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Hochwohlgeborner Herr,
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Gütiger Herr Baron,
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Ich werde Sie in diesem Briefe mit der Nachricht eines berühmten Streites
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unterhalten, der vor ein paar Jahren in Frankreich über die Frage entstand:
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ob der französische Adel eines Berufs zum Handel fähig wäre? Ein gewißer
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Abt
Coyer,
der Verfaßer einiger moralischer Tändeleyen, gab eine Schrift
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heraus, die den Titel führte:
La noblesse commerçante.
Hier sind die
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Hauptbegriffe derselben.
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Der Adel in Frankreich hat das Vorurtheil, daß nur zwey Stände mit der
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Ehre deßelben bestehen können.
Miles aut Clerus,
sind die gebahnte Wege um
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sein Glück zu machen, wie es öfters die letzten Entschlüßungen der
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Verzweifelung sind. Diese beyden Stände, welche eigentlich auf Unkosten des Staats
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leben, und von den Reichthümern deßelben unterhalten werden müßen,
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haben nicht Stellen genung in Verhältnis des ganzen Adels überhaupt – –
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und des dürftigen unter demselben besonders. Ein Ueberwuchs dieser beyden
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Äste entvölkert ein Land, und erschöpft die öffentlichen Einkünffte
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deßelben. Man vergleiche hingegen den großen Einfluß des Kaufhandels in die
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Stärke, in das Glück und den Ruhm einer solchen Monarchie, als Frankreich
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seiner Lage an der See, seines fruchtbaren Bodens, seines Umfanges, seines
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Interesse
nach mit den Nachbaren deßelben ist: so wird die Ehre, die Macht,
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der Glantz und Ueberfluß, die durch den Handel dieser Monarchie
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zuwachsen müßen, die Begriffe und Triebe der Ehre in ihrem Adel beßer
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bestimmen. Hat der Umfang zweener Meere, deren Wellen an euren Ufern
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brüllen, nicht mehr Gefahren um euren Muth zu üben als das größte
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Schlachtfeld? Hat die Ruhe, womit ein nützlicher Kaufmann Unternehmungen und
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Unterhandlungen zwischen den Bedürfnißen ganzer Familien, Städte und
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Nationen entwirft, und seinen Gewinn dabey berechnet, nicht mehr Reitz
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als die unfruchtbare Muße und die vom Aberglauben öffters erbettelte
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Ueppigkeit eines Klosterlebens? Ist es nicht mehr Ehre und Lust die
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Wirtschafft und den Nutzen großer Waarenläger und
Capitalien
zu zeigen, und ist
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es nicht Baurenstoltz eure Ahnen, eure verwünschte Schlößer dem Verdienst
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und der reinlichen Pracht eines Handelsmannes entgegenzusetzen, wenn ihr
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euch nicht schämt selbst euer Vieh und Erndte zu Markt zu führen? Seht den
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Adel in England an, fährt der Herr
Coyer
fort, der Bruder eines
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Abgesandten an unserm Hofe lernte zu gleicher in Amsterdam aus. Die Geschichte und
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die tägliche Erfahrung, Klugheit und Noth, die Ehre eures Adels und die
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Unmöglichkeit denselben ohne Mittel zu behaupten, das Vaterland und eure
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häusliche Umstände rücken dem franzosischen Adel die Thorheit und den
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Schaden seines Vorurtheils gegen den Handel vor.
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Der Verfaßer dieser Schrift, von deßen Gründen und Denkungsart ich
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Ihnen hier eine kleine Probe mitgetheilt, machte so viel Aufsehen, daß er sich
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genöthigt sahe im vorigen Jahr ein
Developpement et Defense du Systeme
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de Noblesse Commerçante
in zwey Theilen herauszugeben, die mir noch nicht
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zu Händen gekommen.
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Unter der Menge von Abhandlungen, zu denen
gegenwärtige
Anlaß
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gegeben, will ich nur 3 anführen.
La noblesse militaire ou le patriote francois;
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die Aufschrift erklärt den Innhalt. Sie hat die Fehler und den Eckel der
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Declamation;
und ihres Verfaßers unwürdig, wenn es der
seyn sollte, deßen
Lettres d’Osman
ich Ihrer künftigen Neigung zu
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lesen so wohl als Ihrem Geschmack empfehlen möchte. Die zweyte ist
– – von der ich Ihnen nichts zu sagen weiß. Die letzte heißt:
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la noblesse commerçable ou Ubiquiste,
worinn der Einfall, den Adel selbst
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zu einer Waare zu machen, und die Ahnen wie das papierne Geld mit Wucher
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circuli
ren zu laßen, mit einem munteren und leichtfertigen Witz von allen
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möglichen Seiten gedrehet und gewendet wird. – – Es ist eine
Mode
des
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jetzigen Alters über den Handel so philosophisch und mathematisch zu denken als
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Fontenelle,
Entretiens sur la pluralité des mondes
, Kap.: „quatrième soir“, vgl.
HKB 139 ( I 306/33 ) Newton
über die Erscheinungen der Natur und Fontenelle über die Würbel
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des
Descartes.
Einzelne Menschen und ganze Gesellschafften und Geschlechter
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Hut
Die „Geschichte von dem Hute“ in
Gellert,
Fabeln und Erzählungen
(Tl. 1, S. 4–7); Hamann erwähnt die Fabel auch in
Über Descartes
(N IV S. 221/23)
derselben sind gleichem Wahn unterworfen. In der Fabel vom Hut lesen wir
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die treue Geschichte unserer Erkenntnis und unsers Glücks. Egypten,
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Carthago und Rom sind untergegangen. Der Eroberungsgeist hat seinen Zeitlauf
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Niccolo Machiavelli
; den ‚Machiavellismus‘ beklagt Hamann auch in
Hamann,
Biblische Betrachtungen eines Christen
, LS S. 112/7ff.
gehabt; die im finstern schleichende Pestilenz eines Machiavells hat sich selbst
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verrathen; wie weit die heutige Staatskunst durch die Grundsätze der Wirthschafft
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und die Rechnungen der Finanzen kommen möchte wird die Zeit lehren. Die
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beste Kunst zu regieren gründet sich wie die Beredsamkeit auf die Sittenlehre.
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Alle Entwürfe hingegen der Herrschsucht entspringen aus einer Lüsternheit
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nach verbothenen Früchten, die den Saamen des Unterganges mit sich führen.
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Unsere Erziehung muß nach dem herrschenden Geschmack der Zeiten, des
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Landes und des Standes, zu denen wir gehören, eingerichtet werden; dieser
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herrschende Geschmack muß aber durch gesunde Einsichten und edle
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Gesinnungen geläutert werden.
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Die Frage also, die ich Ihnen aufgelegt, ist unserer Untersuchung würdig.
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Der Inhalt des gegenwärtigen Briefes zeigt, daß der Adel so gut als andere
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Stände seinen Beruff habe, daß derselbe gleichfalls Unwißenheit und
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Vorurtheilen aufgeopfert wird; daß die Wirkungen davon unter verschiedenen
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Völkern gleichfalls verschieden sind, als die Denkungsart des engl. und
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franzosischen Adels in Ansehung des Handels. Die Verdienste eines spanischen
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Edelmannes sind lange in einer romanhafften Liebesritterschafft und einer
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Neigung zur
Guitarre
eingeschränkt gewesen; des Pohlen Adel besteht mit
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der Liverey und dem Pfluge.
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Zweifeln Sie also nicht, daß sich etwas gründliches, wenigstens zu unserer
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Anwendung über meine Aufgabe denken und sagen ließe. Laßen Sie sich durch
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gegenwärtige Anmerkungen dazu aufmuntern. Nach meinen unterthänigen
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Empfehlungen verbleibe, Mein Gütiger Herr Baron, Dero ergebener Diener
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und Freund.
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greg. 27.9.1758
Riga. den 16/27
Septembr.
1758.
Hamann.
Veränderte Einsortierung
Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert (dort: „[Riga, 16. (27.) September 1758“]), sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 116 und 117.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 37.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 300–305.
ZH I 250–252, Nr. 115.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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gegenwärtige ]
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: gegenwärtig |