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Grünhof den
12 Jänner 1755,
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Herzlich geliebteste Eltern,
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Gestern habe endlich die durch den Fuhrmann angekommenen Sachen
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erhalten. Ich wiederhole meinen Dank
auf kindlich- und herzlichste
für die viele
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Mühe, die Sie sich gegeben mir Ihre Zärtlichkeit auch in der Fremde zu zeigen.
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Gott vergelte Ihnen selbige und laße es Ihnen an keinem Guten auf der Welt
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fehlen. Mit der Laute bin sehr zufrieden; weil der Herr Rittmeister nicht mehr
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bey uns steht, sondern einige Meilen weiter, so denke morgen selbige nach ihn
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abzufertigen. Ich habe sie heute rechtschaffen gebraucht und sie scheint mir
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eine sehr gute Lage in der Hand zu haben. Des HE. Generals Excell. boten
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mir schon heute einen
expressen
an sie ihm zu überschicken; weil ich aber
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Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
vermuthe daß er jetzt in Mietau ist, so will ich sie nach der Stadt befördern. Herrn
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Reichard bitte von meiner Erkenntlichkeit jetzt mündlich zu versichern; ich
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werde eine schriftl. v. thätliche auch nicht vergeßen. Seine
Concerts
habe heute
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mit Entzücken versucht v ich warte mit Schmerzen meinen Nachbar den HE. M.
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Haase um das Vergnügen zu genüßen sie vollkommener zu lernen v. zu hören.
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Mit dem Marzipan habe ich meinen jungen HE. v der gnädigen Fräulein
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ein angenehmes Geschenk machen können. Des HE. Generals Excell.
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besuchten mich heute nach Ihrer Gewohnheit v erkundigten sich mit vielem Antheil
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nach meinen lieben Eltern Wohlbefinden. Weil ich nicht heute oben gespeist
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habe, wie man dies schon von mir gewohnt ist Geschäffte v. meiner natürl. v.
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GemüthsFreyheit wegen, so werde ich noch einige
Compli
von der Gnädigen
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Gräf. morgen zu erwarten haben, die
s
Sie sich zum voraus sehr abgemeßen
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v leutseelig vorstellen können.
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Lacks
zum Versiegeln
Den Gebrauch des Papiers v Lacks werde ich zu Ihren Willen anwenden,
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v ich wünsche daß Sie alle meine Briefe, wozu ich beydes brauchen werde mit
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Zufriedenheit v Freude erbrechen v. lesen mögen.
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Mein Bruder hat sich mehr Mühe im Schreiben gegeben als ich ihm selbst
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hätte zumuthen dürfen. Wenn mir Gott was auf der Welt zugedacht hat; so
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soll ihm v. meinen Freunden alles zu Gebot v. zum Genuß stehen. Ich
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wünsche mir
thue bloß für andere, für würdigere als ich bin, diesen Wunsch,
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dasjenige was man Glück nennt, zu besitzen. Wie lieb wäre mir eine Zeile von
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ihm gewesen? Kann er mit gutem Gewißen sich entschuldigen daß er übereilt
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worden; v hätte er mehr als eine viertelstunde nöthig gehabt an seinen
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Bruder zu schreiben. Nicht der geringste Unwille nimmt an dieser Klage Theil, ich
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weiß daß sie sich zu dem Dank, den ich ihm schuldig bin, nicht reimt, ich mag
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aber lieber mein Herz rein ausreden als zurückhalten. Ich glaube daß wir auf
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diese Art uns beyde am besten verstehen v am aufrichtigsten lieben können. Ich
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hoffe, daß Sie meine beyde letzte Briefe werden erhalten haben v HE.
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Magister auch den seinigen nebst einem
Couvert
mit Einschlüßen. Letzteres ist
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durch seinen HE. Bruder gegangen. Antwort habe ich auch schon heute
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erwartet v biß jetzt; die Hofnung aber dazu ist mir benommen. Vielleicht ist
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meine neue
Commission
mit Börnstein schuld daran; Sie haben vielleicht erst
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abwarten wollen daß ich überschickten erhalten möchte‥ und dies wäre mir
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lieb. Ich werde mich also wegen derselben jetzt deutl. erklären können. Ich
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habe selbigen noch zurück behalten v Arm v Halsbänder für unsre gnädiges
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Fräulein bestimmt; wenn selbige in meine Schule wird getragen werden, wie
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dies öfters geschieht, weil ich nicht gern mit diesen Kleinigkeiten das Ansehen
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haben will ins Auge zu fallen sondern mit der unschuldigsten v einfältigsten
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Art selbige gern anbringen möchte. Die Ohrgehänge sind aber nicht, wie sie
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Frau Gräf.
Apollonia Baronin v. Witten
die Frau Gräf. wünscht v daher habe mich von selbigen nichts merken laßen.
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Sie hat welche gesehen, die ihr außerordentl. gefallen haben v von der Art
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wünscht sie sich welche. Ich habe sie mir beschreiben laßen. Sie sind unten
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ganz traubenförmig oder rund v gehen oben wie eine Birne zu; 6 auf jeder
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Seite. Ich bitte Ihnen aufs äußerste um Verzeyhung, wenn Sie meine zu
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frische Bitte als unverschämt ansehen. Mein Wille ist es nicht so zu seyn und
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wenn Sie mich ja im Verdacht haben so soll es das letzte mal seyn, daß ich
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Ihnen dazu Anlaß zu geben gedenke. Wenn Sie so gut seyn, so schicken mir
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S
selbige Geliebteste Eltern auf der Post; ich will das
Porto
gern bezahlen.
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Man ist hier gegen dergl. Dinge nicht gleichgiltig v da man die Absicht meinen
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Begierden v Neigungen in allem zuvorzukommen sich zutraut v mir gern zu
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verstehen geben will, so glaube ich zu einem gleichen Gegenbezeigen genöthigt
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zu seyn. Voller Vertrauen auf Ihre günstige Gesinnungen gegen mich
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verspreche mir die Gewährung dieser Bitte; v bin eben so meiner vorigen in
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Ansehung des persischen Originals gewiß. Ich umarme meinen lieben Bruder
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von Grund der Seelen, er wird mir meine freye Erklärung nicht übel
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nehmen, v ersuche ihn in Ansehung meines lieben Magisters mir etwas zu
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schreiben oder ihn selbst dazu zu bewegen.
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Gott laße Ihre Schritte und Tritte, Liebste Eltern, von seinem Seegen
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begleitet seyn. Meine Regungen laßen sich nicht ausdrücken, mit denen ich Sie
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verehre v. liebe. Schreiben Sie selbige keinem andern Bewegungsgrunde als
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der Erkenntlichkeit v Hochachtung zu, mit der ich biß an mein Ende seyn werde
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Ihr gehorsamster Sohn
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Johann George Hamann.
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Freunde und Freundinnen grüße schuldigst. Jgfr Degnern, das
Zöpfel
sche
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Zuckerbecker
Heinrich Liborius Nuppenau
Haus, was macht der ehrl. Zuckerbecker. Seine Arbeit ist als was seltenes
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hier bewundert worden. Wird er mich nicht bald zur Hochzeit bitten können?
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Leben Sie alle gesund v. vergnügt. Leben Sie wohl!
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (23).
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 63–65.
ZH I 91–93, Nr. 36.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
91/19 |
auf […] herzlichste] |
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955): lies auf das kindlich- und herzlichste Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): auf das kindlich |
92/2 |
Compli |
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): compli ments |