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S. 69
Grünhof den
4 May 1754.
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Herzlich geliebteste Eltern,
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Wenn werden Sie mich aus der Unruhe reißen, in der mich die lange
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Abwesenheit und der ungewohnte Mangel einiger Nachrichten von Hause setzet?
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Mein erster Brief ist von Ihnen ohne Zweifel schon erhalten worden; der
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zweite gleichfalls, und ich weiß selbst kaum mehr was ich denken und meinen
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betrübten Muthmaßungen zu meiner Beruhigung entgegensetzen soll. Gott
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gebe, daß die morgende Post was für mich mitbringt, und bitte noch mehr,
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daß es nichts als Gutes sey. Ich habe meinen Brief mit so viel Verwirrung
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und Eilfertigkeit neulich geschrieben, daß ich deshalb um Verzeihung bitte,
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wenn auch gegenwärtiger nicht beßer gerathen sollte.
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Ich wünsche, daß sich meine GeEhrteste Eltern wenigstens so gesund als ich
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befinden möchten; und daß eine angenehme Verwirrung, oder die ich mir so
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leidlich als möglich vorstelle, an den Aufschub Ihrer mir so unentbehrlichen
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Zuschriften allein schuld sey. Bald ersinne ich mir Besuch vom Lande, bald
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behelf ich mich mit der wahrscheinlichen Erdichtung, daß Sie zu eben der Zeit,
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wenn ich an meine liebste Eltern und Freunde denke, an mich schreiben und
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ich nichts als die Post abwarten darf. Dieser Gedanke hat mich aber schon
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etliche mal betrogen, daß ich selbigem nicht mehr trauen kann. Unter allen
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grausamen Ahndungen, die mich qvälen, ist dies die leidlichste, daß sich alle
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biß auf meinen Bruder fest vorgenommen hätten mich zu vergeßen. Wenn ich
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mich von dieser Zusammenschwörung überzeugen könnte; so würde ich jede
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Woche zweymal Sie wieder Willen nöthigen an mich zu denken.
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Die Bewegung, ohngeacht die jetzigen Tage noch nicht alle dem ersten May
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ähnlich sind, scheint meiner Gesundheit ziemlich gute Dienste und meiner
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Hypochondrie Abbruch zu thun. Das
Clima
scheint das ganze Land mit einer
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Art von dieser Krankheit zu drucken. Ich habe in einem gewißen Buch, welches
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gesellschaftliche Erzählungen heist und mir von der Frau Gräf: mitgetheilt
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worden eine ziemliche Nachricht von diesem Übel gelesen, gegen welches eine
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Unzer,
Gesellschaftliche Erzählungen
, 1. Tl, S. 16
unbarmherzige Diät als die beste Cur vorgeschrieben wird. Ein kleiner Anfang
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dazu ist schon von mir gemacht worden, den mir aber beynahe
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unwiederstehliche Versuchungen ziemlich schwer machen, und den ich auch im strengen
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Verstande nicht ausführen kann ohne für einen Sonderling angesehen zu werden.
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Die Reise nach Riga soll uns nahe seyn und vielleicht werden auf selbige noch
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übrigen Gütern
nicht ermittelt
mehrere nach den übrigen Gütern folgen, die an den polnischen Gränzen
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neues
vll. Meyhof/Apollonienthal
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
liegen. Jetzt ist ein neues in der Nachbarschafft von Mietau dazu gekauft, welches
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auch groß seyn muß. Ich habe zu diesem Handel meine Feder ziemlich glücklich
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gebraucht, wofür man mir eine thätliche Erkenntlichkeit versprochen. Man ist
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übrigens so zufrieden mit mir Gott Lob! als ich es wünschen kann. Ich suche
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nichts als das Meinige zu thun v werde mi
ch
r die Gunst der vornehmen
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niemals durch Niederträchtigkeit zu erwerben suchen, weil ich selbige für so
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eigennützig als die Neigung unserer Bedienten halte. Die Ausnahme ist sehr
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selten und jeder Stand hat leyder! seine Vorurtheile, die ihre Nicken nicht
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Frei zitiert nach Lessings Version der Fabel „Der Löwe mit dem Esel“ aus
Lessing,
Schrifften I
, S. 164: „Als des Aesopus Löwe mit dem Esel, der ihm durch seine fürchterliche Stimme die Thiere sollte jagen helfen, nach dem Walde ging, rief ihm eine nasenweise Krähe von dem Baume zu: ein schöner Gesellschafter! Schämst du dich nicht, mit einem Esel zu gehen? Wen ich brauchen kann, sagte der Löwe, dem kann ich ja wohl meine Seite gönnen. / So denken die Grossen, wenn sie einen Niedrigen ihrer Freundschaft würdigen.“
ablegen. „Wen ich brauchen kann, sagt der Löwe, wenn er mit dem Esel auf
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die Jagd geht, dem kann ich ja wohl meine Seite gönnen. So denken die
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Vornehmen wenn sie einen Niedrigern Ihrer Freundschaft würdigen.“
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Excell.
Apollonia Baronin v. Witten
Heute reisen Ihre Excell. nach Mietau ihre Andacht zu halten, wohin Sie
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älteste
Peter Christoph Baron v. Witten
der älteste begleiten wird. Ich habe mir gleichfalls dieses Werk auf künftige
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Woche gewiß ausgesetzt; und bin n
och
ur ungewiß ob ich einen Werktag oder
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den Sonntag dazu erwähle, weil ich die Einrichtung dieser Kirche hierinn noch
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nicht weiß und ohne Noth bloß meinethalben den alten Pastor nicht
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beschweren will. Gott mache mein Vorhaben gewiß und bereite mein Herz dazu.
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Meine Buße und mein Glaube werde mit seiner Gnade und Vergebung
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belohnt. Sie werden mir GeEhrteste Eltern nach Ihrer Liebe auch die
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Vergeßenheit alles desjenigen zu gestatten nicht ermangeln, womit ich Sie auch
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abwesend betrübt haben möchte. Gott der uns durch Fleisch und Blut verbunden,
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wolle uns auch im Geiste vereinigen und an derjenigen Gemeinschafft mit ihm
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Theil nehmen laßen, die uns einmal nach diesem Leben glücklich machen soll.
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Meine liebe Mutter hat mir aufgetragen Ihr von meiner Wirthschaft
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bisweilen Rechenschaft zu geben. Ich will ihr also auch hierinn meinen
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Gehorsam bezeigen.
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Sie werden sich erinnern, GeEhrteste Mama, daß die Frau Gräfin mir ein
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halb Stück feine Leinwand zu Weynachten gegeben; daß ich jetzt zu
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Halbhemden brauchen will, weil meine Manschetten besonders viel gelitten haben;
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und nur noch einige Paar ganz sind. Ich glaube daß ich das Hintertheil
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derselben zu Halsbinden werde gebrauchen können. Ich weiß aber nicht, ob aus
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meinen Kragen oder viertelhemden nicht ganze Halbhemde gemacht werden
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können. Was meynen Sie? Um ein paar Schnupftücher bin ich in Liefland
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gekommen. Es fehlt mir aber noch nicht daran; außer daß ich mir bey
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Gelegenheit seidene oder halbseidene oder baumwollene ich weiß selbst nicht welche
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anzuschaffen gedenke. Mit Stiefeln und Schuhen bin ich noch ausgekommen
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und ich habe mir nur ein paar Pantoffeln hier machen laßen müßen, die auch
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schon entzwey sind; weil ich selbige am meisten brauche und sie überdem
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rußische Arbeit waren, die wohlfeil aber an Güte der Nürnberger bey uns
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gleichkomt. Sie wißen daß ich einen leichten Sommerrock von Hause
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mitgebracht; zu den mir eine Weste fehlt, die ich mir auch diesen Sommer wo mögl.
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anzuschaffen gedenke. Was ich dazu wählen werde, weiß ich noch nicht. Eine
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Perücke habe ich auch mir machen laßen, die ich aber noch nicht aufgesetzt v
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nur aus Erkenntlichkeit bestellt hatte; weil der Meister derselben ein Nachbar
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von HE. Belger war, in deßen Hause ich vielen Coff
é
e getrunken v. allerhand
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Höflichkeiten genoßen habe. Sie ist ein Meisterstück im Zuschnitt, die alle
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übrigen die ich bisher getragen, verdunkelt, auch nur zum Sommerstaat dient.
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Zu den Königsberg. werden sich schwerlich in Liefl. v Curl. Liebhaber finden.
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Sie werden diesen Scherz niemanden lesen laßen. Er ist nichts als eine
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höfliche Entschuldigunge, daß es mir nicht mögl. ist welche verschreiben zu laßen,
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wie ich bey meinem Abschiede versprochen habe. Mit meinem Schlafrocke werde
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ich auch noch diesen Sommer auskommen; auf den Winter wird ihn ein
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Talup
Fellschlafrock
Schlafpeltz oder Talup ersetzen. In Riga will ganz gewiß meine Schuld Ihnen
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abtragen. Es hat mir mehr als einen wiedrigen Gedanken gekostet, daß ich die
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Commission von meiner lieben Mutter, die einzige noch von Hause, noch nicht
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habe ausrichten können. Ich habe mich schon entschuldigt, und werde daran
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nicht mehr denken, biß der Wolf selbst kommt. Der beste den ich finden und
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bezwingen kann. Künftiges Jahr hoffe ich etwas zurückzulegen, wovon ich
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lebe, v denn will ich auch Buch halten. Dieses Jahr will auskommen und
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etwas zum Ausgeben für kleine und zufällige Ausgaben behalten. Ich bin
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jung und lebe niemanden als mir. Ich will weder so alt noch so reich als der
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vll.
Ludvig Holberg
Gelehrte Mann in Copenhagen sterben, von dem Sie in den Zeitungen werden
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lesen gehört haben. Ich liebe weder Staat noch Ausschweifungen; von
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ehrlichen und angenehmen Ausgaben kan ich kein Feind seyn und werde es auch
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nicht werden. Ich bin lecker aber niemals für mich noch auf meine Unkosten.
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Den Wein kann ich entbehren und das hiesige Waßer schmeckt mir recht gut;
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auch öfters schwarz brodt beßer als weißes. Ich müste schon recht viel im
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Voraus haben ehe ich mir mit guten Gewißen entschlüßen könnte ein blankes kleid
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zu tragen. Ein Buch, einem Freund zu dienen, mir einen Menschen gut zu
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℔
Pfund
machen, der mir einen kleinen Dienst thut, eine ℔ Schnupftoback, ein
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Cartausen
Papierhülse, von franz. cartouche
Pfeifchen, zum letzteren habe ich neulich 4 Cartausen umsonst bekommen v für das
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erstere werde ich auch einige Wochen nichts ausgeben dürfen. Die Frau Gräf.
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Cubeben
ein Pfeffergewächs
selbst hat mir ein paar mal mit ihrem Haupttoback versorgt, der aus Cubeben
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besteht, v mir nicht uneben thut. Baumwollene v zwirnene Strümpfe werde
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ich noch brauchen; und damit holla! Ich erinnere mich übrigens der Erfahrung
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die ich in Riga gehabt habe, noch öfters mit Vergnügen. Ich war dem Mangel
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nahe genung, ohne daß er mich unruhig gemacht haben sollte, v
ohne ich wuste
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demselben abzuhelfen. Ich hatte mir aller Hülfe in diesem Stück von meinen
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Eltern begeben v. eben so wenig Herz gehabt weder einen halben noch ganzen
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Freund darum anzusprechen. Demohngeachtet gab ich mit dem Vertrauen
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Kleinigkeiten aus, als wenn ich mich auf Offenbarungen verlaßen könnte.
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Der Gedanke der Vorsehung, ihre Aufmerksamkeit auf die Zeit, wenn sie den
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Menschen helfen
kann
sind keine bloße Einbildungen. Ja sie verzeiht es
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denjenigen v nimt sich deren an, die auch ein wenig dummdreist sich auf sie
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verlaßen.
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Ich erwarte meine Schüler und muß daher zum Schluß eilen. Werde ich
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bald, GeEhrteste Eltern, mir eine Antwort von Ihnen versprechen können?
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Ich bitte darum. Gott erhalte Sie und stärke Sie an Leibs und
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Gemüthskräfften. Er mache mich Ihrer Zärtlichkeit würdig. Schlüßen Sie mich in Ihr
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Gebet ein und vergeßen Sie nicht Ihren Sohn, der Ihnen mit der kindlichsten
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Ehrfurcht die Hände küst und sich Ihrem theuren Andenken Zeit Lebens
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empfiehlt.
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Johann George Hamann.
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Alle gute Freunde bitte ergebenst v. herzlich zu grüßen, besonders unsere
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Hausgenoßen und unter denselben die Jgfr. Degnerinn. Das
Zoepfel
sche
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Zuckerbecker
Heinrich Liborius Nuppenau
Haus, meinen lieben Zuckerbecker, Liborius Nuppenau, süßen Andenkens.
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Meine Gönner, HE.
Diac.
Buchholz, HE
D. Lilienthal
pp. Mein seel. Rappolt
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fällt mir ein. Wird mir mein Bruder seinen Catalogum v seinen Lebenslauf
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Intelligent Blatt
Theodor Christoph Lilienthal
:
Nachricht von des seel. Herrn Carl Heinrich Rappolts, der Naturlehre öffentlichen Professors auf hiesiger Universität, Leben und Schrifften
. In:
Wochentliche Königsbergische Frag- und Anzeigungsnachrichten
, No. 1 und 2 (5. und 12. Januar 1754).
schicken, der im Intelligent Blatt steht. Wie viel hat er an den Mann verloren
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v seinen Tod nicht einmal berichtet, daß ich ihn auch hätte beweinen können.
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Wie mag es seiner Wittwe v Waysen gehen. HE Karstens bitte ich gleichfalls
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freundschaftl. zu grüßen; v mich noch diesen Posttag zu entschuldigen. Leben
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Sie wohl Geliebteste Eltern; ich bin zeitlebens Ihr
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gehorsamster Sohn.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (18).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 262 f.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 55 f.
ZH I 69–72, Nr. 26.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
72/2 |
ohne ich wuste ]
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Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies ohne daß ich wuste |