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Das
thema
des Verf. ist: zu beweisen, daß Gott den ersten Menschen in

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Sprache u. Schrift und, vermittelst derselben, in den Anfängen aller Erkenntnis

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oder Wissenschaft selbst unterwiesen habe. Dieses will er nicht aus

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Vernunftgründen darthun, zum wenigsten besteht darin nicht das charakteristische

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Verdienst seines Buches, er will es auch nicht aus dem Zeugnisse der Bibel, denn

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darin
steht es
ist nichts davon erwehnt, sondern aus einem uralten

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Denkmal fast aller gesitteten Völker beweisen, von welchem er behauptet: daß der

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Aufschlus desselben im 1 Cap: Mose ganz eigentlich und deutlich enthalten

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und dadurch das Geheimnis so vieler Jahrhunderte entsiegelt sey. Die

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Mosaische Erzählung würde dadurch einen unverdächtigen und vollig

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entscheidenden Beweis einer ächten und unschätzbaren Urkunde bekommen, der nicht auf

25
d
er
ie Hochachtung eines einzigen Volks, sondern auf der Einstimmung der

26
heiligsten Denkmale, welche ein jedes alte Volk von dem Anfange des

27
menschlichen Wissens auf
s
behalten hat, und die insgesammt dadurch enträtzelt

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werden, gegründet seyn. Also enthält das Archiv der Völker den Beweis von

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der Richtigkeit und zugleich dem Sinn dieser Urkunde, nemlich dem

30
allgemeinen
Sinne de
ss
rselben. Denn, nachdem sich dieser entdekt hat, so

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bekomt umgekehrt das
monument
der Völker die Erklarung seiner
besondern

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Bedeutung von dieser Urkunde, und die endlose Muthmaßungen darüber sind

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auf einmal zernichtet, denn der Streit verwandelt sich so fort in Eintracht,

S. 85
nachdem gezeigt worden, daß es nur so viel verschiedene
apparen
tzen eines

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und desselben Urbildes waren.

3
Itzt ist davon gar nicht die Rede, ob der Verfasser recht habe oder nicht,

4
noch ob dieser vermeintlich gefundene Hauptschlüssel alle Kammern des

5
historisch-
antiqva
risch
criti
schen Labyrinths öfne, sondern lediglich 1. Was

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der Sinn dieser Urkunde sey. 2 worinn der Beweis bestehe, der aus den

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ältesten Archivnachrichten aller Völker genommen worden: daß dieses Document

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in gedachtem Sinne das unverdächtigste und reineste sey.

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Und da ist unseres Verfassers Meinung:

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Was das erste betrift
, daß das erste biblische Capitel nicht die Geschichte

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der Schopfung, sondern, unter diesem Bilde (welches auch überdem die

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natürlichste Ausbildung der Welt vorstellen mag,)
die
eine Abtheilung der von

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Gott dem ersten Menschen gegebenen Unterweisung, gleichsam in 7 Lektionen

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vorstelle, wodurch er zuerst zum Denken hat geleitet und zur Sprache

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gebildet werden müssen, so daß hiemit
sich
der erste Schriftzug verbunden

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worden und die 7 tage selbst (vornemlich durch deren Beschließung mit einem

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Sabbath) ein herrliches Mittel der Erinnerung, zugleich auch der
chronol:

18
Astronomie etc
gewesen sey

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Was das zweyte betrift
; so ist der eigentliche Beweis daher genommen:

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daß der Hermes der
Aegyp
ter nichts als den Anfang alles menschlichen

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Wissens bedeute und daß das einfältige
symbol
desselben, welches eine

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Vorstellung der siebenten Zahl ist, zusamt allen andern
allegori
en, welche diese

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mystische Zahl als den Inbegrif der gantzen Welterkentnis vorstellen, offenbar

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das Denkzeichen, nicht allein des Ursprungs aller menschlichen Erkentnis,

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sondern so gar der Methode der ersten Unterweisung seyn müsse; daß dieses zur

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volligen Gewisheit werde, wenn man in der Mosaischen Erzählung wirklich

27
die
obiect
e des menschlichen Wissens, nach methode
disponi
rt,
und
in

28
dieselbe figur
gebracht und mit der nämlichen Feyerlichkeit versiegelt,

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antrift. Daraus wird geschlossen: daß, weil dieses wichtige Mosaische Stück

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dasienige ist, was alle jene uralte Symbole allein verständlich machen kan,

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es die einzige ächte und höchstehrwürdige Urkunde sey, die uns mit dem

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Anfange des menschlichen Geschlechts auf das zuverläßigste bekannt machen

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kan. Moses allein zeigt uns das Document, die
Aegypter
hatten, oder zeigeten

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nur das Emblem.

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Von denen mir mitgetheilten Hauptzügen der Absicht des Verfassers
ist

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ist Ihre zweyte Bemerkung, werthester Freund, so viel ich mich besinne, mit

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der Meinung des
Autor
s nicht einstimmig. Denn allerdings hält er die

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Schopfungsgeschichte nur vor eine Mosaische Allegorie von der Zergliederung der

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Schopfung in dem göttlichen Unterrichte, so wie sich die menschliche Erkentnis

3
in Ansehung derselben am natürlichsten entwickeln und ausbreiten läßt.

4
Ich erbitte mir nur bey nochmaliger Durchlesung des Buchs die Bemühung:

5
zu bemerken, ob
mein
der von mir darinn
bemerkte
gefundene Sinn und

6
Beweisgrund wirklich so in dem Werke enthalten sey, und ob meine

7
Warnehmung noch einiger beträchtlichen Ergänzung oder Verbesserung bedürfe.

8
Einige Bogen von Ihrer Hand zu lesen zu bekommen sind mir Antrieb

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gnug, um alles Ansehen, was ich bey unserem selbst critisirenden Verleger

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haben möchte, zu deren Beförderung anzuwenden. Aber er versteht sich selbst

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so gut auf das, was er den Ton des Buchs, den Geschmak des Publikum und

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die geheime Absicht des Verfassers nennt; daß wenn es auch nicht an sich

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selbst eine ziemlich niedrige Bedienung wäre, ich, um mein bischen
Credit
bey

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ihm nicht zu verlieren, doch das Amt eines Haus
censor
s auf keine Weise

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übernehmen möchte. Ich muß daher ungern auf die Ehre, welche der

16
vielvermögenden
gravitaet
eines
Censor
s von dem demüthigen Verfasser gebührt,

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vor diesesmal Verzicht thun. Auch ist Ihnen wohl bekannt: daß, was über

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das Mittelmäßige hinaus ist, gerade seine Sache sey, wenn er nur nicht vor

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sein politisch System Gefahr wittert, denn der
Cours
der
Acti
en komt hiebey

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vermuthlich nicht in Anschlag.

21
In der neuen
academi
schen Erscheinung ist vor mich nichts Befremdendes.

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Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, daß critische Kentnis alter

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Sprachen, philologische und
antiquari
sche Gelehrsamkeit die Grundveste ausmacht,

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auf die sie durch alle Zeitalter und in allen Völkern erbauet seyn muß, so

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schleppt der, welcher im Griechisch-Hebräisch-Syrisch-arabischen
pp
am be

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imgleichen in den Archiven des Alterthums am besten bewandert ist, alle

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Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen wie sie wollen, als Kinder, wohin er

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will; sie dürfen nicht muchsen; denn sie können in dem, was nach ihrem eignen

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Geständniße die Beweiskraft bey sich führt, sich mit ihm nicht messen, und

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sehen schüchtern einen Micha
ë
lis ihren vieljährigen Schatz umschmeltzen und

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mit ganz anderem Gepräge versehen. Wenn theologische
Facultaet
en mit der

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Zeit in der Aufmerksamkeit nachlaßen solten, diese Art
literatur
bey ihren

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Zöglingen zu erhalten, welches zum wenigsten bey uns der Fall zu seyn

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scheint, wenn freyglaubende
philolog
en dieser
vulcani
schen Waffen sich allein

35
bemeistern solten, denn ist das Ansehen jener
Demagog
en gänzlich zu Ende

36
und sie werden sich in dem, was sie zu lehren haben, die
instruction
von den

37
literato
ren einholen müssen. In Erwägung dessen fürchte ich sehr vor die

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lange Dauer des Triumphs ohne Sieg, des Wiederherstellers der Urkunde.

2
Denn es steht gegen ihn ein dichtgeschlossener Phalanx der Meister

3
orientalischer Gelehrsamkeit, die eine solche Beute durch einen ungeweiheten von

4
ihrem eigenen Boden nicht so leicht werden entführen lassen. Ich bin Ihr

5
treuer Diener

6
d
8
ten
April
1774.
Kant


7
Auf der vierten Seite Adresse mit Mundlack und Siegelabdruck:

8
An Herren

9
Hamann / wohnhaft / am / alten Graben

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 26.

Ebenfalls vorhanden: Eine zeitgenössische Abschrift von fremder Hand mit zahlreichen v.a. orthographischen Abweichungen: Universitätsbibliothek Kiel, Cod. Ms. K. B. 92.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VIIIa 237–242.

Kant, Werke [Akademieausgabe] X 158–161, vgl. XIII 66. ZH III 84–87, Nr. 405.