360
447/19
Riga den
11./22. Mai 69.

20
Die Nachricht, die ich Ihnen, mein lieber Hamann, in diesem Briefe zu

21
geben habe, wird Ihnen unerwartet seyn; ich hoffe aber, daß Sie, wenn Sie

22
sich ausgewundert und ausgescholten, meine Thorheit nicht mißbilligen

23
werden. Ich habe meine Ämter
hieselbst
niedergelegt, und gehe ohne

24
Unterstützung und auswärtiges Engagement zu Schiffe: ob nach Nantes, oder

25
nach Koppenhagen, weiß ich noch nicht. Mit Gustav Berens aber denke ich

26
zu reisen. Vorigen Montag war Examen, in welchem ich mit meinen Klaßen

27
noch zu guter Letzt recht vortreflich auftrat: nach gehaltener
Dimißion
machte

28
ich sogleich dem Scholarchen einen Entschluß bekannt, den ich innerhalb mehr

29
als einem Jahr genährt hatte, und den ich ihm in vollen 2. Stunden nicht

30
begreiflich machen konnte. Man schließet auf hundert geheime Absichten, von

31
deren keiner ich Etwas weiß, und muthmaaßet diese oder jene

32
Unzufriedenheit, zu der ich doch nicht die geringste Ursache hätte: oder kann sich endlich

33
nicht denken, wie ich ein Engagement von 500. Rthl. Alb. aufgeben könne,

34
ohne was in der Stelle zu haben. Der Einzige u.
Erste,
der mich verstand, war

S. 448
Sekr. Berens:
deßen
Stimme aber zu schwach war, das Publikum in den

2
rechten Ton zu bringen. Freitag ward meine Supplique im Rath verlesen,

3
u. da man aus mir nicht klug werden will, so gerieth Alles in die äußerste

4
Wallung, von der das Publikum noch gähret. Pro u. Kontra! das können Sie

5
sich leicht gedenken; aber überall sehe ich die größeste Achtung, zumal ich in

6
einem Zeitpunkt aufbreche, der für mich, als Prediger, der hitzigste in

7
Enthusiasmus ist. Gemeine, Vorsteher, Bürger, alles ist in Verdruß und Staunen,

8
die sich zuletzt aber für mich in Sympathie und Abscheidende Gutheit auflösen

9
müßen. Sonnabend erhielt ich den Bescheid des Magistrats, der mir in

10
meinem Gesuch fügte, und mich
s
auch in der Abwesenheit seiner fortdauernden

11
Gewogenheit versicherte, die mir denn auch wohl nicht entgehen wird.

12
Sonntag wollte ich valediciren, ward aber,
da
s
das Zu
trauen
dringen der Gemeine

13
zu heftig war, von meinem Collegen Görike, der mich ungemein ungern

14
verliert, davon abgerathen. Ich werde also Morgen, als Mittwoch predigen; ob

15
auch valediciren? weiß ich noch nicht. Indeßen wird in 14. Tagen die Reise

16
vor sich gehen. Gleich nach meiner Sonntagspredigt hatte ich mit dem Geh.

17
R. Kampenhausen eine vertraute Stunde, wo er mir seine Plane mit der

18
Jacobskirche u. Schule entdeckte, und woran es sich noch mit dem lebenden

19
alten Mann stieße? mich aber schon mündlich zum Past. u. Rect. designirte,

20
und eben weil ich reisen will, die Sache zu treiben scheint. Ich denke also, als

21
design. Past. u. Rect. wegzugehen, oder geht das so geschwinde nicht, um so

22
freier. Man hat mich in Verdacht oder vielmehr in Hoffnung, daß ich auf

23
Kosten der geh. Räth. u. Gräf. von l’Estocq, die eben ins Bad gehen will,

24
reisen werde; allein diese ist an meiner Reise so unschuldig, als sie wohl bei

25
allem, was Kosten heißt, seyn möchte. Meine große Gönnerin und Freundin

26
ist sie gewesen, die, um mich zum Beichtvater zu haben, Stadt und

27
Gouvernement turbirte, und Peterburg turbiren wollte: sie ists auch, von der

28
Büsching noch jetzt Pension ziehet; allein ich habe ihre geldliche

29
Erkenntlichkeit nie gesucht und gefunden, u. meine Seereise wird das ganze Gerücht

30
wiederlegen. Meine Reise hat allerdings viel Gewagtes; allein vielleicht ist

31
auch dieser gewagte Schritt der beste, der mich auf einmal in eine andre

32
Denkart u. Lage bringe. Von Riga abgeschnitten denke ich übrigens nicht zu seyn,

33
weder im Briefwechsel, noch in etwanniger Nothunterstützung noch in meinem

34
künftigen Leben: daher ich mich auch in Deutschland vor allen insonderheit

35
litterarischen Klubs, u. Gesindelfactionen von beiden Seiten in Acht nehmen

36
werde. Ja vielleicht wähle ich eben deßwegen eher Frankreich
und
England
,

37
und Holland, wenigstens auf Monate u. von den Küsten: u. komme denn in

S. 449
unser Deutschland zurück oder gehe, wohin der Himmel will. Wir sind

2
Pilgrimme u. Bürger! Darüber habe ich Sonntag geredet, u. das ist jetzt mein

3
Zustand: mehr kann ich Ihnen, liebster Freund, jetzt noch nicht melden.

4
Indeßen ergehet in diesen Tagen das Rigische jüngste Gericht über mich, das über

5
den gewöhnlich gehalten wird, der da heirathet, oder avanciret, oder abreiset.

6
Ich bin so lange das Mährchen der Stadt, bis etwa die Türken schlagen oder

7
geschlagen
werden
:
,
denn haben mich meine Athenienser vergeßen.

8
Und so, mein lieber H. denke ich Sie auch bei meiner Retour durch K.

9
wieder zu sehen und zu genießen. Ihr Andenken bleibt mir immer, wie aus

10
der Morgenröthe meiner Jugend, u. eben weil von
se
meiner Seite meine

11
Freundschaft kein Figment von späteren gesellschaftlichen Sentiments,

12
sondern früher jugendlicher Eindruck ist: so muß sie sich selbst bei der weitesten

13
Abwesenheit erhalten und bei der Erneurung wieder
auf
u. recht jugendlich

14
wieder aufleben. Ich hoffe, daß es Ihnen gelegen kommen wird, wenn von den

15
Römischen oder Holländischen Küsten aus
s
Sie
ein Brief von Ihrem alten

16
Herder besucht, der noch Ihrer Freundschaft nicht unwerth
ist,
wenn
und

17
jedes Wort, wie einen Stachel, fühlet, das er aufrichtig sagte, und grausam

18
zurückkommt. Ich hoffe allen Mislichkeiten, die zudem bei Ihnen mehr sagen

19
wollen, als bei uns, recht ehrbar zu entkommen, u. ich will, wenn anders die

20
Litterarischen Briefe noch zu meiner Zeit hier ankommen, der Erste seyn, der

21
sie bekannt macht, so wehe sie meinem unschuldigen Namen thun mögen.

22
Das aber können Sie mir wenigstens glauben, daß ich meinen letzten Brief

23
geschrieben, ehe ich den Ihrigen hatte: und so fällt ein Theil der Vorwürfe

24
von selbst weg, die mich noch schmerzen – – Ihre Bücher übergebe ich an

25
Hartknoch:  1.
Essai on the Sublime and Beautif. of Mr. Burke

26
  2.
Essai on the life of Homer
}

27
  3.
… on Mythologie
}  
die Hinz hat

28
  4. 5.
Hurd’s
Commentar.
on Horace

29
  6.
Ep
Eschenbach
Epigenes,
den ich mir wohl einmal noch

30
   zurückwünsche

31
  7. Popowitsch Meer

32
  8. 2 Manuscr. Bücher in 8. und 1. Convol. in 4.

33
  9. Pindar

34
 10.
Buttler’s Hudibras
den ich zum Geschenk anzunehmen bitte.

35
Sollte sich noch Ein
omissum
finden: so solls recht gerne u. genau

36
aufgehoben werden. Ihrer andern Bücher wegen hieselbst habe ich auch auf

37
einem andern Wege, als Sie gegangen sind, Verfügung gemacht. Schreiben

S. 450
Sie nicht mehr an J. C.
Ber.
sondern nur einmal gerade an
Georg
, geben Sie

2
ihm die Bücher auf: er ist bei Karl u. in diesem Hause müßen alle Reste seyn,

3
wenn sie da sind. Ich habe ihn dazu willig gemacht, u. er wird für seinen

4
Hamann, den er sehr schätzt,
das
alles
thun u. suchen, was sich finden läßt. Ich

5
muß aufhören u. an meine morgende Predigt denken.
a Dieu
bis ich wieder

6
schreibe.

7
Donnerst.
den
14/25 May.
Ich habe nicht valediciren können: denn die

8
Gemeine schien mir schon an sich selbst zu gerührt. Ich konnte also nichts als

9
ein stummes verwirrtes Kompliment vorbringen, daß ich Sonntag

10
Nachmittag, als an einem außerordentlichen Tage, valediciren würde u. müste,

11
wegen der Schnelligkeit meiner Reise. Dienstag oder Mittwoch höchstens weg;

12
wohin weiß ich
noch
nicht. Eben da ich aus der Kirche kam, empfing ich von

13
dem Geh. R. Kampenhausen die schriftliche Resolution über die Past. u.

14
Rect. stelle an der Jacobskirche mit dem freundschaftlichsten Billet. Heute

15
Morgen bin ich bei ihm u. dem General Gouverneur, der, als
ein
e
Soldat, als

16
der alte Browne, jeden Keil Durchtreibt, u. für mich fast zu sehr prevenirt ist,

17
gewesen, u. so wohl bei jenem eine ungemein gründliche als bei diesem eine

18
ungemein brave Visite gehabt. Man hoffet von mir Dinge, die ich vielleicht

19
nicht ausrichten werde, u. destiniret schon Fonds u. Kräfte, eine Schule zu

20
erschaffen, die freilich unsre Kaiserliche Ritterschule seyn
sollte
.

21
Kampenhausen, dieser ungemein feine Weltmann, hat als mein öfterer Zuhörer, von

22
mir als Prediger; der G. Gouverneur, nach dem gemeinen Gerücht, von mir

23
als Schulmann übertreffende Ideen: und Vietinghof zumal, der abwesend

24
ist, u. bei dem der Gesellschafter Alles gilt, hat auf meinen halb-französischen

25
Geschmack Alle Hoffnung. Die Ritterschaft entgeht mir auch nicht. Der

26
HE. v.
Berg,
(jetz.
Aßeßor
beim Hofger.) an den Wink. sein Schönes

27
gewidmet, ist durch einen Zufall mein großer Freund geworden, u. der präsidierende

28
Landrath Bar. v. Mengden, Brud. der Gräfin v.
l’Estoc
, der Geh. R. v.

29
Kampenhausen
etc.
ist mein so zuvorkommender Freund, daß ich mich schämen

30
muß. Also von der Seite mit allen Ehren gedeckt – u. von der andern so

31
zärtlich u. widerwillig beklagt, daß es mich recht verwirrt, ob ich gleich, aus

32
Nachsicht für den alten Loder, u. aus Rücksicht für die Stadt, dies Engagement

33
durch mich
verschweige, u. zu verschweigen erbeten. Ist mein Brief nicht

34
ganz sonderbar? Ists die Sache selbst aber anders? Also
a Dieu
mein lieber

35
H. noch hier zum letztenmal jetzt am Ufer des Baltischen
Meers
u. der

36
Düna
.
,
aus andern Gegenden mehr. Mich drücken so viel Abschiedssorgen u.

37
Beschäftigungen u. Unruhen, daß ich des Nachts nicht schlafe, u. den Tag

S. 451
über selbst indem ich umhertaumle nicht wache. Machen Sie meine Reise

2
Lindnern bekannt: an Scheffn. will ich selbst einige Worte schreiben. Grüßen

3
Sie Kant, meinen besten Lehrer, Kanter, u. alle Freunde. Wir werden uns

4
wiedersehen.

5
Nun ist alles fertig. Vorigen Sonntag Abschied von der Kirche. Die drei

6
folgenden Tage von der
Stadt
gestern gepackt: heut zu Schiffe. Morgen

7
geht die Venus durch die Sonne. –
den
22.
Mai
/
2. Juni
1769.

8
Herder.

9
á Monsieur / Monsieur
Hamann
/ homme de lettres / à /
Coenigsberg
.

Provenienz

Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 9).

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 58–61.

ZH II 447–451, Nr. 360.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
447/23
hieselbst
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hierselbst
447/27
Dimißion
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Dimission
447/34
Erste,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Erste
448/1
deßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
dessen
448/12
da
s
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
da
448/36
England
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
England
449/7
werden
:
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
werden,
449/15
s
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sie
449/16
ist,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ist
449/28
Commentar.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Commentar
449/29
Ep
Eschenbach
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Eschenbach
450/1
Ber.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ber,
450/1
Georg
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Georg
450/4
das
alles
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
alles
450/7
Donnerst.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Donnerstag
450/15
ein
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ein
450/26
Aßeßor
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Assessor
450/26
Berg,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Berg
450/28
l’Estoc
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
l’Estocq
450/33
durch mich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
durch mich
450/35
Meers
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Meeres
450/36
Düna
.
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Düna,
451/6
Stadt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Stadt,
451/7
den
22.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
22.
451/9
á […] Coenigsberg.]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
A Monsieur
Hamann
, homme de lettres à
Coenigsberg
.