243
194/20
Königsberg den
4 März. 1763.
21
HochEdelgeborner Herr,
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GeEhrtester Freund,
23
Gestern bekam unvermuthet den
XV
Theil Ihrer beliebten Litteratur-Briefe
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Zeisischen Buchladen
Johann Daniel Zeise
aus meinem nachbarlichen
Zeis
ischen Buchladen zu durchblättern, deßen
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Inhalt mich näher angeht, als ich dachte; und heute erhalte Ihre
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Zuschrift nebst Beylage
nicht ermittelt; Beilage war wohl:
Briefe die neueste Litteratur betreffend
, XV. Theil, 1763
freundschaftliche Zuschrift nebst Beylage des erwünschten, wofür ich mit der lebhaftesten
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Aufmerksamkeit erkenntlich bin.
28
Die Wahrheit ist die Waagschale der Freundschaft – und das Schwert
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hanc veniam …
Hor.
ars.
, 11, „Ich weiß das, und diese Gunst erbitte ich selbst und gewähre sie andren.“
bahnt den Weg zur Freyheit des Friedens –
Der Herausgeber der Kreuzzüge des Philologen ist auf
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eine Unterdrückung oder Ausschließung seiner Grillenfängereyen auf einem
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aristokratischen Grund und Boden schon gefast gewesen:
konnte
durfte sich
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beurtheilt
»Beurtheilung der Kreuzzüge des Philologen« in:
Briefe die neueste Litteratur betreffend
, XV. Theil, 254. Brief, S. 172–188.
daher desto weniger erwarten, mit so viel Glimpf beurtheilt zu werden.
S. 195
Der Titel dieser ungezogenen Sammlung ist ein
Provinzialscherz
und
2
bezieht sich auf die hin und
wieder
her in
Preußen
diesem Königreich
3
befindliche
Labyrinthe
und
derselben
ihre
Bedeutung
, welche nach dem
4
ersten Theil des erläuterten Preußens
p.
723 der
Arglistigkeit
der
5
ehemaligen Ordensbrüder und Kreuzherren ihren Ursprung zu verdanken haben.
6
Vsu enim illis receptum erat, vbique in Prussia, in collibus
editioribus
7
prope
arces
nobiliores
figuram quandum
labyrintheam
et intricatam
8
terrae insculpere, quam
Hierosolymam vocabant
. Hanc ipsi vel serui
9
ipsorum coram eis
hilaritatis
ergo post pocula et crapulas percurrebant
10
et hoc pacto religione se solutos putabant, si pro defensione vera
11
Tarquinius
Lucius Tarquinius Superbus (gest. um 495 v. Chr.) soll seinen Sohn Sextus inkognito in die Stadt der Gabiner geschickt haben. Als der Sohn einen Boten zum Vater schickt, antwortet der dadurch, dass er im Garten einer Mohnstaude die Köpfe abschlägt. Das berichtet der Bote, doch nur Sextus versteht den geheimen Sinn, die Anstiftung zum Mord. (
Liv.
I,54)
Hierusalem à Saracenis oppressae
fictam
ludibundi percurrerent.
Was
Tarquinius
12
superbus
in seinem Garten für die lange Weile mit den Mohnköpfen
that
13
sprach, verstand der
Sohn
, aber nicht der Bote. Mithin kann ein Einfall,
14
dienstbare Geister
Hebr 1,14
vor dem
dienstbare Geister
die Augen niederschlagen, vielleicht
Kinder
15
Brosamen
Mt 15,27
kützeln, und von den Brosamen, die Kindern entfallen, leben Hund und
16
Katze – einträchtig biß zum Wunder in meiner kleinen Haushaltung, nach
17
der ich, in
Ermangelung eines beßeren Maaßtabes
, mein Publicum
18
beurtheilen muß.
19
Da Ew. HochEdelgebornen neulich mit einer Beylage nach Braunschweig
20
an den Herrn
Prof. Zachariae
beschwert worden, und seitdem keine Zeile von
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meinem dortigen Freunde, einem Bruder des HE. R. Lindner (an den Ihre
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Antwort schon besorgt worden) erhalten:
so beruhigt
mich die Unart meines
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Freundes im Brief
schreiben
wechsel wegen aller
Zweifel
, daß meine
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Antwort an den
Prof. Zachariae
etwa liegen geblieben, oder meine Freyheit
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dieselben zu beschweren übel ausgelegt worden seyn
sollte.
möchte.
26
Vielleicht hat
D
die Fülle des Gemüths von meinen
privat
27
Privatangelegenheiten
hat mein letzteres Schreiben durch einen
und der Ueberfluß
28
eckler und
unnützer Vertraulichkeiten mein letzteres Schreiben vereckelt
,
29
– doch ein
ernsthafter
Liebhaber deßen Leidenschaft deutscher Ernst ist,
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wirft die Gesetze des Wohlstandes
als Einfälle
eines Spötters hinter sich,
31
und die völlige Freundschaft treibt die Furcht aus. – Der Philolog verzagte
32
d
her
amals nicht, da er von einem Unbekannten, Kulmius, wegen seine
s
r
33
abentheuerlichen
Styls
Schreibart gestraft wurde, und freut sich
auch
34
jetzt noch
auch diese Stunde noch daß die Verfaßer der Briefe den Vater der
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stäupt
Hebr 12,6
Geister nachahmen –
, der einen jeglichen Sohn stäupt, den er aufnimmt.
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moralische Briefe
Dusch,
Moralische Briefe zur Bildung des Herzens
; Hamann hat dazu wohl die abschätzige Beurteilung des Vielschreibers Dusch im 77.
Literaturbrief
(Tl. 5, 1760) im Sinn.
Was ein Uebersetzer des Shakespeare, was ein moralischer Briefsteller zur
37
Bildung des Herzens ich weiß nicht wie auslegen; das wird der Philolog,
S. 196
falls er noch lebt erst zum eigenen, und hierauf zum gemeinen Besten
2
anzuwenden suchen.
deßen
Adoption
in einem kleinen Staupbesen besteht, den
3
Paulus an die Hebräer
μαστιξ
nennt.
4
Materialien ... Büchercensur
vgl.
HKB 241 ( II 188/18 ),
HKB 242 ( II 194/5 ),
HKB 244 ( II 198/20 ),
HKB 245 ( II 201/6 ),
HKB 246 ( II 204/25 ) Die Materialien zu einer Abhandl. über die Büchercensur, woran neulich
5
Freunde
Sebastian Friedrich Trescho
dachte, habe einem Guten Freunde zur Ausarbeitung übersandt den die Sache
6
alter Commilito
Johann Friedrich Lauson
mehr als mich
interessi
rt. Ein alter
Commilito
von mir hat sich gelüsten
7
Paean
Lauson,
Päan
laßen einen
Paean
von sieben Bogen mit Lateinischen Buchstaben in Groß
8
Quart
drucken zu laßen, der sich anfängt:
Zevs niest
– und ihn Friedrichs
9
Palmen
dedici
rt mit der Frage: Kann – will – wird Er ihn hören? Der
10
Prof. poeseos
Der Lehrstuhl des Professor poeseos war seit dem Tod von
Johann Georg Bock
1762 vakant.
Verfasser verdiente die Prof.
poeseos,
die schon lange genug eine Akademische
11
Karschen
Anna Louisa Karsch
Wittwe ist, und die Frau Karschen zur Gehülfin im
Extemporal
reim.
12
Itzt heist es wieder daß der
Recensent
der Lindnerschen Schulhandl. in
13
Rinteln
lebt, und ein gewißes Buch vom Tode für das Vaterland geschrieben
14
haben soll. Seinen Namen, der mir auch mitgetheilet worden, habe nicht
15
lesen können, muß mir daher fremde seyn. Entschuldigen
s
Sie mich bey
16
Verfaßer der Phil. Schrifft
Mendelssohn,
Philosophische Schriften
dem Verfaßer der
Phil. Schrifft
daß ich dem zweydeutigen Gerücht
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nachgeschrieben, ohne weiter einigen Theil daran zu nehmen. Vieleicht wird die
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Palinodie des Phil. (denn an einer Apologie lohnt es nicht der Weile zu
19
denken) alles mit der Zeit wieder gut machen.
20
Wenn mich die Eitelkeit ein
Muster
zu werden anfechten solte: so würde
21
ein Original
Mendelssohn,
Fulberti Kulmii Antwort
, Hamann ersetzt Mendelssohns Formulierung „Begierde ein Original zu seyn“ durch „Schuldigkeit ein Original zu seyn“. Vgl. auch
Hamann,
Mitauisches Intermezzo
, ED S. 56f.
ich der erste seyn darüber zu lachen. Von der
Schuldigkeit
ein
Original
zu
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seyn, soll mich nichts abschrecken. Ein Original schreckt Nachahmer ab und
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bringt Muster hervor.
24
Den Geist eines Volcks oder Jahrhunderts anzubauen, und Aecker zu
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düngen oder fruchtbar zu machen geschieht durch
ähnliche
Mittel. Im Stall
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Augeas
In der griechischen Mythologie reinigt Herakles den Stall des Augias mit 3000 Rindern in einem Tag.
eines Augeas, dem niemand als ein Herkules gewachsen ist, liegt das gröste
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Geheimniß der Landwirthschafft. Wenigstens sagen Sie, Geliebtester Freund,
28
dem
Recensent
en der Kreuzzüge, den ich kenne, so viel statt eines aufrichtigen
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Bekentnüßes; „daß ich alle seine
Vorwürfe
in größerer Stärcke zum voraus
30
gefühlt habe, als er selbige hat entwickeln können, und daß ich seine Gründe
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und ihre Unhinlänglichkeit übersehen kan“. Wenn ich aber seinen Beyfall
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nicht verdächtig machen will, darf ich die schwache Seite seiner
Kritick
nicht
33
aufdecken ohne einen gleichen Nachtheil für Uns beide. Um seinen Spieler
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bey Muth zu erhalten muß man Kleinigkeiten verlieren.
35
Lieber mag ich …
Verse aus „Das aufgehobene Gebot“,
Lessing,
Kleinigkeiten
, S. 19; dort aber lieben statt naschen
Lieber mag ich gar nicht trinken;
36
sagt der Bruder. Die Schwester sagt:
37
Lieber mag ich gar nicht naschen.
S. 197
Und was soll ein Schrifftsteller sagen, dem sie seine
LieblingsGrillen
2
verbieten? Wird ihm noch Lust und Krafft die Feder zu führen übrig bleiben?
3
Drey Schritt vom Leib, Herr Recensent! Sie mögen seyn wer sie wollen –
4
Wer dahin greift …
Aus dem Gedicht „Das Zeisignest“,
Rost,
Versuch von Schäfer-Gedichten
, S. 71; dort „Mädchen“ statt „Musen“. Vgl. auch
Hamann,
Leser und Kunstrichter
, ED S. 5.
Wer dahin greift, wohin er griff,
5
Der greift den Musen an die Seele.
6
Delia
Ri 16,4ff.
Wenn des Philologen seine kein Mädchen ist: so ist ihre gewiß eine Delila
7
mit dem Schermeßer, die ihn erst zum Kalkopf und hernach zum Spott der
8
Kinder machen will. – Gedult Ideen zu entwickeln muß man Leser lehren und
9
Spinnen … Spinoza
Vgl. die bspw. bei
Colerus,
Das Leben des Spinoza
, S. 47f. überlieferte Anekdote,
Baruch de Spinoza
habe Spinnen gefangen und ihrem Überlebenskampf mit Vergnügen zugesehen.
kan bey Schrifftsteller von Selbstprüfung zum voraus setzen. Spinnen und
10
ihrem Bewunderer Spinoza ist die geometrische Bauart natürlich? Können
11
Seiden Würmer
Die Pflanzung von Maulbeerbäumen zur Produktion von Seide hatte
Friedrich II.
verordnet.
wir alle Systematicker seyn? Und wo bleiben die Seiden Würmer, diese
12
Lieblinge unseres Salomo? – Durch welchen Zufall hat sich der Kunstrichter mit
13
apocaliptischen Z
Chiffre von
Moses Mendelssohn
in
Briefe die neueste Litteratur betreffend
. „Antipode“ meint
Christian Ziegra
, dessen Initiale mit Mendelssohns Chiffre koinzidiert.
dem
apocalipti
schen Z des Antipoden charakterisiert? Ist es nicht der
14
Ziegra … Hamb: Nachrichten
Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit
hochwürdige Doktor und
Canonicus Ziegra,
der die Hamb: Nachrichten aus dem
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Reiche der Gelehrsamkeit samlet und herausgiebt? In Karthago war es ein
16
Gamma neulich Beta
Das Buchstabenspiel um Beta und Gamma vertauscht die Reihenfolge der Buchstaben, vll. eine Variation der Alpha-Beta-Vertauschung nach
Martial,
Epigramme
, 5,26. Beta bezieht sich wohl auch auf die Chiffre „B“ von
Thomas Abbt
berühmtes Sprüchwort; daß
Gamma
neulich
Beta, Beta
nun
Gamma
17
verfolgt.
18
Laßen Sie mich, höchstzuehrender HE, mit diesem Buchstabenspiel
19
schließen. Es thut mir nicht leid an diesem Briefe einen ganzen Monath lang
20
geschrieben zu haben, da mir die Beqvemlichkeit dadurch zugewachsen einen
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guten Freund zum Uberbringer deßelben zu machen, den Sie beßer kennen als
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ich selbst, den ich daher nicht nöthig habe ihn ihren guten Gesinnungen zu
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empfehlen. Grüßen Sie aufs zärtlichste den HE M u den Verfaßer der
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Beurtheilung. Ich bin pp
25
Grünen Donnerstage
Donnerstag, 30. März 1763
frei
am Grünen Donnerstage.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 64.
ZH zufolge sei der Entwurf in der letzten Hälfte von einer anderen Hand geschrieben, mglw. von Johann Gotthelf Lindner.
Bisherige Drucke
Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 51–54.
ZH II 194–197, Nr. 243.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
195/7 |
arces |
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): arcis quandam |
197/25 |
frei ]
|
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): lies fin. statt frei |