln wollen
. Unser Wille ist verderbt

S. 306
und unser Gewißen witzig, vernünftig, gelehrt, katholisch, lutherisch – Was

2
geht mir also mein und anderer Gewißen an. Es heißt nicht: was nach dem

3
Gewißen nicht ist; sondern was nicht aus dem Glauben kommt ist Sünde;

4
jedermanns Ding
2 Thess 3,2
und der Glaube ist nicht jedermanns Ding, sondern
Gottes Werk
.

5
Weil man das Vertrauen zu Ihnen hat mich auszuholen oder deutlicher

6
zu verstehen, so will ich noch einige Erinnerungen bitten unserm Freunde zu

7
Gemüth zu führen. Er bleibt immer bey seinem Gesichtspunkt und fürchtet

8
sich so bald er denselben verliert, daß alles dabey mit verschwindet, weil er

9
Sich selbst darinn nicht mehr zurückgeworfen findet. Ich kenne seine Lage so

10
genau, weil ich selbst darinn gewesen bin, ich kenne die Befremdungen, die

11
Wüste, worinn wir gerathen, wenn wir aus der Sclaverey uns. Leidenschafften

12
ausgehen, und durch wie viel Fratzengesichter wir eingeschreckt werden – –

13
Laß ihn doch nur bey allen den gründl. Entdeckungen die er über mein Herz

14
gemacht, in seinem eigenen Busen fühlen und sich so gut für einen

15
Mischmasch von großen Geiste und elenden Tropfe erkennen, als er mich mit viel

16
Schmeicheley und Treuherzigkeit erklärt. Ist er nicht ein Mensch so gut wie ich

17
– und dazu mein Freund, der Nächste – Sollten ihn diese einfältigen

18
Vorstellungen nicht zurück führen – Wenn ich ihm zu schlecht zu dieser
parallel
bin,

19
hat er nicht Brüder, deren Bruder er ist, und die er lobt und schilt – Sein

20
Lob und Tadel ist aber partheyisch, er liebt Geschenke so gern als er sie giebt.

21
Laß ihn aufhören so ein groß Lärm mit meinem Beten, Händefalten,

22
Beichten pp zu machen. Arbeite, was hast du mit der
moralität
meiner Handlungen

23
zu stehen? So reden nicht Freunde unter einander, sondern der Herr mit seinem

24
Sclaven. Wahrheiten kommen uns grob vor, wie die Zeichnungen der Natur

25
ohne es zu seyn; Lügen hingegen sind gedrechselt und polirt für das Auge wie

26
die Werke der Kunst, und sind ungehobelt.

27
Behalten Sie nur so viel Religion zur Noth – – dies ist ein weiser Rath, wie

28
Hiobs Weib
Hi 2,9
Hiobs Weib
seiner
ihrer, die nicht Gott wollte geflucht, sondern
geseegnet

29
Biblische Betrachtungen
, LS S. 284/26;
Über Descartes
, N IV S. 221/22f. und in Hamanns Übers.
Rapins Betrachtungen über die Naturlehre
, N IV S. 111/20ff.
haben.
Cartes
konnte die Kunst, er vergaß und leugnete alles und hielt nichts

30
für Wahrheit – – außer den schlauen Kunstgriff einen Catechismum und Sein

31
eigen Selbst als 2 wichtige Wahrheiten zum Grunde zu legen. Cartes hat die

32
Wahrheit nicht gefunden, niemals geliebt, auch niemals erkennen können.

33
Diese
Methode
, wie er sie nennt, ist gut zu einem Projekt und Würbelsystem.

34
Arbeiten zu suchen – die Mühe darf man sich nicht geben. Aus Gefälligkeit

35
habe ich sie gesucht, oder mich suchend gestellt. Arbeit suchen ist ein eben so

36
ängstlich Ding als die Luft erst suchen wollen, die man schöpfen soll.

37
Laß unsern Freund doch zurück denken auf die Begriffe die er ehmals von

S. 307
Handelssachen gehabt – Wenn es uns in irdischen Dingen so geht, wie wird

2
irdische Mensch …
1 Kor 2,14
es in geistlichen Dingen gehen. Der irdische Mensch, der natürliche vernimmt

3
nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Thorheit – eine Aergernis. Die

4
Gottseeligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung auch des

5
gegenwärtigen Lebens, gesetzt, daß uns jenes nur alsdann angienge, wenn wir

6
keinen andern Rath mehr in diesem wüsten. Ich kenne Gichtel und Böhme so

7
wenig wie unser Freund; sie sind Menschen gewesen, das ist genung für mich.

8
Gottes Wort und Gottes Werk ist alles, worauf ich mich gründe, dem ich

9
vom sorglosen Dasein der Götter:
Lucr.
de rerum natura
5,82 u. 6,58
glaube – Lukretz singt: die Götter sind Schlafmützen und Spinoza:

10
Mechanismus, was ihr Gott zuschreibt. Anstatt daß Moses schreibt: Am Anfang schuff

11
Gott; beweist Büffon: Am Anfang fiel ein Comet auf die Sonne, daß die

12
Stücke davon flogen.

13
Wenn unser Freund meine jetzige Gemüthsverfassung für sehr

14
bedaurenswürdig ansieht, so laß er meine Schwärmerey nicht als ein
alienum quid

15
ansehen, das ihn nicht befallen könne. Unruhig darf er für mich
s
nicht seyn,

16
ist ihm mit meiner Zufriedenheit gedient, so genüße ich sie jetzt, und werde sie

17
in jeder Veränderung meines Schicksals haben, das ich Gott empfolen seyn

18
Pardel
Leopard,
Jer 13,23
laße; und in deßen Schoos alle meine Sorgen liegen – Ein Pardel bin ich,

19
m
seine Seife wird meine Flecken nicht anders machen. Ein Hofmann, wie

20
er, erniedrigt sich sehr biß auf meine Geschwüre, seine Hunde werden mir

21
selbige nicht heil lecken. Wenn man nichts anders als Sonden zu brauchen

22
weiß, es gehören auch Pflaster und Balsam dazu. Alle Schmeicheleyen, die

23
er mir macht, thun mir weher, als seine beißende Einfälle. Das sind Sonden,

24
mit denen er fühlen will, ob ich noch bey gesunder Vernunft bin und Ehrgeitz

25
besitze. Wenn ein Enthusiast ein Thor ist; so fragen Sie ihn bey guter Laune,

26
ob er nicht bisweilen sich selbst in seinen Absichten und besten Werken dafür

27
erkennen muß. Ob ich die neuste Sekte – oder Er das gröste Haus aufrichtete:

28
sottise de deux parts
doppelte Torheit, nach dem Titel einer Schrift
Voltaires
(1728),
HKB 103 ( I 225/9 )
.
sottise de deux parts.
Die Menschen lieben – das heist für sie leiden,

29
ihrentwillen gekreutzigt werden. Die beste Parthey also, die man ergreifen kann,

30
ist um Gotteswillen arbeiten; leben, weil er es so haben will, arbeiten, weil er

31
es so haben will, ruhen – Wenn er ja wißen will, was ich jetzt thue; so sagen

32
Sie ihm, daß ich
lutherisire;
es muß doch was gethan seyn. Dieser

33
Augspurg
Üblicherweise wird der Ausspruch
Luthers
als Ende seiner Rede auf dem Wormser Reichstag 1521 überliefert.
ebentheuerl. Mönch sagte, zu Augspurg: Hie bin ich – ich kann nicht anders. Gott

34
helf mir Amen.

35
Mein alter Vater erholt sich Gott Lob! von Tage zu Tage. Ungeachtet ich

36
ihm zu nichts nütze bin, kann er meiner nicht entbehren. Ich kann und werde

37
ihn daher nicht verlaßen. Dies ist jetzt mein Beruf ihn zu warten und ein

S. 308
wenig durch meine Gesellschaft zu pflegen. Ist es Gottes Wille; so werde ich

2
eben so geschwind zu meinen Freunden zurücklaufen, als ich ihnen entwischt

3
bin – sie mögen mich gerne sehen oder nicht – daran ist mir nichts gelegen.

4
Wollen Sie mich einlaßen – gut – wollen Sie nicht – geh ich weiter. Ist es

5
nicht Gottes Wille: so werden alle Stricke nichts helfen. Nicht mein Bogen,

6
der reicht nicht biß zu Gottes Thron, wenn ich auch Gebet auf Gebeth

7
abdrücken könnte, nicht mein Arm – nicht seine Briefe, nicht seine

8
Executions
befehle – werden mir hier ein Stück
Land
Erde erwerben, geschweige jenes

9
Land der Verheißung. Sein Gebet und das meinige, seine Arbeitsamkeit und

10
Freygebigkeit, und meine Unbrauchbarkeit und Undankbarkeit, Seine

11
Gerechtigkeit und meine Beichten sind nicht die Schlüßel weder zu Hölle noch zu

12
Davids
Jes 22,22
Himmel. Die sind in Davids Hand. Bitten Sie ihn, daß er davon künftig

13
nicht ein Wort redt. Hat er Recht: so laß ihn den Lohn davon erwarten? Hab

14
ich Unrecht: so verlaße ich mich auf Gnade. Gnade geht bey großen Herren

15
vor Recht – er lobt
die
den ungerechten Haushalter, weil er klug war; und

16
er allein macht die
albernen
klug – und lehrt die
elenden
recht.

17
Daß ich an keine Träume glaube, kann ihm meine ganze Aufführung

18
zeigen. Wenn er sich darum erkundigen will, und unpartheyisch davon urtheilen;

19
so würde er leicht urtheilen können, daß ich ganz entgegengesetzt gehandelt

20
haben würde, wenn ich mich auf Dinge gründete, die über meine Sinnen und

21
myops
Kurzsichtiger
Begreiflichkeit sind. Ich bin ein
myops
– das mus mir nahe kommen, was ich

22
sehen soll – alles was ich noch sehe, geschieht aber Gott Lob! noch durch

23
natürl. Augen. Mein
Gesicht
Auge ist kurzsichtiger, aber aushaltender – –

24
es könnte beßer seyn. Ich will es lieber schonen und kein Autor werden, als

25
mich auf die Künste eines Hillmers und Taylors verlaßen, mich dazu

26
vorzubereiten, oder den Schaden zu ersetzen.

27
Mein Lebenslauf läßt sich nicht durchblättern – und mit Eckel lesen. Einem

28
Freunde zu gefallen muß man nicht so eckelhaft seyn. Er kann von meinem

29
Vertrauen schlüßen, daß ich selbigen dem Zufall ihn in die Hände zu gerathen

30
überlaßen. Herr Berens wird noch Zeit nöthig haben und ganz andere

31
Erfahrungen, als er bisher gehabt oder kennt, ehe er vieles darinn, so wie in meinen

32
Briefen, verstehen kann. Fleisch und Blut sind
hypothesen
– der Geist ist

33
Wahrheit.

34
Ihre Gedult wird ausreißen, Geliebtester Freund! Ich werde Sie künftig

35
mit dergl. Briefen verschonen. Kurz und rund. Der Bescheid ist der. Ich bin

36
Ihnen
den
Berens
Ihnen bisher unbrauchbar gewesen und bin es noch; daher ist es mir lieb,

37
daß ich wenigstens nicht im Wege bin – und dies würde gewiß seyn, wenn

S. 309
mich Gott nicht herausgerißen hätte. Jetzt gehe ich meinem alten Vater zur

2
Seite, und frage nicht darnach, wie viel Abbruch oder Vortheil ich ihm schaffe.

3
Gott erhalte ihn, und so lange er in den jetzigen Umständen ist, fehlt ihm ein

4
Sohn, ein solcher Müßiggänger und durchfahrender Kopf wie ich bin. In

5
dieser Verfaßung kann ich nichts ordentl. anfangen, und werde es auch nicht.

6
Was mir Gott jeden Tag zuschneidet will ich thun, wie es mir in die Hand fällt.

7
Ich bete und arbeite, wie ein Christ, wie ein Pilgrimm, wie ein Soldat zu

8
Bestimmung
vgl. im Gegensatz dazu
Brief 81
Friedenszeiten. Meine Bestimmung ist weder zu einem Kauf- Staats- noch

9
Weltmann. Ich bin nichts, und kann zur Noth Allerley seyn. Bibellesen und

10
Beten ist die Arbeit eines Christen, wie Romanen und der Putztisch eines

11
Stutzers. Jedes Buch ist mir eine Bibel und jedes Geschäfte ein Gebeth. Das

12
sind keine Einfälle – Das Pfund ist von Gott, der Gebrauch deßelben von

13
Gott, der Gewinn gehört ihm. Meine Seele in seiner Hand mit allen

14
moralischen Mängeln und Grundkrümmen derselben. Ihre Richtigkeit ist das Werk

15
eines Geistes, eines Schöpfers, eine
s
Erlösers; und sie gerade und gesund zu

16
machen, gehört weder für mich noch für meinen Freund; gehört auch nicht

17
für diesen Leib und für dies Leben. Staub, Erde und Asche werden wir drey

18
werden und sind es schon. Ich sterbe täglich.

19
Hartin
nicht ermittelt
Ihre liebe
Mama
habe gestern besucht und eine Frau Hartin bey ihr

20
gefunden. Sie ist gesund. Sie meldete mir, daß der jüngere HE. Bruder aus

21
Grünhof
vom Gut der
v. Wittens
; heute Zaļā muiža in Lettland [56° 31’ N, 23° 30’ O])
Grottendorfs
nicht ermittelt
Grünhof fort wäre – nach Grottendorfs Bericht. Ich zweifele daran. Melden Sie

22
mir doch. An Baßa habe aus Mitau und von hier aus geschrieben und an

23
engagements
wohl Geschäfte
seine
engagements
erinnert – er sollte schon an HE. Arend geschrieben haben

24
Johannis
24. Juni, in vielen baltischen Gegenden zur Sommersonnenwende am 21. Juni gefeiert.
nach meinem Rath. Das ist alles, was ich thun kann. Biß Johannis hieß es.

25
HE
Doctor
grüßen Sie herzlch. Bitten Sie beyde Kurländer mich zu schreiben.

26
Ich umarme Sie herzlich in Gesellschaft meines lieben Alten, der Ihren Brief

27
mit Vergnügen selbst gelesen. Drey Mäulchen für Jgfr. Marianchen. Leben

28
Sie wohl. Ich ersterbe Ihr aufrichtig ergebenster Freund.

29
Königsberg. den
21. März. 1759.
Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (33).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 352–364.

Paul Konschel: Der junge Hamann. Königsberg 1915, 102–109.

ZH I 302–309, Nr. 139.