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Grünhof. den
4 May 1755.

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Herzlich geliebteste Eltern,

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Ich komme meinem neulichen Versprechen nach und hoffe dasjenige mit ein

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wenig mehr Zeit zu ersetzen, woran es mir letzthin gefehlt. Weil ich mich nicht

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mehr den Innhalt meines letzteren Briefes deutlich besinnen kann; so

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entschuldigen Sie nach Ihrer Güte die begangenen Uebereilungsfehler darinnen.

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Gott gebe daß Sie sich, Zärtlichst geliebte Eltern, gesund befinden. Ich bitte

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denselben darum v wünsche es Ihnen täglich. Ich habe mir eine kleine

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FrühlingsCur zu brauchen vorgenommen, die ich aber wieder meinen Willen noch

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Laxativ
Abführmittel
bisher habe aufschieben müßen. Der Anfang mit einem
Laxativ
ist schon dazu

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gemacht; nichts als das Aderlaßen hält mich auf, dazu ich noch nicht kommen

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kann. Ich habe eine Schläfrichkeit v einen Appetit einige zeitlang gefühlt,

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Vollblütigkeit
Bluthochdruck
davon mir beyde von Vollblütigkeit herzurühren schienen. Bey unsern

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Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Auffenthalt in Mietau auch einige Tropfen durch die Nase verloren. Ohngeachtet ich

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jetzt mich ziemlich erleichtert davon fühle; so halte ich es doch als ein Gerüst

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zu meiner Cur als auch vor sich selbst für nothwendig. Der HE.

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RegimentsFeldscherer Parisius, ein Halbbruder des HE. Gericke, ein sehr

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liebenswürdiger v rechtschaffener Mann und mein guter Freund, hat mir versprochen

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herauszukommen, weil er ohnedem als der ordentl. Artzt in unserm Hause

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gebraucht wird; welches bißher noch nicht geschehen. Auf das späteste denke nach

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Himmelfahrt
8.5.1755
Himmelfahrt wills Gott! anzufangen, weil ich an diesem Tage mir

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vorgenommen meine Andacht zu halten.

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Meine Cur selbst soll in einer Art von Molken bestehen oder in mit

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Löffelkraut, in Ermangelung deßen Brunnenkreße, aufgekochten Milch. Meine

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Zähne an deren Reinigkeit ich es ohne sie eben zu putzen nicht fehlen laßen,

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zeigen einen Scorbut an, den mein hiesiger Freund auch zu einem Grunde

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meiner Hypochondrie einigermaßen macht. Ich habe schon zu Hause selten

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meine Zähne ein wenig reiben können ohne daß sie Blut gegeben hätten. Ich

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bitte mich, mein lieber Vater, Ihren Rath v. Meinung darüber aus.

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Wenn ich ja etwas krank bin; so ist meine Krankheit nichts als zu wenig

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Bewegung des Leibes v vielleicht zu viel des Gemüths. Wie viel würden

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meine liebe Eltern zur letzteren beytragen, wenn Sie mir Ihre Furcht, Ihre

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Unruhe v Ihre Sorgen mitzutheilen fortfahren werden.

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Pyrmont v. Aachen
als Kurorte
Ein kleiner Aufenthalt in Riga wird mir an statt Pyrmont v. Aachen dienen.

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HE. M. hat mir schon zu Arbeiten, die er im Sinn hat, eingeladen. Die Furcht

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einen Müßiggänger an Ihren Sohn zu haben, darf Sie also nicht beunruhigen.

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Ohngeachtet mein Sinn ehmals in Ernst nach Petersburg zu gehen gewesen;

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so werde ich mich doch in nichts einlaßen. Wenn sich aber eine Gelegenheit

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fände jemanden dort auf einen Monath Gesellschaft zu machen; so möchte ich

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nicht gern eine Beqvemlichkeit fahren laßen einen der vornehmsten Nordischen

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Höfe zu sehen oder wenigstens mich einer großen Stadt wieder zu erinnern.

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Dies ist eins.

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2.) HE. B. hat (im Vertrauen) noch Lust eine kleine Reise zu thun v eben

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so viel Freundschaft mich als seinen Begleiter mitzunehmen. Ich habe niemals

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geglaubt einen so beflißenen v. mir recht ergebenen Freund an ihn zu behalten.

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Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er sich meiner annimmt, v sich alles

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desjenigen angelegen seyn läst, was mich angeht. Wenn dies geschehen sollte,

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so würde ich geschwind genung das Verlangen meiner lieben Eltern mich

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wiederzusehen erfüllen können; v ich würde mich um so viel weniger Ihren

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Wünschen v Befehl entziehen, weil ich mich alsdann freuen könnte die

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Absicht, warum ich Selbige verlaßen, einigermaßen erreicht zu haben.

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Ich überlaße mich v mein Schicksal der göttl. Vorsehung gänzlich. Sie hat

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Triebe in unserer Natur gelegt, die wenn sie nicht lasterhaft sind und mit

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unsern Pflichten streiten, nicht selten als unsere Bestimmung als der Ruf zu

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ihren Absichten angesehen werden können. Mit wie viele Ruhe und

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Zufriedenheit für 100 andern kann derjenige leben, der keinen andern Endzweck hat als

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wie ein vernünftiges v. wie ein theuer erlöstes Geschöpf als Mensch v Christ

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seinen Verbindlichkeiten ein Genüge zu thun. Mit viel Vergnügen habe ich

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mir bey dem Lebenslauf meines Lehrers, den mir mein Bruder zugeschickt,

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seine Gemüthsart vorgestellt. In einem kleinen Bezirck der Welt nützlich, zu einem

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weit größeren geschickt; ihr unbekannt v verborgen, der sich, die Natur v Ihren

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Urheber aber desto beßer kennte, sich selbst verleugnete, der erstern bescheiden

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und unermüdet nachgieng v den letzteren in einer kindl. Einfalt verehrte.

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An HE. M. habe, lieber Papa, Dero letzten Gruß bestellt. Er erkennt mit

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viel Zärtlichkeit das Andenken, welches Sie ihm noch gönnen, v. wünscht sich

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das Glück Sie noch einmal zu sprechen. welches vielleicht bey einem Besuch,

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den er
einem
künftig Ihnen v mir geben könnte nicht so unmöglich oder

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unwahrscheinlich wäre. Er scheint sehr zufrieden zu leben. Denken Sie an die

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Kette von Wiederwärtigkeiten, an die sein Glück endlich geknüpft worden.

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Würde er ohne dem unglückl. Sendschreiben jetzt den Unterscheid seines

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Schicksals, selbst ohne denjenigen Fehlern, die Lasterhafte zum Grund ihrer

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Verfolgung machen v durch die ein rechtschaffener Mann gebeßert, selten in der

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Welt bestraft wird, mit so viel Zufriedenheit empfinden können?

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Ich hoffe daß sich die Fr. Saturgin beßer befinden wird; und sehe mit

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vielem Verlangen allen den Nachrichten entgegen, zu denen einmal ein langer

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Brief bestimmt seyn soll.

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HE.
D.
Lilienthal v
Diac.
Buchholtz werden mir vermuthlich, der letzte

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besonders, antworten. Bey Gelegenheit bitte ihn so wohl als erstern meine

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Ergebenheit zu versichern.

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Was machen das Zöpfelsche Haus, HE. Renzen v seine liebe Familie, die

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Arndts
nicht ermittelt
HE. Arndts, ihr redlicher Vater v HE. Pf. Keber? Kommt letzterer noch nach

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Königsberg bisweilen? Ich grüße alle gute Freunde herzlich.

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Meine liebe Mutter wird Ihre eigene Augen doch mit meinen Hemden

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verschonen. Ich verdiene diese Mühe nicht. Wenn Sie was recht gutes aber was

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recht englisches von Meßern für meinen starken Bart haben; so werde ich

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Ihnen sehr dafür erkenntlich seyn v bitte selbige künftig beyzulegen. Die alten

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haben beynahe ausgedient. Sie werden erlauben noch folgende Seite an

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meinen Bruder anzuhängen. Ich empfehle Sie Geliebteste Eltern, der Vorsorge

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Gottes und mich Ihrer Liebe und Gebet. Mit einem kindlichen Handkuß nenne

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mich Zeit Lebens Ihren gehorsamsten Sohn.

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Johann George Hamann.


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Die Jgfr. Degnerinn wird sich vermuthlich jetzt schon gesund befinden. Ich

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bitte selbige herzlich zu grüßen.


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Mein lieber Bruder,

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Du hast mich unendl. verpflichtet mit der Mühe die Du Dir gegeben den

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Aufsatz abzuschreiben. Ich nehme Deine Güte mir die gedruckten Stücke selbst aus

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Catalogo
Auktionskatalog von
Rappolts
Bibliothek,
HKB 26 ( I 72/23 )
den Intelligenz Blättern zuzuschicken nebst dem
Catalogo
zum voraus mit

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allem Dank an v bin mir derselben gewiß gewärtig.

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Deinen Freund, den ich auch mit seiner Erlaubnis zu meinem mache, hoffe

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Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
höchstens in Riga bald zu sprechen. Ob in Mietau kann ich nicht versprechen.

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Grüße ihn von mir v verbitte die anerbotene Vorsorge für meine Laute; ich

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muß selbige wenigstens auf Deine Rechnung annehmen. Seine Gefälligkeit

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einem unbekannten zuvorzukommen ist sehr uneigennützig v ich lege selbige

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als ein großes Merkmal der Liebe aus, die er für Dich hat. Auf was für einen

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Fuß er herkommt hast Du mich nicht geschrieben; vermuthl. auf ein
Comtoir.

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Dein
Compliment
habe bestellt.

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Er v Sie
das Ehepaar
Lindner
Brief
nicht überliefert
Er v Sie haben mir geschrieben. Auf meinen letzten Brief erwarte diese

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Woche Antwort. Wenn er sich durch die Bestellung etwas ausbitten sollte; so

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melde Dir mit ersten. Ich weiß nichts, mein lieber Bruder. Wenn Du etwas

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Neues besonders im franzöischen hast; so wird es mir lieb seyn; wo nicht,

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gleichfalls. Es fehlt wohl meiner Bibliothec noch ein zieml. unentbehrl.

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Schulbuch. Weil ich aber nächst Gott die Hofnung habe mich vielleicht ein wenig von

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diesen Arbeiten ausruhen zu können; v wenn ich ja eine erwünschte Stelle

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annehmen müste, noch Zeit genung es zu verschreiben übrig wäre. So ist mir

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daran nicht unumgängl. gelegen. Ich habe es jetzt geliehen v habe mit meinem

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ältesten HE. einen Anfang damit gemacht um auf einen künfftigen etwanigen

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Versuch daraus zu urtheilen; werde es also bald wieder geben können v. nicht

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mehr nöthig haben.

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bis 1755 waren die sechs Bände der
Encyclopédie
bis „Esymnete“ erschienen.
in
Hamann,
Beylage zu Dangeuil
, N IV S. 232/45, ED S. 375, bezieht sich Hamann bereits auf die
Encyclopédie
.
Ich freue mich auf die
Encyclopedie;
welche mir in Riga zum Gebrauch des

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Durchlesens versprochen worden. Vielleicht möchte ich die Gelegenheit

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ergreifen den HE.
D.
Lil. um einige Handschriften des seel. Rappolts zu bitten.

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Hat er selbige? Ich glaube nicht daß er es mir abschlagen würde. Wie herzlich

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wünschte ich die öffentl. Bekanntmachung seiner Schriften, zu welchen er sich

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anzuerbieten scheint. Der rechtschaffene Mann! Er hat wichtigere Einsichten

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beseßen als diejenigen, welche ich mir am meisten zu Nutz gemacht. Ich meine

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seine physischen v oeconomischen, deren Wichtigkeit ich jetzt beßer als sonst

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einsehen lerne. Wie geht es den Seinigen? Sie werden wie ich hoffe v gehört,

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nicht verlaßen seyn.

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Hast Du an HE.
Secret. Sahme
geschrieben. Ist nichts von HE Hennings

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eingelaufen? Was machen unsere Freunde? Wolson v Lauson. Sey sorgfältig

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uns die Antworten der beyden ersteren zu bestellen v unsere Briefe

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abzufertigen. Was hast Du aus der Rappoltschen Auction erstanden.

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Wie geht es mit Deinem Predigen? Thut Dir dein Gedächtnis v Lunge

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gute Dienste bey dieser Arbeit. Was machen Deine Schüler v Schülerinnen?

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Erfülle die Hofnung unserer Eltern. Du bist geschickter als ich dazu; die Pflicht

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dazu liegt Dir auch daher mehr ob. Wirst Du bald bey der Schule, Akademie,

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oder Kirche anfangen. Entdecke doch Deine Gesinnungen, wozu Du am

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meisten Lust hast v Dich zubereitest. Dein Glück soll mir immer mehr am Herzen

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liegen als das meinige. Schicke mir doch Deine Kanzelreden; wenn Du Dich

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nicht die Mühe einer Abschrift nehmen willst, sollst Du sie wieder zurück

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bekommen. Ich verspreche Dir gewis selbige zurück. Hörst Du mein lieber

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Bruder; ich bekomme selbige mit HE.
Vernizobre.
Schreibe mir bald v viel. Gott

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seegne Dich v unser ganzes Haus. Liebe mich wie ich Dir mit dem

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aufrichtigsten Herzen ergeben bin als Freund v Bruder. Schreibe mir bald, v lebe wohl,

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recht wohl. Ich umarme Dich nochmals.

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J. G

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (26).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 262 f.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 68 f.

ZH I 107–111, Nr. 43.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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Catalogo
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
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Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
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