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Königsberg den
31. März. 1759.
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Herzlich geliebtester Freund,
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Ich habe meinem Freunde nicht antworten, noch Sie beschweren wollen
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sich in fremde Händel einzulaßen. Er will wegen Seiner Geschäfte sich mit mir
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einzulaßen verschont seyn und Sie sollen sich ich weis nicht womit in Ansehung
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meiner abgeben. Wenn es auf die Wichtigkeit und Menge von Arbeit ankomt;
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so weiß ich nicht, wie die Waagschaale ausfallen möchte. Aus sehr vielen
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Umständen sehe ich leyder! viel falsche und zweydeutige Schritte, die ich nicht
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berechtigt bin ihm vorzuhalten, weil sie mich nichts angehen, und weil diese
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Aufrichtigkeit ihn zu sehr aufbringen würde, ohne ihm zu helfen. Ich zittere
6
Carl
Carl Berens
für
I
ihn und Seinen Bruder Karl, daß sie beyde wieder in das Labyrinth
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gerathen werden – Wenn ich mir alles erlauben wollte zu schreiben, wie er es
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von den Berens ist kein Brief überliefert
thut; so sollte er ganz andere Briefe von mir lesen; um seiner Beschuldigung,
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als wenn ich nichts als
declami
rte und nach
hypothesen
schlöße, keine
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Nahrung zu geben, muß meine Feder wieder ihren Willen einen ganz andern
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Schwung nehmen. Weil mein Brief schlecht geschrieben ist, und er Ihnen den
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seinigen anvertraut hat; so ersuche Sie um die
große Gefälligkeit
denselben
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ihm vorzulesen, und
wo
Sie können ein
Exeget
zu seyn. Er übertrift mich in
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dem Eyfer Gottes, er ist aber ohne Erkenntnis, wie es bey den Juden unter
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den Römern war – er will mich der Welt nutzbar und zum Bekehrer der
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Freygeister und Libertiner machen pp. Er will meine Religion sichten von
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Aberglauben und Schwärmerey – seine Brüder schadlos machen – Welcher
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radios
Halbmesser eines Kreises
Meskünstler kann alle die
radios
zählen, die aus einem Punkt gezogen werden
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können. Seine Absichten, die er mit mir und seinen beyden ältesten Brüdern
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im Sinn hat, sind sehr unter einander verschieden – und alle sehr gut und
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löblich. Ich sage ihm aber mit viel Zuversicht zum voraus, daß er mit keinem
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seinen Endzweck erreichen wird; wenn er nicht vernünftiger, klüger und
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langsamer zu Werk gehen will, wenn er auf nichts als seine
Mittel
und
Absicht
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sein Augenmerk richten will pp. Den Beweis davon kann ich nicht führen;
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ungeachtet ich viele
data
davon verstehe – das schickt sich aber nicht für mich
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davon zu reden, weil
ich nicht Gott bin
, und nach meiner Einsicht oder
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Gutdünken Dinge einschlagen können; das schickt sich nicht, weil ich
ihm als
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ein Freund
, und aus
allen
andern Verhältnißen Achtsamkeit schuldig bin,
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auf deren Gränzen ich genauer sehe, als er es mir zutraut. Er aber hat auf
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vaguen
vage
seine
vaguen
und unbestimmte Absicht so ein Vertrauen, als wenn er ich weiß
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nicht wie viel Klafter in sein und anderer Herz sehen könnte, daß seiner
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Aufmerksamkeit nichts entwischen müste, als wenn er Herr von seinen eigenen
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Leidenschafften und anderer ihren wäre; und eben die Unwißenheit,
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Uebersicht, die aus Unstätigkeit, Trägheit, Furcht entsteht – nebst den daraus
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folgenden Affekten betrift die Mittel – die Ordnung und den Gebrauch derselben,
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ohne der Mittel Hinderniße oder wenigstens nichtig sind. Daß sein Urtheil über
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Grobheiten pp die er mir beschuldigt, partheyisch seyn muß, daß ich für jede
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Wahrheit am meisten büße und leide, die ich ihm sagen muß und er sich wie ein
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galant-homme
in kleinen Wendungen und Schelmereyen gegen sein beßer
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Wißen und Gewißen mehr erlaubt, so ist es der Wohlstand eines Stutzers
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sich an keinen zu binden und an anderer ihrer sich zu ärgern oder lustig zu
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machen. – Er kommt also an mir zu kurz, wenn er Antworten auf seine Briefe
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erwarten will, nach seiner eigenen
hypothese,
da er sich voller Geschäfte
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angiebt und mich wie einen Müßiggänger ansieht. Ist das wahr, so muß er
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vieles übersehen, deßen ich mich zu Nutz machen
könnte
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Wundern Sie sich nicht über das Eigene meiner Briefe; es wäre mir
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ungl. leichter kürzere und ordentlichere zu schreiben. In allem dem
Chaos
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meiner Gedanken ist ein Faden, den ein Kenner finden kann, und mein Freund
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vor allen erkennen würde, wenn er sie lesen könnte. Ihre Erinnerungen darüber
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unterdeßen sollen mir lieb seyn.
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Eben besucht uns sein Bruder, der sich hier aufhält. Er gieng des Abends
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um 10 von uns und hat das Unglück gehabt von 2 sr
Compagnie
überfallen
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zu werden, die er aber erkannt und heute dafür gestraft worden. Er ist glücklich
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entkommen, und ich habe den ganzen Nachmittag mit ihm gestern
Domino
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gespielt. Heist das nicht seine Zeit beßer anbringen als
Journale
schreiben.
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Ich wünschte ihm Vertrauen zu mir zu geben und ihn von andern
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Gesellschafften abzuziehen; weil ich ihn sehr liebe und das beste von ihm hoffe.
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Mein Freund weiß vielleicht noch zu wenig was arbeiten und müßiggehen ist,
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wie leicht das erstere und schwer das letztere ist, wie wenig man mit seinen
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Cic.
off.
3,1,1
Arbeiten zu pralen und wie stoltz man wie
Scipio
auf ein
otium
seyn kann.
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Alles was Sie thun können um meinen Freund in Ansehung meiner zu
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beruhigen, thun Sie aus Liebe für uns beyde. Wenn ich keine andere Ursache
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habe wieder nach Riga zurück zu kommen; so wird mich die Noth – wie aus
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Engl. – wieder zurück treiben. Wer kann bey den jetzigen Umständen für
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Elias
2 Kön 5,25ff.
seinen Weinberg sicher seyn, und welcher Kluge wird jetzt wie
Elias
zu
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Gehasi sagte, an Weinberge und große Dinge denken. Ich lebe hier übrigens
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Einschluß
nicht überliefert. Einen Brief unter Einschluss, per couvert, versenden: den Brief einer Sendung an eine dritte Person beilegen, welche diesen dann weitergibt.
in meines Vaters Hause sehr zufrieden. Eben erhalte Einschluß von meinem
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Bruder. Was macht der ehrliche Junge? Melden Sie mir doch etwas von ihm.
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Er ist nicht recht gesund, nicht recht zufrieden. Ich werde ihm in 8 Tagen erst
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antworten. Laß ihn zufrieden seyn, beten und arbeiten, und ein Beyspiel von
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Ihnen nehmen. Ich bin jetzt nicht im stande ihm zu antworten, durch seinen
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Brief aber unruhig gemacht. Laß ihn doch auf Gott vertrauen – und die ganze
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Welt auslachen.
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Rede
vmtl. in der
Königsb. freyen Gesellschaft
, bevor er nach Mitau zog, vgl.
HKB 143 ( I 326/8 ),
HKB 153 ( I 374/2 ).
HE. Watson wird eine öffentl. Abschieds Rede hier halten vor seiner
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Abreise, auf Befehl Ihro
Exc.
des HE
Gouv.
HE
Trescho
hat 2 Hofmeister;
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er wollte an Sie schreiben, hat aber nichts geschickt. Ich muß alles
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unterdrücken, was ich Ihnen noch zu melden hatte, weil ich darinn gestört worden.
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HE Wagner wird alles besorgen. Mein Vater grüst Sie auf das herzlichste.
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Fr. Hartungen hat Verlöbnis gehabt vorigen Sonntag. Laß den
Doctor
in
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Gottes Namen herüberkommen. Ich sollte nicht meynen, daß es ihm gereuen
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wird. Ich umarme Sie und Ihre liebe Marianne nebst nochmal. Gruß von
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Sergeanten
Adam Heinrich Berens
meinem Alten auch den jungen
Sergeant
en. Meinen Bruder bitte nicht zu
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vergeßen.
Leben Sie wohl und lieben mich.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (34).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 366 f.
ZH I 309–312, Nr. 140.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
310/30 |
vaguen |
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies vague |
311/8 |
könnte ]
|
Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: könnte. |
311/28 |
Elias ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies Elisa |