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den 31 Jänner 75.
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Liebster Hartknoch,
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Wenn Sie nur so viel Zeit hätten zu lesen, als ich Lust zu erzählen: so
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wollte ich
ab ouo vsque ad poma
Ihnen alles schreiben. – Nun lesen Sie so
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viel Sie wollen, und laßen Sie mich schreiben, so viel ich kann.
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Gestern um diese
Zeit
schwarze Stunde saß ich, trunk mein Kännchen
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Caffé,
rauchte mein Pfeifchen
à la hate
und „dacht nicht viel an das elende
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Leben“; wie der Prediger Salomo sagt, als mir ein Fäßchen
Caviar
ins Haus
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gebracht wurde – „Und kein Brief, keine Zeile dabey!“ Mit dieser
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Exclamation
des Wunderns gieng ich auf mein
Bureau.
Als ich zu Hause kam, liefen
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mir meine Kinder entgegen und schrien: ein Brief! ein Brief! – „Von wem?“
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Zündt Licht an, zieht mich aus, gebt den
Caviar
her!
“
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– – „Ihre Sibylle roth und schwartz, wie Sie es verlangten abgedruckt.
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Zwey
Exempl.
“ – – 3
1
/
4
Zeilen. An kein
Caviar
gedacht, an keine
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vorhergängige
Correctur
– Der Verleger, dacht ich, ist ein anderer
Julius Caesar;
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aber noch kein
Augustus
, der des erstern
Festina
mit einem
lente
zu
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verbinden wuste.
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Unterdeßen war das Fäßchen geöffnet, mit einem Eßlöffel bedeckt, und von
S. 151
Paarsemmeln und Kindern umlagert. Ehe es zum Handgemenge kam, gieng
2
ich mein
Ora
cul
zu Rathe ziehen. Weil ich ersahe, daß die Sibylle am Tage
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Adelgunde
angekommen war; so war dies
nomen et omen.
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Es lebe die Sibylle Adelgunde!
zwitscherten die Jungen. Der Alte aß,
5
wie schr
ie
eibt – bis er nicht mehr konnte vor Schweiß seiner Nase. Die
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Kinder machtens leider! nicht beßer; unterdeßen das
respecti
ve
Publicum
in
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langen Röcken, worunter sich auch Lehnchen Käthe befand, über den
Alten
8
und seine
Art
grifflachten, die
schwarze Seife
, wie sie es nannten, sich von
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den Fingern zu leck
te
en.
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Diesen Morgen erhielte von HE.
Toussaint
eine Entschuldigung, daß ein
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kleines Briefchen
zum Fäßchen gehörig, wegen seiner kleinen
Statur
wäre
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übersehen werden.
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Dies
Billet doux
öfnete mir die Augen erst über meine
eigene
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Ungerechtigkeit
, womit ich Ihr Stillschweigen in den Verdacht eines heiml. Unwillens
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über mich gezogen hatte
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2.) über den unvermeidlichen Betrug der optischen Beywörter;
groß
und
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klein
,
dick
und
dünn
, wenn man den Innhalt der Dinge nicht einzusehen
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im stande ist.
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Gestern hieß es: was für ein
dicker Brief
! Und es waren 3
1
/
4
Zeilen ohne
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datum,
ohne den geringsten Wink noch Erläuterung der vergangenen Dinge.
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Heut hieß es: ein
kleines Briefchen
! Er enthielt gleichwol ohne das
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Datum
und die übrigen
Curialien
mitzurechnen über 11 volle Zeilen. Nachricht
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vom
Druckort
; Namen des gelehrten
Correcto
rs; genommene Abrede die
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Lettern bis zu meiner Antwort stehen zu laßen; ein Merkmal des
guten
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Willens
ein andermal den übrigen Innhalt meines lieben Briefes zu
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beantworten;
aviso
vom Tönnchen
Caviar
nebst dem Namen des Monaths, des
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Fuhrmanns, des
Destinataire,
Zahl des Gewichts und den Anfang eines
Χ
stl.
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Wunsches, der so trefflich eingetroffen, daß ich nunmehr bestimmen kann über
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ein ℔ mit meiner kleinen Mannschaft verschlungen zu haben.
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Um meine unverschämte Lüsternheit in Ansehung des
Caviars
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einigermaßen zu entschuldigen, kann ich nicht umhin anzuführen
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1.) daß ich eine so tiefe eingewurzelte Ungeschicklichkeit und Abneigung
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gegen allen Handel und Wandel habe, daß ich ohne Rücksicht des
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Eigennutzes wünschen möchte nichts auf der Welt erkaufen zu dürfen. Es ist
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gar zu weitläuftig Ihnen alle die Gründe dieser meiner
Antipathie
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oder
Idiosyncrasie
zu entwickeln.
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2.) daß ich
zu
so streng wie der
Accise Tarif
meines allergnädigsten
S. 152
Monarchen unter die
objecta consummationis ord
riae
und
Delicatessen
2
distingui
re.
3
3.) daß ich letztere mit allem mögl.
Epicureismo
verzehren mag und daß
4
das Andenken eines Freundes, dem ich einen Genuß zu verdanken
5
habe, dazu der beste
medius terminus
ist die Fibern des Magens und
6
Herzens zugl. zu
kützeln
.
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Nachdem ich heute aus Ihrem
Billet doux
vom 3
huj. st. v.
ersehen, daß
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mein Vertrauen auf Ihre Freundschaft auf keinerley Art beschämt worden
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ist: so faße ich auf einmal Muth, an statt eines
mimi
schen Stillschweigens bis
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zur OsterMeße und einer mündl. Unterredung, Ihnen noch einmal zu
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schreiben. Meine kleine Adelgunde ist so rund und gut im Druck gerathen, daß ich
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meine Freude an ihren rothen Wangen und pechschwarzen Augen und Haaren
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gehabt habe. Ich überlaße es gänzlich Ihrem Gutachten und dem Befinden
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der Umstände, ob Sie aus nachfolgender Anzeige von Muttermählern noch
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einigen Gebrauch machen können und wollen:
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S.
II.
Z. 3. an statt Harmonien, lies: Harmonie. S.
IV.
Z. 2 fehlt das
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Zeichen - zwischen Immer- und Vermehrer,
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Immer-Vermehrer
.
i. e (Semper Augustus)
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V.
Z. 3. herrlichen,
comma fehlt.
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VI.
Z. 10. an statt alten, lies: altem
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12. Grund- fehlt das Zeichen der Trennung oder Verbindung-
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VIII.
Z. 10. an statt Schemen, ließ: Scheme und zeitigen mit einem
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kleinen z.
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IX.
Z. 14. an statt spuckenden, lies: spukenden. Weil Spucken und
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Spuken verwechselt werden kann. Vielleicht wär es noch
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beßer das Wort mit 2 u zu schreiben: spuuken.
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XII.
Z. 9. an statt das, lies: daß
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XIV.
Z. 2. an statt: ein
Caviar
lies:
Caviar, deleatur
ein.
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XV.
Z. 2. hinter Zueignung? muß an statt des Fragezeichens ein
Colon
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stehen.
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S.
XVI. lin. vlt.
an statt
Meduse
Minerva lies:
Aspasie
. Mit dieser
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Aenderung wäre zuvorgekommen, wenn ich nicht Antwort auf
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das Wörtchen
Hu?
gewartet hätte. Den wenigsten Lesern
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dürfte es einfallen, daß
Pericles
se Aspasie in der Maske der
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Minerua
Schau getragen öffentl. und daß ich Aspasie dachte
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und Minerve schrieb.
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Dies wären meine
Curae posteriores
alle. Sollte meine Antwort zu spät
S. 153
kommen und die Lettern schon aus einander seyn; so ist an allen diesen
Naeuis
2
nicht viel gelegen, und ich überlaße alles Ihrem Gutbefinden und der Lage
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der Sache. Bitte nur, liebster HE Verleger, mich nicht auszulachen, daß ich
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wegen eines leichten Bogens in klein
Duodez
so viel Federlesens mache, und
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sich durch das
opti
sche Urtheil meiner lieben Amtsschwestern im langen Rock
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u. mit glattem Kinn nicht irre machen zu laßen, welche die
vires
nach dem
7
volumen
schätzen, und dünne dick, klein groß nennen nach der Unter
Instanz
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des sinnlichen Augenscheins.
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Von den 2 mir überschickten
Exemplarien
habe ich das Meinige noch gestern
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Abend verschenkt. Ich erwarte daher die mir zugedachte und versprochene
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kleine Anzahl mit
Gelegenheit
, daran es nicht fehlen wird. Das dem Herder
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zugedachte
Exemplar
kann noch nicht sogl. befördern, weil er mir eine
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Antwort schuldig ist, auf die ich warte, und willens bin das Exemplar durch
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Claudius
meinen Gevatter zu
expedi
ren, der schmerzl. auf den Anblick wartet,
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damit er’s wenigstens lesen und sehen kann.
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Von den mir zugedachten Exemplarien bitte noch 2 abzunehmen, eins für
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HE. Georg Berens, für seine stille Verdienste um unsern gemeinschaftl.
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Freund zu B. und das andere für den armen Hintz in Mitau, dem ich zugl.
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einen
förmlichen Arrest anzukündigen
bitte wenn er mir auf Ostern nicht
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wenigstens 3
Exemplaria
des
Selbstgesprächs
und 3 der nicolaitischen
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Antwort No. 1. mitbringt nebst dem
Defect
des Sophrons. Sollte einer von
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beyden das Andenken der
Sibylle Adelgunde
verschmähen; so bitte das
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verworfene
Exemplar
für mich beyzulegen – und es als ein
Corpus delicti
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gehörig zu zeichnen.
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Ein
einziges
Exemplar
des
Zacchaei
habe am Neujahrstage erhalten,
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aber auf frischer That einen Manne aufgedrungen, daß ich also nichts als
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die Aushängebogen für mich selbst besitze, dörfte wol keins vor der Meße
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erwarten. Und gesetzt daß eins eher ankäme, so würde es nicht der Mühe lohnen
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es Ihnen zu
expedi
ren.
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Nun liebster Freund Hartknoch! Das ist wirklich der letzte Brief, den ich
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Ihnen schreibe; weil ich den ernsten Willen habe, wo es nur immer mögl. seyn
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wird, etwas feisteres in Ihren Verlag zu liefern, um Sie wegen der
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begangenen Tändeley mit der
Sibylle Adelgunde
, wo mir nur möglich
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schadlos zu halten. Es wird keinem Menschen auf der Welt so schwer und
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so leicht einen Brief zu schreiben als mir und ich bin das wunderbarste
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Gemisch von
extremis.
Mein Waarenlager über den Articul, den ich im Schilde
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führe, ist so voll, daß mich mein Ueberfluß arm macht.
S. 154
1
/
12
tel des Jahrs ist verfloßen, ohne daß ich weder eine Kirche noch die
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Stadt besucht habe. Eine
splendida bilis,
wie Horatz es nennt, zeigt mir in
3
jeder Sache Seiten, die andere nicht sehen können oder nicht sehen wollen, und
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macht mir allen Umgang mit Menschen, die mir so unerklärlich sind als ich
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ihnen seyn muß, unausstehlich. Diese Rücksicht auf meine Gemüthslage scheint
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mir den sichersten Aufschluß von unsers gemeinschaftl. Freundes ebentheuerl.
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Autorschaft zu geben. – Holla! Schicken Sie mir doch mit eben der günstigen
8
Gelegenheit seine
Volkslieder
. Alles Meßgut ist für uns eingefroren. Haben
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Sie beßer Glück gehabt – das
Dictionnaire des Finances
erhalten? Wieviel
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kostet es? und werden Sie Ihr Versprechen erfüllen es mir kennen zu laßen,
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wenn es mir zu theuer seyn sollte. Sie erhalten Geld, oder Buch ehrlich
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wieder, weil dies zu den
objectis consummationis ord
riae
gehört.
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Nun ich wünsche Ihnen und Ihrem ganzen Hause viel Freude, und
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erwarte Sie – halb oder gantz fertig – Empfehlen Sie mich Ihrer lieben Hälfte.
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Meine Kinder schlafen alle Gottlob! Hänschen hat mir manchen Angstschweiß
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zum Anfang dieses Jahres durch ein gefährliches Lager an einer starken
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Verkältung abgejagt. Und hiemit Gott empfohlen.
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Johann Georg Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 5.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 122–126.
ZH III 150–154, Nr. 432.