233
S. 166
Königsberg den
3
Aug.
1762.

2
HochEdelgeborner Herr,

3
HöchstzuEhrender Herr,

4
geneigte Zuschrift
nicht ermittelt
Ew. HochEdelgebornen geneigte Zuschrift vom ersten Julii habe den 16.
ei.

5
Tage
Am 16. Juli 1762 forderte
Katharina II.
die Huldigung ihrer Untertanen in den eroberten Preußischen Gebieten.
erhalten, an einem Tage, der sich sehr kritisch für uns endigte, und alle

6
Friedenslichter und Freudenlampen auslöschte. Der Verzug Ihrer Antwort hat

7
mir selbige desto angenehmer gemacht, weil ich mir gar keine mehr vermuthen

8
war und schon den Vorsatz gefaßt hatte Ew. HochEdelgebornen Stillschweigen

9
zum Besten zu kehren. Ich bin
Ihnen daher
für die kleine Frist verbunden, die Sie

10
mich haben warten laßen, weil mein Vergnügen und meine Erkenntlichkeit

11
bey Empfang einer so freundschaftlichen Erklärung dadurch lebhafter

12
geworden.

13
Thyrsis […] Corydon
Verg.
ecl.
7 schildert den Dichterwettstreit zwischen Corydon und Thyrsis, in dem ersterer siegt. Hamann paraphrasiert hier den dritten Vers der Ekloge.
Thyrsis
also spinnt Wolle, und
Corydon
, der Moralist seines untreuen

14
Arcades ambo […] parati
ebd. 7,4–5: „beide waren Arkadier, beide tüchtig im Singen und zum Wechselgesang gerüstet.“
Freundes sitzt gar beym Butterfaß –
Arcades ambo

15
Et cantare pares et respondere parati

16
Wie sind die Helden der Neuesten Litteratur gefallen? Jener läßt seine

17
„glänzende Waffen“
Verg.
Aen.
8,616. Vgl.
HKB 221 ( II 135/3 )
glänzende Waffen
“ verrosten, dieser verleugnet den Patriotismum eines

18
Urias
2 Sam 11
. Vermutlich spielt Hamann an auf
Mendelssohns
Besprechung von
Abbt,
Vom Tod fürs Vaterland
im 181. der
Briefe die neueste Litteratur betreffend
. Im Beschluss heißt es dort (1761, Tl. 11, S. 52) mit Bezug auf ein Bild aus
1 Kor 15,55
: „Wer zweifelt, ob die Liebe fürs Vaterland dem Tod seinen Stachel nehmen könne, der muß auch in Zweifel ziehen, ob es jemals Griechen, Römer oder Deutsche in der Welt gegeben.“
Parabel
Mt 13,3
Urias, und nimmt zu einer Parabel des N. Testaments seine Zuflucht. – Es

19
Jonathan
2 Sam 1,26
ist mir leid um Dich, mein Bruder Jonathan! – –

20
HEn Moses
Moses Mendelssohn
Ich habe meine vermischte Empfindungen über die Vermählung des HEn

21
Moses nicht beßer auszudrücken gewust als durch diese schwärmerische

22
Parenthese, und wünsche Demselben mit redlichen Herzen beym Genuß des

23
in einem treuen Arm
Anspielung auf einen Vers in dem Gedicht von
Christian Fürchtegott Gellert
„Das neue Ehepaar“: „Denn was man liebt, geliebt besitzen können,/ In einem treuen Arm sich seines Lebens freun,/ Ist, Menschen, dies kein Glück zu nennen,/ So muß gar keins auf Erden sein.“
Lebens in einem treuen Arm so viel Zufriedenheit, daß aller Neid der neun

24
lie
barmherzigen Schwestern, die man Musen nennt, dadurch vereitelt werden

25
Schlaf einen Bruder des Todes
Hamann spielt wohl an auf die 6. Str. des Liedes von Johann Frank (1618–1677) „Du, o schönes Weltgebäude …“: „Komm, o Tod, des Schlafes Bruder“; der griechische Gott des Schlafes Hypnos ist Bruder des Thanatos, des Todesgottes.
mögen. – Ohngeachtet ich meinen Schlaf einen Bruder des Todes nennen

26
kann: so hat mir doch in meinem Leben einmal geträumt, und zwar von einer

27
Frauen für meine rechte Hand, die ich aber geschwind wieder zurück zog.

28
Nymphe eines Eichenstamms
Die Hamadryaden sind Baumnymphen des griechischen Altertums, Seelen des Baumes.
Unterdeßen hab meine linke Hand an einem Mädchen, das eine Nymphe eines

29
Eichenstamms war, so schwer, daß ich über der Arbeit aufwachte mit einem:

30
Ευφημει
Gott behüte
Ευφημει.

31
„Anwerbens“
Vgl.
HKB 223 ( II 140/26 )
An dem gar zu kühnen Ausdrucke des „
Anwerbens
“ in meiner ersten

32
Zuschrift hat mein Gedächtnis vielleicht mehr Schuld als mein Herz. Ich habe

33
dieses Wort meines Wißens
behalten
ohne es gesucht noch gewählt zu haben.

34
Um die Ausschweifung meiner geäußerten Neugierde ein wenig zu mildern,

35
muß ich Ew. HochEdelgebornen aufrichtig bekennen, daß selbige bloß ein

36
Mittel gewesen Dero
Vertrauen
gegen mich einiger maßen auszuholen. Ich ersehe,

S. 167
daß Sie mich deßelben nicht gänzlich unwürdig schätzen – und begnüge mich

2
Nachricht
Friedrich Nicolai
hat Hamann vermutlich erneut zur Mitarbeit eingeladen.
vollkommen mit der mir ertheilten Nachricht. Die Herren Verfaßer werden

3
aus eigener Erfahrung so billig seyn niemanden eine Nachahmung der

4
Verschwiegenheit über Kleinigkeiten übel zu nehmen. Warum sollte ich die Luft

5
nicht andern gönnen, wenn ich für den Funken meines eigenen Lebens

6
unbesorgt seyn kann?

7
Ihre Vergleichung mit einer Demokratie giebt mir viel Licht über die

8
Beschaffenheit des Werks selbst; aber desto schwerer wird es mir den Plan und

9
die Absichten zu verstehen, welches kein Wunder ist, da ich noch keine Zeit

10
gehabt einigen Gebrauch von den mir gegebenen Puncten zu machen. Wäre ich

11
im stande
Beyträge
zu liefern
: so würde ich allem Eigenthume
darauf
zum

12
voraus entsagen, und mich niemals anders als wie den
jüngsten Gehülfen

13
pudor aut operis lex
Hor.
ars.
135: „Scheu oder Original“.
einer
gemeinschaftlichen Arbeit
ansehen, den
pudor aut operis lex,
wie

14
Horatz sagt, springen und rücklings gehen lehren müßen.

15
Bey Gelegenheit der preußischen Gelehrten erinnern sich Ew.

16
HochEdelgebornen sehr zufälliger Weise zweener Jünglinge, die mit einander Umgang

17
gehabt haben. Der eine schreibt für seine Gemeine, glaubt ohne
gute
Werke

18
durch eine bloß thätige Schriftstellerschaft, ich weiß nicht, berühmter oder

19
Panem et ludos Circenses
Iuv. 10,81: „Brot und Zirkusspiele“.
nützlicher oder glücklicher zu werden.
Panem et ludos Circenses
sollten die Herren

20
Kunstrichter zu vergeben haben um gewiße Scribenten zu bekehren.

21
Außer einer
Sterbebibel
, geistl.
Reden
zum practischen
Christenthum und

22
Denkmalen
zum Bau des Reichs Jesu zu Morungen in Preußen in
Briefen

23
Nachrichten und Aufsätzen entworfen, sind von eben demselben Verfaßer

24
Gedichte unter einem schwarzen Titel, kleine Versuche, Näschereyen, ein elisäischer

25
Brief, ein
ironischer
an Patrioten erschienen, jetzt
Sommerstunden
unter der

26
Preße – die man
füglich abwarten könnte
, falls
gegenwärtige

27
Erinnerung nicht zu spät kommt
Umstände
haben, wie es scheint, die gute

28
Anlage verdorben, die jetzt unkenntlich ist. Weil er meine Sprache nicht versteht

29
oder nicht mehr verstehen will: so stehe jetzt in keiner genaueuen Verbindung,

30
und bekümmere mich um keine
Gemeinen
, wo Jesus Syrach auch für einen

31
kanonischen Schriftsteller gilt, dem es an Materie nicht fehlen konnte,
noch

32
wie ein voller Mond
Sir 50,6
etwas mehr zu sagen, denn er war wie ein voller Mond
– der ohne

33
Beschwörungen abzunehmen pflegt.

34
Da ich an der Herausgabe des Sokratischen
Versuches
Antheil nehmen

35
müßen; so hab ich mich bisweilen mit der Aufgabe umsonst geqvält: Wie die

36
Hamburgischen Nachrichten
Christian Ziegras Rezension der
Denkwürdigkeiten
(
Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit
, 57. St. (29. Juli 1760), S. 452–454
Hamburgischen Nachrichten durch die Dunkelheit dieser Blätter so sehr haben

37
beleidigt werden können? und wie es möglich ein Buch ziemlich gründlich

S. 168
beurtheilen
übersehen zu können, ohne selbiges zu verstehen? wie geschwind

2
man sich hingegen selbst vergeßen kann, wenn man Grund von seinem

3
Geschmack angeben soll? – – Es sind noch mehr Schwierigkeiten in der

4
Hamburgischen
Recension
für mich, die sich vielleicht bloß durch die
Geschichte

5
Briefen
Mendelssohns
Rezension war im 113. Brief der
Briefe die neueste Litteratur betreffend
vom 19. Juni 1760 erschienen.
derselben aufklären ließen. Daß man in den Briefen der neuesten Litteratur an

6
sehr
leichten
Stellen Anstoß gefunden, ist offenbar, und von dem Verfaßer

7
der Wolken, welchen die Hamb. Nachr. im Enthusiasmo des Zorns Ihren

8
Thespis
Tragödiendichter und Schauspieler (6. Jhd. v. Chr.), der mit einer Wanderbühne auf einem Karren unterwegs gewesen sein soll. In der Rezension der
Wolken
im 57. Stück (28. Juli 1761) der
Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit
bezeichnet Ziegra Hamann als „Unser[en] deutschen Thespis“.
Thespis nennen, mit aller nöthigen Verschwiegenheit angedeutet worden.


9
Est et …
Hor.
carm.
3,2,25f.: „auch treuer Verschwiegenheit ist der Lohn sicher“.
Est et fideli tuta silentio

10
Merces – –     Horat. Lib. III. od.
2.


11
Erklärung
Vgl.
HKB 223 ( II 141/6 )
Die in meiner ersten Zuschrift geschehene Erklärung behält noch ihr völliges

12
Gewicht, daß ich mich bloß auf
Nachrichten
von wirklich merkwürdigen

13
Werken einschränken muß –

14
Unter dem neuesten Meßgut habe noch wenig gefunden, das meine

15
Geßners Schriften
Gesner,
Schriften
Aufmerksamkeit stark genug gerührt hätte, ohne den 4 Theil von Geßners

16
Schriften, die
Recherches sur l’origine du Despotisme, Rousseau du Contract

17
social,
und die Briefe über die mosaische Schriften und Philosophie –

18
Daß
Lowths Praelectiones de Sacra poesi Hebraeorum
meine Erwartung

19
nicht erfüllen, und der 2te weniger als der erste mich befriedigt, liegt vielleicht

20
mehr an meiner gegenwärtigen Gemüthslage – Ich habe schon viele Wochen

21
in einer halben Vernichtung meiner selbst gelebt, und bin über eine

22
rothes Meer
vgl.
2 Mo 14
Kleinigkeit so unruhig und verlegen, als wenn ein rothes Meer von mir und ich weiß

23
nicht was für ein Heer von Sorgen hinter mir wäre.
Genie
ist eine

24
Dornenkrone
Mt 27,29
Purpurmantel
Mt 27,28
Dornenkrone und der
Geschmack
ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt.

25
Virtus repulsae …
Hor.
carm.
3,2,17 u. 19: „Mannestugend kennt keine entehrende Niederlage; ihre Würde nicht geben oder nehmen“.
Virtus repulsae nescia sordidae

26
Nec sumit aut ponit
secures
.

27
Es fehlt nicht viel, daß ich diesen Brief, für den ich mich selbst schäme mit eben

28
Tiberius
Claudius Nero Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.), röm. Kaiser.
Quid scribam […] si scio
Sueton
Tib.
67: „Was soll ich euch schreiben, Senatoren, oder wie soll ich schreiben, oder was soll ich in diesem Moment nicht schreiben? Die Götter und die Göttinen mögen mich schlimmer zugrunde gehen lassen, als ich mich täglich zugrunde gehen fühle, wenn ich es weiß.“
den Worten schließe, womit Tiberius seinen anfieng:
Quid scribam vobis P. C.

29
aut quomodo scribam aut quid omnino non scribam hoc tempore, Dii me

30
Deaeque peius perdant quam
perire
quotidie sentio, si scio.

31
Empfehle mich Dero geneigtem Andenken und ferneren Wohlwollen, der

32
ich die Ehre habe mit der aufrichtigsten Hochachtung zu seyn Ew.

33
HochEdelgebornen ergebenster Diener.

34
Königsb. den 6
Aug.
1762.
Haman.


35
Klingstädt Nachrichten
Ein Vorabdruck als Teilübersetzung der
Mémoires sur les Samojedes et les Lappons
erschien unter dem Titel
Anmerkungen über die Samojeden
in:
Neues gemeinnütziges Magazin
, Bd. 4, 1761, S. 717–743.
N. S. Des HE.
Collegi
enRaths von Klingstädt Nachrichten über die

36
Samojeden kommen jetzt hier im französischen heraus. Ich habe sie unvermuthet

S. 169
schon im Gemeinnützigen Magazin übersetzt gefunden. Ein Kurländisches

2
Briefen zur Bildung des Herzens
Dusch,
Moralische Briefe zur Bildung des Herzens
Fräulein steht im Begrif eine französische Uebersetzung von den Briefen zur

3
Bildung des Herzens, die ich nur nach dem Namen kenne, herauszugeben.


4
Erhalten-Vermerk von Nicolai auf der letzten Seite des Briefes oben:

5
1762.  
August / Hamann

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 172–174.

ZH II 166–169, Nr. 233.

Zusätze fremder Hand

169/5
Friedrich Nicolai

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
166/9
Ihnen daher
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
dafür
167/11
darauf
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
drauf
167/11
Beyträge
zu liefern
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Beyträge zu liefern
167/21
Reden
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Reden
167/22
Briefen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Briefen,
167/25
ironischer
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ironischer
167/34
Versuches
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Versuchs
168/26
secures
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
securis
168/30
perire
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
perire
me
169/5
1762. […] Hamann]
Hinzugefügt nach der Handschrift.