406
87/11
Erlauben Sie mir, höchstzuEhrender Herr Profeßor, mit der aufrichtigen

12
Versicherung anzufangen und fortzufahren, daß ich der freundschaftlichen

13
Mittheilung Ihrer Gedanken unendlich viel zur Entwickelung meiner

14
implicit
en Begriffe, Eindrücke und Ideen zu verdanken habe. – So wahr ist es, daß

15
Sprache
und
Schrift
die unumgänglichste
Organa
und Bedingungen alles

16
menschlichen Unterrichts sind, wesentlicher und
absoluter,
wie das Licht zum

17
Sehen, und der Schall zum Hören – Bey jenen Gesinnungen meiner

18
Erkenntlichkeit werden Sie auch gegenwärtiger katanthropischen Antwort keinen

19
Tück des Herzens zuschreiben, noch wie der Apostel über den Zauberer zu

20
Samaria ausruffen: „Ich sehe, daß du bist voller bitterer Galle und verknüpft

21
mit Ungerechtigkeit“

22
Wenn des Verf. Thema darauf hinausginge das
Ens entium
zum Archi-

23
Encyclopädisten oder
ΠΑΝ
(wie ihn Sirach
XLIII.
29. kurtz und gut genannt

24
haben soll) mit einer sieben fachen Flöte
p
zu machen: so weiß ich noch nicht,

25
ob ich der Palingenesie einer vergrabenen Urkunde mehr Glauben beymeßen

26
würde als
Vernunftgründen
und
biblischen Sprüchen
– die freylich in

27
Ansehung des willkührl. Misbrauchs sich einander nichts vorzuwerfen haben.

28
Vielleicht würde ich jenen Edelstein im
Thesauro Brandenburgico,
auf dem

29
Beger
„einen Jupiter zeigt, welcher einen philosophischen Mantel trägt“ wie

30
ich vor ein paar Abenden gelesen, einer verschimmelten Urkunde vorziehn, die

31
das
Ens Entium
zum ersten offentlichen Lehrer des Menschl. Geschlecht
s
in

32
der
Encyclopædie individualisi
rte.

33
So sehr mir auch noch immer an dem
Thema
und der Hauptfrage ob der

S. 88
Autor
im
Grunde
Recht oder Unrecht habe, gelegen ist: so will ich mich doch

2
gegenwärtig blos auf die zwey mir gegebene
Puncte,
näml. des
Sinns
jener

3
ältesten vermeintlichen Urkunde
/
und des vermeintl.
Beweises
davon

4
aus der Uebereinstimmung
/
des gantzen uns bekannten Tradition-Systems
/

5
einschränken.

6
Mein Freund
D. Lindner
komt mit dem lieben Büchlein nicht aus der

7
Stelle, weil das darinn verborgene
Opium,
sagt er, seinem Magen

8
wiedersteht – anstatt es zu verschlucken wie jener alte Preuße sein bloßes Meßer,

9
oder es wie
jener
ein Wallfisch
den
jenen alten Propheten – und unsere

10
neue
r
sten Rabbinen
Kameele
samt ihren Höckern u. Frachten zu verschlingen.

11
Da mein Gedächtniß stärker, als gewöhnlich scheint ausgedünstet zu haben – –

12
so muß ich mich gantz
generalissime
erklären.

13
Das
II.
Hauptglied
meiner
kleinen Analyse wiederspricht gar nicht der

14
Meynung des Autors, sondern sucht vielmehr anstatt seinen
Kanon
aufzulösen
,

15
selbigen
vollständiger
zu machen, und ihn selbst dazu anzuhalten.

16
Seinem eigenen Urtheil nach, und in meinen Augen übertrift unsre älteste

17
Urkunde an Einfalt und Evidentz jene vertrauliche
Relation
des Cäsars:

18
veni, vidi, vici,
und freylich ist ein solcher
Sieg
keines
Triumphs
werth

19
gewesen.

20
Daher gieng mein Beyfall allein auf die Theorie und Auslegungs-
Methode
,

21
worinn mir der Verf. vorzüglich scheint orthodox zu seyn. Dieser Ruhm ist

22
freylich an sich selbst leichter als die Luft, aber zugleich von so unerkanntem

23
und unermäslichem Gewicht, wie der elastische Druck ihrer Säulen

24
berechnet wird.

25
Denn Orthodoxie ist das einzige Verdienst eines Lehrers, der als Lehrer gar

26
nicht zur eignen Ausübung seiner Vorschriften verbunden ist. Lehrt er

27
Irr
thum
saal und thut Wahrheit: so gewinnt er für sich selbst als Thäter,

28
sündigt aber an seinem Leser,
Zuhörer,
und Schüler, der erst
lernen
soll und

29
weder
richten
kann noch darf, ja nicht einmal will oder mag, wenn er

30
bescheiden und moralisch denkt. Alle practische Vergehungen eines Autors gegen

31
sein eigene Grundsätze, wenn selbige richtig
u
fest, sind meines Erachtens

32
Menschlichkeiten
, bisweilen
Nothwendigkeiten
, vielleicht gar Tugenden,

33
falls er wie jener zwar ungerechte doch kluge Haushalter damit zu wuchern

34
weiß, und können daher eben nicht gantz verdammlich seyn.

35
Ueberhaupt ist die Wahrheit von so abstracter und geistiger Natur, das sie

36
nicht anders als
in abstracto,
ihrem Element, gefast werden kann.
In

37
concreto
aber erscheint sie entweder als Wiederspruch oder ist jener berühmte

S. 89
Stein unsrer Weisen, wodurch urplötzlich jedes unreife Mineral und selbst

2
Stein und Holtz in
wahres
Gold verwandelt wird.

3
Was den zweiten Punct des vermeintlichen Beweises aus der

4
Correspondentz
mit den Archiven der Völker betrifft: so gelingt es vielleicht nur einem

5
großen
Newton
Gesandschaften um den Erdball zu einem Beweise seiner

6
Vernunftgründe aufzuwiegeln, unter deßen es dem armen Archimedes immer

7
an einem
Standort
gefehlt die Zeichen und Wunder seines Hebels sehen zu

8
laßen. Ohne jenen
Katholischen
Beweis aus der Einheit der VölkerStimmen

9
und der Identität unsers Fleisches und Bluts, ohne einen Dietrich zu den

10
Archiven lebender Wilden und zu den Reliquien bereits verklärter Nationen,

11
scheint es mir bey dem unverdächtigsten und reinsten Document des Menschl.

12
Geschlechts, das durch den wol- und wunderthätigen Aberglauben eines

13
ewigen Bündeljuden scheint erhalten worden zu seyn, blos auf den einfachsten

14
Gesichtspunct an
zu kommen
, um gleich seinem
großen
und
unbekannten

15
Urheber Hiob
XXXVI.
26. zu
seyn, was es ist,
und dafür von jedermännlich

16
erkannt
zu werden.

17
Unter allen
Secten
, die für
Wege
zur Glückseeligkeit, zum Himmel und

18
zur Gemeinschaft mit dem
Ente Entium
oder dem allein weisen

19
Encyklopädisten des Menschlichen Geschlechts ausgegeben worden, wären wir die

20
elendeste unter allen Menschen, wenn die Grundveste unsers Glaubens in
dem

21
einem Triebsande kritischer ModeGelehrsamkeit bestünde. Nein, die Theorie

22
der wahren Religion bleibt nicht nur jedem Menschenkinde angemeßen und

23
ist in seine Seele gewebt oder kann darinn wiederhergestellt werden, sondern

24
bleibt auch eben so unersteiglich den kühnsten Riesen und Himmelsstürmern

25
als unergründlich den tiefsinnigsten Grüblern und Bergleuten. –

26
Ich werde daher auch bei wiederholter Lesung und Zergliederung der

27
neuesten Auslegung über die älteste Urkunde
meinem
jenem

28
Wahlspruch meines ersten Lieblingsdichters treu bleiben

29
– –
MINIMVM est, quod scire laboro. Pers. Sat. II
. so wie

30
ich bereits zum Motto meiner Abhandlung die Worte Josephs ausgesucht

31
hatte
Gen. XL.
8.

32
Auslegen
gehört GOTT zu – – –

33
Meine treuherzige Anerbietung Sie, HöchstzuEhrender Herr
Professor,
zum

34
arbitro
eines etwas
elegant
ern Versuchs zu machen, als es mir bisher fügl.

35
gewesen, war weder Spaß noch hatte die geringste Rücksicht auf die mir

36
untergeschobene Nebenbegriffe: so wie ich unter dem Actien-System gegen nichts

37
hämisch gewesen als den nikolaitischen Uebermuth kritischer Verleger nach der

S. 90
Elle des Ladens und der mißißippischen Liebhaberey eines blinden verführten

2
Publici das innere Schrot und Korn eines Buchs zu entscheiden
– – – – – –

3
Steht er schon da
gegen
Ihn, der dichtgeschloßene Phalanx der

4
Meister philistinischer,
moabitischer
arabischer
u.
kretischer

5
Gelehrsamkeit – Du siehst die Schatten der Berge für einen dichtgeschloßenen Phalanx

6
an
Iudic. IX.
36.

7
„Siehe! mir hat
geträumt
, hör ich in den Gezelten
der Medianiter und

8
Amalekiter
VII.
13. Mich daucht ein geröstet Gerstenbrodt wältzte sich zum

9
dicht geschloßenen Phalanx
– – –

10
„Da antwortete der andere – warum nicht gar unser Freund, der

11
Buchdrucker zu
Marienwerder?)
Das ist nichts anders als die 3 Federn des

12
Mamamuschi, seine Gansfeder, seine Schwanfeder und seine Rabenfeder – – –

13
Da ich aber unmöglich ohne
Censur
und
Verleger
ein Schriftsteller

14
werden kann, es wäre denn nach der Weise Melchisedechs, ohne Vater,
und
ohne

15
Mutter, ohne Geschlecht – nun so muß ich wie
Herders,
mein und

16
Lavaters
Freund! ein Philosoph seyn und schweigen bey dieser, dieser
neuen

17
Zeit, und selbst meine bisherigen
Prolegomena
über die
neueste Auslegung

18
der
ältesten Urkunde
am heutigen
Dominica Quasimodo a. c.
mit dem

19
Machtspruch des großen Kunstrichters und Krypto-Philologen
P. P.
der

20
gewiß ein Liebhaber der
Wahrheit
und
Unschuld
war, wie aus seiner

21
Quaestione Academica
und typischen Händewaschen zu ersehen, vollenden und

22
schließen:

23
Quod scripsi, scripsi!

24
H.


25
Adresse:

26
An / des / HErrn
Professoris Kant
/ Wolgeboren / zu /
Hause
.

Provenienz

Tartu, Universitätsbibliothek, Sammlung Morgenstern, Ms. 291, II (pag. 304–[307]).

Bisherige Drucke

Kant, Werke [Akademieausgabe] X 161–164, vgl. XIII 66 f.

ZH III 87–90, Nr. 406.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
88/1
Grunde
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Grunde
88/3
/
]
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel; ZH:
?
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1957):
?
deleatur

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
?
deleatur
88/4
/
]
Geändert nach Handschrift: Absatzwechsel.
88/4
/
]
Geändert nach Handschrift: Absatzwechsel.
88/7
Opium,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Opium
,
88/10
Kameele
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Cameele
88/13
meiner
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mein.
88/14
Kanon
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Canon
88/28
Zuhörer,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Zuhörer
88/31
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u.
89/7
Standort
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1957):
lies
Stand
pu
ort

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Stand
pu
ort
89/31
8.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
8,
90/2
– – – – – –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
– – –
90/3
gegen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gegen
90/7
geträumt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
geträumet
90/9
– – –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
– –
90/11
Marienwerder?)
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Marienwerder?
90/26
An […] Hause.]
Hinzugefügt nach der Handschrift.