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Grünhof den
6 Aug. 1754.
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Zärtlich geliebteste Eltern;
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Ich setze mich an meinen Schreibpult v. fange diesen Brief mit dem
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herzlichen Wunsch an, daß Sie derselbe gesund und in einem zufriednem
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Augenblick antreffen mag. Meinen letzten werden Sie ohne Zweifel erhalten v den
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Inhalt deßelben nicht gemisbilliget haben. Ungeachtet ich mir schon eine
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Antwort darauf versprochen, so erwarte ich gleichwol selbige mit erster Post; v ich
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hoffe, daß meine liebste Eltern so zufrieden seyn werden als ich es bin. Herr
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Berens ist unerhört geschwinde gereist v ich habe ihn leyder verfehlt; er ist den
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Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
Dienstag nach seiner Abreise aus Königsberg schon in Mietau des Abends
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gewesen v. Mittwochs zu Mittag nach Riga abgegangen, hat in dem
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Wirthshause nach mich gefragt mich grüßen laßen v. versprochen mit ehsten wieder
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in Mietau zu seyn. Ich hatte ihn wegen der schwülen Tage 10 Zeit gegeben v
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habe also um 3 wenigstens zu viel gerechnet. Die rußischen Fuhrleute halten
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ihr Wort nicht immer so genau. Der preußische mit
s
meinen Sachen wird
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auch vermuthlich itzt angekommen seyn; weil mir HE.
D.
Lindner endl.
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Baranke
Lammfell, polnisch: baranki
einmal geschrieben, daß er einen gefunden. Die halbe Baranke, die noch fehlt,
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wird gewiß noch vor dem Herbst oder Winter gleichfalls ihre Aufwartung
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Freund
evtl.
Johann Christoph Berens
, der eine Studienreise durch Westeuropa plante,
HKB 43 ( I 108/17 ).
machen. Von uns. Rigischen Freund kann nichts zu hören bekommen, ob er
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schon sein
Exilium
angetreten oder nicht. Hat mein Bruder nicht erfahren,
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welcher Landsmann auf das HE.
D. Funck Recommendation
nach Curland
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kommen wird. Man macht mir von meinem Tausch viel gute Hofnungen;
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welche die Zeit bestätigen wird. Ich bin sehr ersucht worden die Ankunft
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meines Nachfolgers aus Leipzig zu erwarten v man hat neue Anerbietungen
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gethan mich diesem noch vorzuziehen, wenn ich mich entschlüßen könnte. Wenn
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man sich Zeit genommen hat zu überlegen; so ist es kein Eigensinn oder Fehler
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unbeweglich zu seyn. Meinen lieben Herrn Rittmeister hoffe auch noch vor
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meinem Abschied hier zu sehen; ich weiß nicht, wie er von dem
Credit,
den ich
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bey meinem Bruder habe v. von den guten Eigenschafften, die ihn zu einem
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dienstfertigen Freund machen, urtheilen wird. Wenigstens wird er vermuthen,
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daß ich zu Hause übel angeschrieben seyn muß ohngeachtet der Zärtlichkeit,
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mit der ich jederzeit gegen ihn an meine Freunde gedacht v. die ich gegen ihn
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als einen Kenner mehr wie einmal ausgeschüttet habe. Ich habe ihm
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unterdeßen neulich meine eigene Laute zum Bürgen gegeben, v da ich die Wahrheit
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v. mein Wort so ziemlich liebe, so wird ihn dies vielleicht zum Mitleiden
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bewegen, daß ich darunter nicht leide. Wo nicht; so werde ich eine aus Lübeck
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müßen
verschreiben müßen v es wird mir leid thun, daß mein Bruder den
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Dank eines schätzbaren Mannes nicht verdienen will.
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Ich sehe mich genöthigt, Geliebtester Vater, meine Zuflucht in einer andern
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Angelegenheit zu niemanden anders als zu Ihnen zu nehmen, und ich traue
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hierinn Ihrer Güte desto zuverläßiger, da es Ihnen am leichtesten seyn wird
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diese Bitte mit der gehörigen Vorsicht zu erfüllen. Es ist ein Werk der
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Menschenliebe, um welches ich Sie bitte. Ich habe schon längstens hierinn einem
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guten Freunde zu Gefallen Anschläge gemacht, die aber zu weitläuftig
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gewesen, als daß ich selbige hätte ausführen können, wie sich jetzt eine
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Freund
George Bassa
Gelegenheit dazu zeiget. Ein guter Freund, dem seine Geburt ein Geheimnis ist v kein
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Mittel hat das Räthsel seines Standes aufzulösen; durch gegenwärtige
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Schrift aber den Stand, den Namen seiner Eltern pp. zu erfahren vermuthet.
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Seine Neigungen v. die dunkeln Erzählungen anderer verrathen keine schlechte
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Abkunfft. Ich habe mich anheischig gemacht ihm für seine Freundschaftsdienste
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zu dieser wichtigen Entdeckung zu verhelfen; mir auch Wege dazu schon
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ausgedacht, die aber alle ziemlich unbeqvem sind. Weil der Anfang dazu durch
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Übersetzung gegenwärtiger Handschrift gemacht werden muß; an derselben
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ihm aber viel gelegen ist; so vertraue ich selbige Ihnen GeEhrtester Papa an.
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Die Abgesandten in Warschau machen mir dieses Mittel sehr leicht durch einen
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Hävelke
nicht ermittelt
von Ihren Dollmetschern den Inhalt derselben zu erfahren. Herr Hävelke ist
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in Pohlen sehr bekannt; v würde wohl dorten einen sichern Freund finden, der
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dafür stände, daß selbige nicht verloren gienge v so bald wie mögl. eine
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Verdeutschung derselben verschafft werden könnte. Sollten dazu Unkosten
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gehören; so nimmt sie dieser Freund auf sich, wiewohl dieses ohne selbige
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anfängl. wohl wird abgemacht werden können. Wenn es mir nicht an Zeit fehlte;
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so würde ich eine Copey davon genommen v selbige aus Vorsicht nur
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überschickt haben. In Ihren Händen v durch selbige wird sie aber so gut als bey
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mir selbst aufgehoben seyn. Ich glaube nicht, daß weder
D
Prof. Kypke
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noch der getauffte gelehrte Jude hiezu geschickt sind. Man könnte sich durch
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HE
M. Lindners
Güte bey beyden hierüber erkundigen ohne sich in die
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geringste Erörterung auszulaßen. Vielleicht kann letzterer (der Jude) eine Copie
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davon nehmen v so wäre es mir lieber daß das
Original
zurückbliebe v. mir
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auf das sicherste wieder zugestellt würde. Es sind Umstände bey dieser Sache,
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aus denen man
sich
vermuthen kann, daß diese Entdeckung nicht fruchtloß
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seyn wird, v welche den Innhalt dieser Schrift vielleicht alle entwickeln wird.
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Ich bitte daher nochmals auf das feyerlichste sich dieser Sache so gut als
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möglich anzunehmen v mir so wohl eine Antwort als Erfüllung meiner Bitte
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mit ehsten zu gewähren.
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Mit erster oder nächster Post werde wieder schreiben v. meinen Bruder auch
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HE.
M. Lindner
nicht vergeßen, die ich beyde umarme. Des letzteren
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Brief habe erhalten. Mein Gebeth geht auf die Erhaltung meiner besten
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v. liebsten Eltern v ich schließe mit selbigem wie ich damit angefangen
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habe. Uebrigens beschwöre ich Sie nochmals weder im Bösen noch mit
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Gram an mich zu denken. Wenn Sie mich ja für ein Kind ansehen, liebste
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Eltern, das nicht gerathen ist; so freuen Sie sich wenigstens, daß ich nicht
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verdorben bin. Ein paar schlechte Würfe machen noch keinen Spieler
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verzagt, noch kein Spiel verloren. Es ist eben so lächerlich
über
sich zeitl.
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Umstände als bey einem Trauerspiele
über
sich das erdichtete Unglück eines
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acteurs
zu
weinen
Gemüth
gehenzu laßen
. Ich küße Ihnen 1000 mal die
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Hände Sie mögen wollen oder nicht als Ihr gehorsamster v. bester Sohn.
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Johann George Hamann.
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Alle gute Freunde v. Jgfr. Degnerinn grüßen Sie von mir.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (21).
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 59–62.
ZH I 76–78, Nr. 29.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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gehenzu laßen ]
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Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): gehen zu laßen |