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P. P.
21
Gleich nach Empfang meines Buchs habe selbiges zu meinem Freunde dem
22
D Lindner
gebracht, und ich bin nicht im stande das mir mitgetheilte Skelett
23
als nach einer genauen Vergleichung zu verstehen und zu beurtheilen. Vor der
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Hand theile meinen Begriff von der Hauptabsicht unsers Autors ohne Buch
25
und aus den bloßen Eindrücken meines
Gedächtnißes
mit, in folgenden
26
Puncten:
27
I.
Die mosaische Schöpfungsgeschichte ist nicht von
Mose
selbst; sondern
28
von den StammVätern des menschl. Geschlechts. Dies
Altertum
allein
29
macht sie uns zwar
ehrwürdig
; aber verräht zugleich die wahre
Kindheit
30
unsres Geschlechts. – – – –
31
II.
Diese
Origines
sind kein
Gedicht
, noch morgenländische Allegorie, am
32
wenigsten
ägyptische
Hieroglyphen: sondern eine
historische Urkunde
im
33
allereigentlichsten
Verstande – ein ächtes
Familienstück
– ja zuverläßiger
34
als das
gemeinste physicalische Experiment
.
35
III.
Diese mosaische Archäologie ist der einzige und beste Schlüßel aller
S. 83
bisherigen Räthsel und Mährchen der ältesten morgenländischen und
2
homerischen Weisheit, die von jeher
implicite
bewundert und verschmäht worden
3
ohne jemals von den naseweisesten und kriechendsten Kritikern verstanden zu
4
seyn – das aus dieser Wiege des menschl. Geschlechts zurückgeworfene Licht
5
erhellt
klärt
allein
die heil. Nacht in den Fragmenten aller
Traditionen
6
auf. Hier liegt der einzige zureichende Grund von der unerklärlichen
7
Scheidewand und Veste wilder und cultivirter Völker.
8
IV.
Um jeden geneigten Leser mosaischer Schriften ihren ursprünglichen,
9
einfältigen, überschwenglich fruchtbaren Sinn wiederherzustellen, gehört
10
nichts mehr dazu als alle Festungswerke der neuesten Scholastiker und
11
Averroisten, deren Geschichte und Verhältnis zu ihrem Vater Aristoteles zum
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klärsten Beweise und Beyspiel dienen kann, zu sprengen, niederzureißen u.s.w.
13
Dies hat mein Freund Herder gethan nicht mit der todten Kritick eines
14
ErdenSohns wie
Longin,
den der Blitz eines einzigen mosaischen
bon mots
15
auf der Stelle rührte, sondern mit der
Eroberungswuth
, an deren
16
Grosmuth
ich eben so viel Seelenweide gefunden als unser Criminalrath
der große
d
17
Menschenfeind
† † †
Hippel
an dem Luderge
ruch
schmack eines gebratenen Hasens.
18
Dies ist zugleich die
Punctation
einiger Bogen, die ich mir vorgenommen,
19
HöchstzuEhrender Herr
Professor
Ihrer
Censur
als einem
Iudici
20
competenti
des Schönen und Erhabenen, wie ich bereits an meinen Freund Herder
21
vorläufig geschrieben, zu unterwerfen. Ihr
Imprimatur
wird unsern Freund,
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den Buchdrucker zu
Marienwerder
bewegen so wol zum Verlage als zu der
23
politischen Klugheit keinen Schriftsteller nach seinem
Actien-System,
das der
24
Himmel am besten kennt zu beurtheilen
25
Vor der Hand kommt mir das Autorverdienst unsers Landmanns so
26
entschieden vor, daß ich mit gutem Gewißen rathen kann als ein schöpferischer
27
Kopf von seiner Arbeit zu ruhen, und seine Ruhe wird Ehre seyn. Ich würde
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noch zeitig gnug erscheinen mit meiner Arbeit, wenn die
ingenia praecocia
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unsers kritischen philosophisch-politischen Jahrhunderts ihr Pulver und Bley
30
ein wenig verschoßen haben, ohnedem da sich von ihrem Vorrathe ein ziemlich
31
genauer Ueberschlag machen läßt. –
32
Daß
unsere
die theologische
Facultät
u
U. L. F. Albertine
aber einem
33
römisch-apostolisch-katholischen Ketzer und Krypto-Jesuiten den Doctorhut
34
ertheilen können – und daß dieser in der deutschen Apologie seines
35
Frey-Ordens und in einer
Dissertatio
deren gantzer theologisch-historisch-
36
antiquarischer Wust in
verbis tralatitiis
ex
Gentilismo praetereaque nihil
besteht,
S. 84
auf Einsichten in die
disciplinam arcanam
des Heidentums ohne die
2
Katechismuslehren des Christentums einmal zu kennen, Ansprüche machen darf;
3
dies sticht mir in meinen Nieren –
4
Ich weis nicht, ob mein
vterus
zu Zwillingen Raum haben wird, und diese
5
Frage kann niemand als ein
6
ΣΩΚΡΑΤΗΣ
ΜΑ
O
ΙΝΟΜΕΝΟΣ
7
Υ
Oder
ΜΑΙΟΜΕΝΟΣ
8
beantworten.
Am alten Graben den 7 April. 74.
9
Lavaters Brief
u
übrige Kleinigkeiten habe nicht erhalten.
10
Hamann.
11
Adresse:
12
Des / HErrn
Professoris Kant
/ Wolgeboren /
zu
/
Hause
.
Provenienz
Tartu, Universitätsbibliothek, Sammlung Morgenstern, Ms. 291, I. (pag. 95–98).
Bisherige Drucke
Kant, Werke [Akademieausgabe] X 156–158, vgl. XIII 64 f.
ZH III 82–84, Nr. 404.
Immanuel Kant: Briefwechsel. Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndörffer. Mit einer Einleitung von Rudolf Malter und Joachim Kopper und einem Nachtrag (Hamburg 1972), 120–122.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
82/25 |
Gedächtnißes ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Gedächtnisses |
82/32 |
historische Urkunde |
Geändert nach der Handschrift; ZH: historische Urkunde |
82/32 |
ägyptische ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ägy p tische Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1957): lies ägyptische Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): ägyptische |
83/16 |
der große d ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: der große |
83/17 |
Menschenfeind † † † ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: † † † / Menschenfeind |
83/32 |
u U. L. F. Albertine ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: m U. L. F. Albertin a |
83/36 |
ex |
Geändert nach der Handschrift; ZH: in |
84/6 |
ΜΑ O ΙΝΟΜΕΝΟΣ ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ΜΑΙΝΟΜΕΝΟΣ |
84/9 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |