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S. 299
Königsberg, den
14. März 1759.
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Herzlich geliebter Bruder,
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Ich habe Dir neulich ein zieml. Pack Briefe geschickt und an Dir nichts mehr
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als das
Couvert
füllen können. Die kurländische Post hatte mich so lange
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aufgehalten, daß Du zu kurz darüber kamest. Unterdeßen hast Du einige
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Zeilen
nicht überliefert
Zeilen von unserm lieben Vater erhalten, der gern oft und viel von Dir zu
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lesen wünschet. Gottlob! daß Du Dich beßer befindest und daß Du Deine
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Krankheit mit weniger Unruhe hast abwarten können. Es ist mir lieb, daß
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Du dich im Engl. mit mir üben willst, Du wirst mir aber nicht zumuthen, daß
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ich Dir antworte, weil ich nicht lust habe in der Sprache zu schreiben. Laß Dir
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dies nicht abhalten in dieser Uebung fortzufahren, ich werde Dir einige
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Anmerkungen mittheilen.
Let God comfort his legs, comfort
heist trösten,
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strengthen
stärken; beßer
God may.
Allemal den
Accus.
nach dem
verbo;
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ein Fehler auf den Du sehr Achtung geben must, weil er Dir sehr geläufig und
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hierinn ist die engl.
Construction
so gebunden als die französische. Nicht
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Thou shall me very oblige
sondern
You
shall greatly oblige me.
Der Engl.
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Erskine
nicht ermittelt
braucht eben so wenig Du als der Franzose. Wenn Du in
Erskine
was
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findest, womit Du nicht fortkommst oder worinn Du ungewiß bist, so melde mir.
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Ich habe gestern bey
Diac. Bucholtz
zu Mittag gespeiset. Sonntags
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schickte die Fr.
Consist.
R.
Lindner
voller Unruhe zu mir, man wäre sie
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condoli
ren kommen über des HE.
Rectors
Tode; ich werde sie Ihrem Ersuchen
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Briefe
nicht überliefert
nach diese Woche besuchen und sie mit Deinem Briefe desto mehr Beruhigung
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geben. Heute denke bey HE. v.
Charmois
zu gehen, so ungern ich es thue, so
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evtl.
Adam Heinrich Berens
wünsche ich doch einige Nachricht bey ihm von dem jüngeren Berens zu
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haben, der sich hier aufhalten soll, und den ich ungeachtet alle Mühe nicht habe
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ausfragen können. Weil er dort Bekanntschaft hat, so denke mit einiger
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guten Nachricht seinetwegen nach Hause zu kommen. Erfahre ich etwas,
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womit seinen Herren Brüdern gedient seyn möchte, so würde Anlaß nehmen an
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Herrn
Carl
zu schreiben; sonst nicht. Ich danke Dir für deine gutgemeinte
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Erinnerung hierinn und werde selbige in allen Dingen jederzeit gut
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aufnehmen; Du wirst mir aber dabey erlauben, daß ich selbige nur in so weit folge,
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als mein Herz und die Umstände es mir erlauben werden. Gehe mein lieber
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Bruder, Deinen Weg gerade fort und mache Dir aus keinen fremden
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Angelegenheiten einige Bedenklichkeit. Gesetzt daß man mich für undankbar und
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grob oder was man will auch allgemein erklärte, so laß Dich nichts anfechten.
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Gewöhne Dich frühe als ein Christ gegen Menschenfurcht und
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Menschengefälligkeit zu streiten. Warte Dein Amt um Gottes willen ab – diene Deinem
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Nächsten um Christi willen – dulde, ertrage, entschuldige, lehre, strafe,
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Nord
Hes 1,4
ermahne – donnere und träufele – sey ein brausender Nord und säuselnder West.
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Werkzeuge
Röm 6,13
Erkennen wir uns immer als Werkzeuge einer höheren Hand, die ohne Ihn
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und Seinen Geist nichts thun können: so mögen wir uns selbst und andern
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vorkommen wie wir wollen. Wenn eine Mutter nicht einmal weiß, was die
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Natur in ihrem Eingeweide bildet: wie sollte unsere Vernunft etwas davon
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begreifen können, was Gott in uns würkt, würken kann und will – Sie mag
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Brief
nicht überliefert
Uebelkeiten, Wehen, seltsame Einfälle fühlen. Dein Brief machte mich ein
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wenig Nachdenkend und krank; ich befinde mich Gott Lob! völlig munter
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und stark wieder. Suche auch, mein lieber Bruder, die jetzige Fastenzeit ihrem
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Endzwecke nach und der Kirche ihrem gemäß öffentlich und in der Stille
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anzuwenden. Habe im Gedächtnis Jesum den Gekreutzigten – der unter die
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Uebelthäter gerechnet wurde – Sollten wir nicht ehrgeitzig darauf seyn
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gescholten, in Verdacht gezogen, verachtet und geschmähet zu werden; und bey
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allen unsern inneren und äußeren Verlegenheiten, bey jedem Schlangenbiß
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aufsehen auf Jesum den Anfänger und Vollender des Glaubens. War er
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nicht Gott, daß er sich Freuden hätte schaffen können? Giebt es keine im
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Himmel, was will uns die Erde welche geben. Er zerriß den Himmel um sich zu
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erniedrigen biß zum Tode am Kreutz – Er erduldete das Kreutz und achtete der
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Schande nicht, und ist geseßen zur Rechten auf dem Stuhl Gottes. Das ist
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der Weg also, die Wahrheit und das Leben. Was für Wiedersprechende und
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Griechen
1 Kor 1,23
alberne Dinge für Griechen. Gedenket an Den, der ein solches wiedersprechen
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von den Sündern wieder Sich erduldet hat – daß ihr nicht in eurem Muth matt
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werdet und ablaßet.
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Ich bete und arbeite ungeachtet ich weder weiß, was ich beten noch was ich
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hier arbeiten soll. Mir gefällt es in meines Vaters Hause so gut als in meiner
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Freunde. Ich kann dem ersteren so wenig helfen noch zur Hand gehen als den
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letzteren. Demohngeachtet glaube ich dem ersteren lieber und nöthiger als den
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dortigen zu seyn – und ich kann und werde unsern Vater nicht verlaßen. Er ist
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nicht neugierig alle meine Verknüpfungen zu wißen und ich bin nicht im
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stande, würde es auch nicht seyn, habe auch wenig Lust ihn mehr davon zu sagen,
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als er weiß. (Es ist mir lieb, daß er darüber so gleichgiltig und ruhig ist als ich
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es bin.) Man wird nicht im stande seyn,
meine
die Räthsel so bald
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aufzulösen, die ich nach mir gelaßen. Man will mit meinem Kalbe nicht pflügen.
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Ich kenne den Frieden aus dem Genuß, der über alle Vernunft ist. Wältze
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Deinen Weg auf den Herrn, und hoffe auf Ihn, Er wirds wohl machen –
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und wird Deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und Dein Recht wie
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den Mittag. Sey still – dem Herrn – und warte – auf Ihn. Bin ich nicht
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mitten unter ihnen und in ihrer Gewalt gewesen; warum hat mich keiner beißen
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können. Wenn
S
sie mir jetzt die Zähne weisen wollen, so wäre ich befugt
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lachen
Ps 37,13
zu lachen. Lerne mein lieber Bruder, an meinem Beyspiel, daß Menschenhülfe
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nichts nüze sey, und ihr Zorn ein noch eitler Ding. Was für ein Spuck kann
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Blase
Beutel/Kapsel,
3 Erbsen
Sprichwort: Drei Erbsen in der Hülse machen mehr Lärm, als wenn sie voll wäre.
der Teufel mit einer Blase machen, gesetzt daß er nicht mehr als 3 Erbsen in
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selbige gelegt hätte
NB
dem, der an Spucken glaubt und sich dafür fürchtet.
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Ich schreibe zu meiner Erleichterung und vielleicht zu Deinem künftigen
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Gebrauch. Wenn Du auch jetzt mit einiger Gleichgiltigkeit dergl.
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Empfindungen ansiehest und Dir lieber dafür einige gelehrte, critische Gedanken und
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Neuigkeiten dafür zu lesen wünschen möchtest: so kann vielleicht bald eine
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Zeit kommen, wo Gott Dich auch prüfen und läutern will – wie das Silber
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durch Feuer oder freßende Feuchtigkeiten oder an harte Steine – und denn ist
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nichts bewahrt als das Einzige – der Eckstein, – der Geplagte, an dem wir
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sonst keine Gestalt noch schöne finden. Wie tod ist das was Menschen uns von
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ihm sagen, von Seiner Gnade und Wahrheit, was Fleisch und Blut uns davon
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offenbart gegen das, was uns Gott selbst darinn lehrt. Wie würden wir uns
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sehnen nach der Taufe, wie Er für uns zu leiden, damit auch seine
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Herrlichkeit an uns offenbar würde.
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Wenn Gottes Gerichte Länder treffen, so gehen sie auch Häuser, Familien
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und die Glieder derselben an. Es heist im Gesetz: Der Herr wird Dich
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schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Rasen des Herzens; und wirst tappen im
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Mittage wie ein Blinder im Dunkeln und wirst auf Deinem Wege kein Glück
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haben – Und man kann die Worte dieses Fluches hören und dennoch sich selbst
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in seinen Herzen seegnen und sprechen: es gehet mir wohl, weil ich wandle
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wie es mein Herz lüstet – weil die Trunkenheit den Durst vermehrt. Ich mag
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mir selbst also und euch als ein Schwärmer aussehen: so bleibt Gottes Wort
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wahr und der Zeuge getreue, der den Philadelphern droht, die sagen, sie sind
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Christen – und sinds nicht – der allein unsere Werke weiß, und ob wir siedend
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oder kalt sind – der die lauen ausspeyen wird aus seinem Munde, und die er
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liebt straft und züchtiget daß sie fleißig seyn v Buße thun sollen. Deine
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Uneigennützigkeit bey Deinem Schulamt gefällt mir, laß selbige aber nicht
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unlauter seyn, wir müßen das, was uns Gott zugedacht hat, nicht vorsätzlich
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auch ausschlagen. Gott hat Dir ein Pfund gegeben, und eine Wechselbank
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angewiesen, wo Du selbiges anlegen und damit wuchern kannst, bitte ihn
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auch um Treue, Fleiß und Klugheit, ihn mit dem Gebrauch des anvertrauten
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zu erfreuen, und um Gnade daßelbe zum Nutz und Dienst des Nächsten
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anzuwenden. Dienst kann bisweilen sehr schwer seyn, besonders der
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selbstgewählte und vernünftige und natürl. den uns unser gutes Herz und die
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Leidenschafften lehren – der Nutzen sehr gering, bisweilen Schaden: so wie man ohne
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Frohndienst – ohne Dank, ohne Wißen unsers Nächsten ihm nützlich seyn
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kann. In solchen Fällen muß Gott allein unser Schild – und unser großer
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Lohn – beständig in unsern Glaubenshänden und vor unsern Augen seyn.
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Ließ zu den jetzigen Zeiten fleißig den Trost Jeremiä an Baruch im 45.
Cap.
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dieses Propheten.
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Ich sagte dem
Diac.
gestern ganz gleichgiltig, daß es mir nicht leyd thäte
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herüber gereiset zu seyn. Er sagte mir kurz aber mit viel Nachdruck: ach! sagt
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er, das gehört in einen ewigen Plan. Das unvermuthete dieser Antwort rührte
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mich recht tief. Freylich ist unser Leben ein ewiger Plan, und alle Handlungen
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deßelben
termini medii
eine
s
r Schluß
satzes
folge. Freylich hat er uns
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von Ewigkeit her geliebt – Laß alle unsre
Projecte
und Anschläge als
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Sperlinge
Mt 10,29
Sperlinge auf die Erde fallen –
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Unsere Bücher werde nicht eher als mit Gottes Hülfe bey wärmerer
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Witterung in Ordnung bringen können. Das verlangte sollt Du haben. Die aus
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Engl. mitgebrachte Bücher sind mit ihrem Gelde bezahlt, und gehören also
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da zu bleiben, wo sie sind. Ich brauche sie nicht und wenn ich etwas davon
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nöthig haben sollte, werde ich mich melden. Einrichtung darüber zu machen
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komt mir nicht zu, kann und werde es auch nicht thun.
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Ich habe dem Schatt seinen kleinen
Coffre
behalten; hast Du Gelegenheit,
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so möchte ich folgende Verfügung wohl machen, daß Du meinen großen
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Coffre
der dort nur im Wege stehen wird, Dich ausbittest und Deinen
Coffre
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dafür dem Schatt gäbest. Du kannst dazu Gelegenheit abwarten –
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Lilienthals
Lilienthal,
Die gute Sache
Schaupl.
Pluche,
Spectacle de la nature
Maintenon
habe ganz. Lilienthals 3ten Theil und Schaupl. der Natur will
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besorgen. Du wirst vielleicht noch nicht so bald etwas durch einen Fuhrmann
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erhalten. Sammle unterdeßen was Du auf einmal zu haben wünschest.
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Wegen meiner Perücke werde gleichfalls mit der Zeit sorgen.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (53).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 350–352.
ZH I 299–302, Nr. 138.