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434/18
Kgsberg den
13 März 769
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Geliebtester Freund Herder,
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Damit Sie auch an mich denken, nehm ich mir heute so viel Zeit Ihnen
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einige Zeilen zu schreiben, an denen ich schon lange gebrütet habe. Ich kann
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Ihnen weder viel Neues noch angenehmes schreiben, weil ich nichts thue als
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meine Tage zähle ohne selbige wie ich wollte nutzen zu können. Unser
Director
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Magnier
ist fortgereist und ich bin heute zu Hause, weil ich wirklich krank bin,
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wenigstens innerlich, und mit dem heran nahenden Frühling eine
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Reformation
meiner bisherigen Zerstreuungen vorzunehmen willens bin und den
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Himmel um ein
δος μοι που στω
bitte um die mich
drükende
Erde so viel
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wie ich kann von mir wegzuwältzen. Wir erwarten hier nächstens den HE.
de
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Lattre
einen der
Administrateu
re aus Berlin und ich will mich wenigstens
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von meinem Kaltsinn zu meinem jetzigen Beruf, so schlecht er auch ist oder
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so wenig ich auch dazu gemacht bin, mich wieder ermuntern und mit aller
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mögl. Treue darinn fortfahren, damit ich mir aufs künftige nichts
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vorzuwerfen habe und wenigstens ohne meine Schuld mich meinem Schicksal
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unterwerfe und bequeme. Nun wie geht es Ihnen? Sie werden die Schmähschrift
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in der Klotzischen Bibliothek vermuthl. bereits gelesen haben. Ich verdenke
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es Ihnen so wol, daß Sie eine neue Ausgabe Ihrer Fragmente so frühe
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besorgt und mir ein Geheimnis aus der gantzen Geschichte gemacht, aber noch
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mehr und insbesondere den 2ten Theil Ihrer kritischen Wälder. Daß Sie das
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erste mal
verrathen
sind, war ein klein Unglück, das letzte aber scheint mir
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größer zu seyn – und bey gegenwärtigen Umständen das Blindekuhspiel zu
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versuchen, kann Ihnen auf keinerley Weise beförderlich, aber desto
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nachtheilicher seyn. Ich wünschte Ihnen würklich ein wenig mehr wahre Liebe und
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wahren Ehrgeitz auf Ihre Talente. Letzterer allein würde Sie abgehalten
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haben sich mit einem so kleinen Geist und offenbaren Marktschreyer wie Klotz
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ist, gemein zu machen und dem Publico
en detail
Ihre Autorempfindlichkeit
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und eine mehr eitle als gründl. Rache zu verrathen oder sich wenigstens den
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Verdacht davon zuzuziehen. Muß das Publicum nicht eher sich die Vorstellung
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eines Polygraphen als Polyhistors von Ihnen machen, nachdem es ihm
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bereits bekannt ist daß Sie ein Kirchen u Schulamt zu ver
halten
walten
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haben und es sich ich weiß nicht wie einfallen laßen vier und vielleicht 5 Werke
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auf einmal anzufangen und die Fortsetzung davon zu versprechen. Ist das
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nicht ein gar zu großes Vertrauen auf Ihre Kräfte und kann man bey einer
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solchen Zerstreuung sammlen, verdauen und
cum amore
arbeiten. Sind nicht
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Mattigkeiten, Nachläßigkeiten, Widersprüche, Wiederholungen und so viel
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andere Menschlichkeiten unvermeidlich? Wird es Mühe kosten, wird es lohnen
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Sie davon zu überführen? Werden Sie anders als durch
indirecte
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Gegenvorwürfe darauf antworten können, oder gar durch Leidenschaft oder durch
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Winkelzüge – und wird daraus nicht endl. ein Ueberdruß des Publici sowol
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als des Autors entstehen? Glauben Sie liebster Freund daß die Hypochondrie,
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die mir den Athem so kurz u schwer macht, nicht allein Antheil an diesen
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Besorgnißen hat, sondern ein alter Rest von Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit,
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der mich noch zuweilen anwandelt und mir die Hofnung einflöst mich an
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Gehirn
Mark und Blut, an Säften und Lebensgeistern, an Scheitel und
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Brust verjüngt zu sehen, ungefehr wie Hiob oder Nebucadnezar. Die Alten
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wiederzustellen
, das ist die Sache; sie zu bewundern, sie zu beurtheilen, sie zu
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anatom
isiren, Mumien aus ihnen zu machen, ist nichts als ein Handwerk,
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eine Kunst, die auch ihre Meister erfordern. – Ich höre hier auf
und
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entschloßen mich anzuziehen und mein
Bureau
zu besuchen. –
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Mein
Bureau
besucht zu gutem Glück u. Arbeit vollauf gefunden;
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außerdem noch einen guten Freund, der mich vor einem Spatziergang mit
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Burgunder und nach demselben mit
Champagner
aufgenommen. Morgen will ich
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selbst einen meiner
Colleg
en bewirthen und alsdann fortfahren. Gute Nacht
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auf heute.
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Des Morgens den 15 –
4
Die Geschichte der spanischen Dichtkunst wird Ihnen vermuthl. ein eben so
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angenehmes Werk als mir gewesen seyn. Wie sehr wird Meinhardt verdunkelt.
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Grülichs
Geschichte
des
Schlafes
und die
freymüthigen Briefe über das
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Χ
stentum
, deren Verf. ich zu wißen wünschte sind übrigens auch noch
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Schriften die Aufmerksamkeit verdienen. Wenn Sie liebster Freund Ihre
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Beantwortung des Mösers ausführen, sollte Ihr Verleger nicht letztern auch
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auflegen dürfen.
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Noch eine gelehrte Nachricht die Sie leicht im Stande seyn werden mir zu
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verschaffen, weil man hier keine Göttingsche Gelehrte Zeitung habhaft werden
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kann. Als
Thomas
Reden darinn
recens
irt wurden, beschuldigte man ihn
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eines
plagii
in seinem
panegyrico
auf
Sully
aus einem alten französischen
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Buche, das ich gern wißen wollte. Sind Sie nicht im Stande mir den Namen
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davon u die Nachricht, welche die Göttinger geben zu verschaffen. Im
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Register der 10 letzten Jahrgänge wäre das leicht auszumitteln; und wenigstens
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Ihr HE. Ober
praetor
hält sie
complett.
Es ist mir an dieser Kleinigkeit
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gelegen, ich ersuche Sie also inständigst darum.
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Wißen Sie nicht wie HE. B. meine letzte
requete
aufgenommen? Ich
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wollte meine Bibliothek gern in Ordnung haben und erwarte einen kleinen
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Zuwachs derselben, mit dem ich dies Jahr wohl werde aufhören müßen.
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Die 4 ersten Theile von
Daguesseau Oeuvres
verdienen auch Ihre
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Kenntnis; die übrigen hab ich künftig gelaßen und enthalten seine
plaidoyers
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welche hier ohnedem noch nicht
complett
sind. Meinen
Pindar
liebster
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Herder! kann Ihnen HE Hartknoch nicht einen verschaffen, etwa die
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Glasgow
sche Ausgabe.
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Hab ich Ihnen schon von
Stark
geschrieben, und kennen Sie diesen Mann?
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Sein
Libellus in Aeschyli Prom. vinct.
liegt seit 8 Tagen vor mir ohne daß
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ich ihn noch habe ansehen können. Er ist dem Geh. R. Klotz
dedic
irt. Kanter
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verlegt jetzt etwas von ihm, er kündigt eine Auslegung der Psalmen darinn
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an. David mit Horatz vergl. Sie verdienen sich einander kennen zu lernen.
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Sein lateinischer Styl ist gut und fließend. Wir erwarten hier noch eine deutsche
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Abhandl. von ihm; so bald ich selbige sehen werde, sollen Sie mehr Nachricht
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davon haben. Er scheint sich lange in Frankr. aufgehalten zu haben und nimmt
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an das Kennicottsche Project viel Antheil, wie Sie aus Büsching schon wißen
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werden. Letzterer hat um die Preßfreyheit zur Fortsetzung seiner Geogr. ersucht
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und wie man sagt etwas rund, die ihm aber abgeschlagen worden. Er soll dort
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nicht zufriedner seyn und man denkt an Basedow.
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Wenn heute dieser Brief abgehen soll und er muß es, so ist es Zeit zu
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schließen. Nehmen Sie mir die Freymüthigkeit meines Anfangs nicht übel. Wie
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ist es mit Ihrer neuen Ausgabe? Ist sie oder ist sie nicht? Und ist die ganze
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Recension
derselben bloß eine Tücke die man Ihnen gespielt? Haben Sie
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Hintz gesehen; er ist nichts als
Bruder
und scheint auf alles übrige Verzicht
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zu thun. Leben Sie wohl. Ich ersterbe der Ihrige.
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Hamann.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 70–71.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 394–397.
Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Ersten Bandes zweite Abtheilung. Erlangen 1846, 427–431.
ZH II 434–437, Nr. 357.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
434/27 |
drükende ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: drückende |
435/5 |
verrathen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verraten |
435/31 |
wiederzustellen ]
|
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): wieder her zustellen |
436/6 |
Geschichte […] Schlafes] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Geschichte des Schlafes |