404
82/20
P. P.

21
Gleich nach Empfang meines Buchs habe selbiges zu meinem Freunde dem

22
D Lindner
gebracht, und ich bin nicht im stande das mir mitgetheilte Skelett

23
als nach einer genauen Vergleichung zu verstehen und zu beurtheilen. Vor der

24
Hand theile meinen Begriff von der Hauptabsicht unsers Autors ohne Buch

25
und aus den bloßen Eindrücken meines
Gedächtnißes
mit, in folgenden

26
Puncten:

27
I.
Die mosaische Schöpfungsgeschichte ist nicht von
Mose
selbst; sondern

28
von den StammVätern des menschl. Geschlechts. Dies
Altertum
allein

29
macht sie uns zwar
ehrwürdig
; aber verräht zugleich die wahre
Kindheit

30
unsres Geschlechts. – – – –

31
II.
Diese
Origines
sind kein
Gedicht
, noch morgenländische Allegorie, am

32
wenigsten
ägyptische
Hieroglyphen: sondern eine
historische Urkunde
im

33
allereigentlichsten
Verstande – ein ächtes
Familienstück
– ja zuverläßiger

34
als das
gemeinste physicalische Experiment
.

35
III.
Diese mosaische Archäologie ist der einzige und beste Schlüßel aller

S. 83
bisherigen Räthsel und Mährchen der ältesten morgenländischen und

2
homerischen Weisheit, die von jeher
implicite
bewundert und verschmäht worden

3
ohne jemals von den naseweisesten und kriechendsten Kritikern verstanden zu

4
seyn – das aus dieser Wiege des menschl. Geschlechts zurückgeworfene Licht

5
erhellt
klärt
allein
die heil. Nacht in den Fragmenten aller
Traditionen

6
auf. Hier liegt der einzige zureichende Grund von der unerklärlichen

7
Scheidewand und Veste wilder und cultivirter Völker.

8
IV.
Um jeden geneigten Leser mosaischer Schriften ihren ursprünglichen,

9
einfältigen, überschwenglich fruchtbaren Sinn wiederherzustellen, gehört

10
nichts mehr dazu als alle Festungswerke der neuesten Scholastiker und

11
Averroisten, deren Geschichte und Verhältnis zu ihrem Vater Aristoteles zum

12
klärsten Beweise und Beyspiel dienen kann, zu sprengen, niederzureißen u.s.w.

13
Dies hat mein Freund Herder gethan nicht mit der todten Kritick eines

14
ErdenSohns wie
Longin,
den der Blitz eines einzigen mosaischen
bon mots

15
auf der Stelle rührte, sondern mit der
Eroberungswuth
, an deren

16
Grosmuth
ich eben so viel Seelenweide gefunden als unser Criminalrath
der große
d

17
Menschenfeind
† † †
Hippel
an dem Luderge
ruch
schmack eines gebratenen Hasens.

18
Dies ist zugleich die
Punctation
einiger Bogen, die ich mir vorgenommen,

19
HöchstzuEhrender Herr
Professor
Ihrer
Censur
als einem
Iudici

20
competenti
des Schönen und Erhabenen, wie ich bereits an meinen Freund Herder

21
vorläufig geschrieben, zu unterwerfen. Ihr
Imprimatur
wird unsern Freund,

22
den Buchdrucker zu
Marienwerder
bewegen so wol zum Verlage als zu der

23
politischen Klugheit keinen Schriftsteller nach seinem
Actien-System,
das der

24
Himmel am besten kennt zu beurtheilen

25
Vor der Hand kommt mir das Autorverdienst unsers Landmanns so

26
entschieden vor, daß ich mit gutem Gewißen rathen kann als ein schöpferischer

27
Kopf von seiner Arbeit zu ruhen, und seine Ruhe wird Ehre seyn. Ich würde

28
noch zeitig gnug erscheinen mit meiner Arbeit, wenn die
ingenia praecocia

29
unsers kritischen philosophisch-politischen Jahrhunderts ihr Pulver und Bley

30
ein wenig verschoßen haben, ohnedem da sich von ihrem Vorrathe ein ziemlich

31
genauer Ueberschlag machen läßt. –

32
Daß
unsere
die theologische
Facultät
u
U. L. F. Albertine
aber einem

33
römisch-apostolisch-katholischen Ketzer und Krypto-Jesuiten den Doctorhut

34
ertheilen können – und daß dieser in der deutschen Apologie seines

35
Frey-Ordens und in einer
Dissertatio
deren gantzer theologisch-historisch-

36
antiquarischer Wust in
verbis tralatitiis
ex
Gentilismo praetereaque nihil
besteht,

S. 84
auf Einsichten in die
disciplinam arcanam
des Heidentums ohne die

2
Katechismuslehren des Christentums einmal zu kennen, Ansprüche machen darf;

3
dies sticht mir in meinen Nieren –

4
Ich weis nicht, ob mein
vterus
zu Zwillingen Raum haben wird, und diese

5
Frage kann niemand als ein

6
ΣΩΚΡΑΤΗΣ
ΜΑ
O
ΙΝΟΜΕΝΟΣ

7
Υ
Oder
ΜΑΙΟΜΕΝΟΣ

8
beantworten.
Am alten Graben den 7 April. 74.

9
Lavaters Brief
u
übrige Kleinigkeiten habe nicht erhalten.

10
Hamann.


11
Adresse:

12
Des / HErrn
Professoris Kant
/ Wolgeboren /
zu
/
Hause
.

Provenienz

Tartu, Universitätsbibliothek, Sammlung Morgenstern, Ms. 291, I. (pag. 95–98).

Bisherige Drucke

Kant, Werke [Akademieausgabe] X 156–158, vgl. XIII 64 f.

ZH III 82–84, Nr. 404.

Immanuel Kant: Briefwechsel. Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndörffer. Mit einer Einleitung von Rudolf Malter und Joachim Kopper und einem Nachtrag (Hamburg 1972), 120–122.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
82/25
Gedächtnißes
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Gedächtnisses
82/32
historische Urkunde
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
historische Urkunde
82/32
ägyptische
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ägy
p
tische
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1957):
lies
ägyptische

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): ägyptische
83/16
der große
d
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
der große
83/17
Menschenfeind
† † †
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
† † † / Menschenfeind
83/32
u
U. L. F. Albertine
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
m
U. L. F. Albertin
a
83/36
ex
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
in
84/6
ΜΑ
O
ΙΝΟΜΕΝΟΣ
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ΜΑΙΝΟΜΕΝΟΣ
84/9
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u.