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Königsb. den
28. Jul. 756.
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Geliebtester Freund,
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Sie werden sich über mein Stillschweigen gewundert aber den Anlaß dazu
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auch vernommen haben. Alles machte meine Reise günstig ich war den 4.ten
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Mümmel
Memel, heute Klaipėda [55° 42′ N, 21° 8′ O]
Tag in Mümmel gieng nach einer Stunde ab v langte denselben Tag gegen
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die Nacht in Muschlers an den folgenden in dem Hause meiner Eltern. Mein
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alter Vater laurete mir geruhig mit dem Pfeifchen im Fenster entgegen um
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mich so wohl als meine Mutter zuzubereiten, mit der es sich denselben Tag
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sehr verschlimmert hatte. Sie empfing mit vieler Zärtlichkeit bey der grösten
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Entkräftung und einer völligen Verleugnung alles Zeitlichen. So elend hatte
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ich sie mir nicht vorgestellt, sie war nichts als ein Gerippe, in dem Gott noch
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den Odem erhielt. Sechs Tage lebte sie noch, in denen sie so schlecht war, daß
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mancher Augenblick mir der letzte für sie
zu sch
einen
ien
, der es nicht seyn
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sollte. Ich habe wenigstens kommen müßen ihr noch einige Handreichung zu
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thun, die ihr niemand so gut als ich machen konnte; und mein Vater glaubte
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auch in meiner Gegenwart eine große Erleichterung erhalten zu haben. In der
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letzten Nacht vor Ihrem Ende konnte sie ihn nicht entbehren, er muste ihr
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Bett nicht mehr verlaßen, wo sie ihn beständig zurückrief und durch
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Liebkosungen festhielte; biß auf die Viertelstunde, in der sie verschied. Weil ich mir
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Ihres Abschiedes lange gewärtig gewesen war, so erlaubte mir mein Schmerz
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Aufmerksamkeit genung auf alle die Bewegungen, die der Tod in ihr
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verursachte. Ihre Krankheit v langwieriges Lager hatte der Natur alle Stärke fast
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benommen, sie lief daher wie eine Uhr ab. Einige unmerkliche Zuckungen des
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Mundes, die einem Lächeln ähnlich waren, machten sie mir im Tode weit
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kenntlicher, wie in ihrer Krankheit, die sie ungemein entstellt hatte. Ihre
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Gestalt hat mir auf dem Leichenbrette so gerührt als sie mi
r
ich auf ihrem
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Siechbette mitleidig gemacht. Ihr erstes beynahe womit sie mich empfing, war, daß
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sie mich zu Grabe bat; und dieser traurige Dienst hat mir viel gekostet. Wer
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weiß aber wie viel? wenn ich sie nicht noch gesehen hätte. Ich habe mehr
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Empfindlichkeit, als ich selbst weiß, und die sich selbst meinen dunkeln
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Vorstellungen mittheilt. Meinen Vater verzehrt ein geheimer Gram, die ungewohnte
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Last der Haushaltung v. alles, was Sie selbst von ihm wißen. Ich glaube ihm
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noch einige Zeit nöthig zu seyn, bey ihm zu bleiben würde uns beyden
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überlästig werden, er prophezeyt sich nichts als uns auch bald zu verlaßen, und
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tröstet sich damit. Ich wünsche mich tausendmal umsonst in
den
einen
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Stand, wodurch ich ihm sein Alter ruhiger machen könnte. Vielleicht wird
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dieser Wunsch aber doch noch erhört. Noch habe ich nichts in Königsb. fast
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thun können; er will mich wenigstens zu Hause haben, wenn er mich auch
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nicht um sich haben kann. Verzeyhen Sie mir liebster Freund, daß ich mich so
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umständlich gegen Sie auslaße; es gereicht mir wenigstens zu einer kleinen
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fl.
Gulden, Goldmünze, hier aber vmtl. 1 polnischer Gulden, eine Silbermünze, entsprach 30 Groschen
Erleichterung. Ihre liebe Mama habe besucht und richtig gemacht; 7 fl.
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gl.
Groschen (Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
Thrl. Alb
Albertsreichsthaler, 1616 in den Niederlanden eingeführt, im 18. Jhd. zeitweise auch in Preußen und Dänemark geprägt.
15 gl. hat mein Bruder an
S. Blancard
bezahlt; die übrigen 3 Thrl. Alb.
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nebst einigen Mk. habe richtig abgegeben. Sie wird Ihnen selbst die
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Brief
nicht überliefert
Berechnung davon gemeldet haben. Ein Brief an Sie hat in einem eingelegen der in
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Mitau ist ich hoffe daß Sie durch den HE. D. denselben bekommen den ich
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Kannholtz
nicht ermittelt (1756 war ein Jurist Christian Friedrich K. Mitglied in der Deutschen Gesellschaft zu Königsberg)
deswegen gebeten. Bey Kannholtz bin gleichfalls gewesen und hat mir folgenden
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Instrumenten
wohl für den Unterricht an der Rigaer Domschule
Aufsatz von seinen Instrumenten gegeben, die er Ihnen liefern kann, v wovon
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er sich mit nächsten von Ihnen selbst
Nachricht ausgiebt
. Ich habe ihn ersucht
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auf Treu v Glauben mit Ihnen zu handeln und er hat es mir versprochen.
S. 224
℔
Pfund
Ein Magnet der 10 ℔ trägt — —
50 fl.
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dito à
5 ℔ — —
24 fl.
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dito à
2½ ℔
10 fl.
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Laterna magica
mit 12
praesentat.
60 fl.
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Microscopium compositum
verguldt
100 fl.
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Eine electrische Kugel mit Zahn, Trieb v Spindel
36 fl.
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Sie können alsdenn eines höltzernes Rades entbehren v
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brauchen ein bloßes Gestell i
ch
st auch leichter zu bewegen.
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Berlinische
Hubkolbenpumpe
haemisph. Magdeburg
zwei halbe Hohlkugeln für Experimente zum Luftdruck
Eine kleine Berlinische Luftpumpe ohne
haemisph. Magdeburg
50 fl.
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mit den
haemisph. Magdeb.
90
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Siphones
U-förmige Rohrleitung bspw. aus Glas für Barometer
Die
Siphones
will er gern umsonst beylegen besorgt aber wegen des
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Einpakens; ich glaube auch daß Sie solche dorten eben so gut bekommen können.
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Die Luftpumpe kann er Ihnen vor den Winter nicht versprechen. Schreiben
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Sie ihm selbst deswegen; so kann ich das übrige mit ihm verabreden.
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Den HE.
Ref. Wulf
habe besuchen müßen wo ich den HE.
D. Funk
v
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M. Kant
fand. Den ersteren auf P. sehr aufgebracht und überaus unruhig
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darüber daß er nicht auf die Meße gereiset wäre. Ich habe selbst einen Abend
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bey ihm in eben der Gesellschaft speisen müßen, wo es sehr vergnügt zugieng.
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Der
Senat
hat seine
Criminal Jurisdict.
wie man sagt verloren wegen des
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Langermanns, der bey uns im Hause gewesen, und für 2 Früchte die er
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Thrl.
Reichstaler, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze, entspricht 24 Groschen (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
abgetrieben mit 10 Thrl. bestraft worden. Er sitzt noch und erwartet seinen Spruch,
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den man noch nicht weiß, ob er streng oder gelinde seyn wird. Meine gröste
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als Nachfolger bei den v. Wittens
Verlegenheit ist jetzt einen Hofmeister zu bekommen. Ich kann hier keinen
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auftreiben. Was macht der jüngste HErr Bruder? Wenn es ihm nicht gefiele,
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wo er ist, könnte er meine Stelle nicht einnehmen und sich auf alle die
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Bedingungen verschreiben, die man mir ehemals angeboten. Ich habe seiner
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Mamma
von ihm keine Rechenschafft geben können v glaube daß er sich jetzt
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munter befindt. Sie kam mir recht aufgelebt vor, und wird Sie künfftig Jahr
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besuchen. Ich werde Sie noch vor meinem Abschiede besuchen, wie ich es
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I
ihr versprochen. Sie kam für Ungedult Nachrichten von Ihnen zu hören
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nach unserer seel. Mutter Tod zu uns; ich war aber eben ein wenig
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bettlägerich daß ich Sie nicht sprechen konnte. Wolson hat mich heute besucht v scheint
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Collegium Fridericianum, Gymnasium in Königsberg
mir zieml. vergnügt zu leben. Er ist nicht mehr im
Coll. Fr.
v redt nicht viel
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gemäß dem Sprichwort, sero sapiunt Phryges: unwissend
Guts davon. Hätte der Phrygier dies nicht eher wißen sollen. Er läßt Sie
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Rede
wohl eine der von Lindner bei einem Festakt der Rigaer Domschule gehaltenen,
Lindner,
Gedächtnisfeier
herzlich grüßen v für die Rede danken. Lauson auf dem alten Fuß wie es mir
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scheint, ein wenig trübsinniger und in sich gehender; so arg aber nicht als er
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beschrieben wird; jetzt vielleicht mehr verachtet als gefürchtet. Ein gewißer
S. 225
Graf
nicht ermittelt
Liefl. Graf ist hier gestorben im schlechten Gerücht v großer Dürftigkeit.
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HE. Wulf hievon mehr, der im vorbeygehen ein allerliebster Mann v so stark
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im
Jure
als ehmals in der
philosophie
geworden. Er hat ein
ehrwürdig
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Mädchen
, für das er zittert v bebt, die Leute sagen eine Braut. Küßen Sie Ihr
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Frauchen in meinem Namen, ich habe allenthalben ausgebracht, daß sie im
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Begrief steht Mutter zu werden. Laß Sie mich nicht zum Lügner werden.
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Ich umarme Sie beyderseits und bin nach dem herzlichsten und
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freundschafftlichsten Gruß von meinem alten Vater und Bruder, den ich nicht erkannte
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beschwiemte
ohnmächtig werden
und über mein Wiedersehen beschwiemte
(sottises de deux parts).
Leben Sie
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wohl v lieben Sie unverändert Ihren
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Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (29).
Bisherige Drucke
Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 35 f.
ZH I 222–225, Nr. 103.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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zu sch einen ien ]
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Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies zu seyn sch einen ien Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): zu seyn sch einen ien |
223/36 |
Nachricht ausgiebt ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies etwa ausbittet statt ausgiebt Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Nachricht ausbittet conj. |