184
26/17
Königsberg den
13
Junius
760.

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GeEhrtester Freund,

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Dero Brief
nicht überliefert
Heute habe Dero Brief erhalten, auf den schon vorige Post gewartet; danke

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herzl. für Dero Wunsch, an dem das junge Paar nächstens Theil werde

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nehmen laßen. Gott laße gleichfalls den Reichthum Seines Seegens auf Sie und

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die Ihrigen ruhen.

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Wir haben in zieml. Zerstreuungen bisher in unserm Hause gelebt und

24
Johannis
24. Juni, in vielen baltischen Gegenden zur Sommersonnenwende am 21. Juni gefeiert.
müßen auf Johannis mehrere gewärtig seyn. Mein Vater ist hierinn jünger

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geworden als ich; und meine Muße verliert auch nicht viel dabey. Heute Gott

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Er fördert …
Ps 90,17
Lob! den Jesaias zu Ende gebracht und den Jeremias angefangen. Er fördert,

27
wie Sie sehen, das Werk meiner Hände. Die historischen Bücher v ersten

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Propheten habe mit ziemlicher Genauigkeit lesen können; jetzt aber ist kein Halten

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alte Evangelist
Jesaja
gewesen, der alte Evangelist hat mich mit sich fortgerißen, daß ich den

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Buchstaben wie ein mit rothen Seegeln auslaufendes Schiff das Land, darüber aus

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dem Gesichte verloren habe. Den Tag vor der Hochzeit brachte eine kleine

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Abhandlung über den Einfluß der Sprachen und Meynungen zu Ende, die die

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unverdiente
Ehre haben wird morgen in unserm
Intelligentz
blatt zu

34
stehen. So bald selbige abgedruckt seyn wird, schicke ich ihnen solche über die

S. 27
Post über, da sie einen einzigen Bogen kaum füllen wird. Es ist mir lieb, daß

2
Sie sich die Wahl meiner Bücher gefallen laßen; ich bin für etl. besorgt

3
gewesen. Ich gehe mit meiner Zeit so karg um, daß ich nicht einmal die
poes.

4
holl. Ausgabe
der
Poésies diverses
: 1760 in Amsterdam bei Schneider gedruckt.
diverses
habe lesen wollen. Die holl. Ausgabe ist auch hier und habe sie bei

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Lauson gesehen. Was Michaelis anbetrift; so glaube ich, daß Sie einige

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kritische Gedanken
Vgl.
HKB 182 ( II 23/7 )
; vll. ein Entwurf der Kritik, die im
Kleeblatt hellenistischer Briefe
enthalten ist, im dritten Brief, N II S.179f., ED S. 124f.
kritische Gedanken, die ich nach Riga geschickt, werden gelesen haben über diesen

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griech. Studio
vll. Brief
HKB 179
Autor. Da Ihnen vermuthlich auch der Entwurf zu meinem griech.
Studio

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zu Händen gekommen seyn wird; so darf selbiges nur jetzt als einen

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subordini
rten Zeitvertreib ansehen. Unter den alten Sittensprüchen haben mir

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Theognidis
Theognis von Megara
Theocrit
Theokritos
Theognidis
sehr gefallen und bin jetzt im
Theocrit,
mit dem ich die poetische

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Hippocrates
Hippokrates von Kos
Claße zu schlüßen gedenke; weil
Hippocrates
auf mich wartet, von dem eine

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fol:
folio, großformatig
gl.
Groschen (Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
kostbare
Edition
in
fol:
erhascht für 33 gl. Diese Kinderspiele hat mir Gott

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gegeben um mir die Zeit Seiner Erscheinung nicht lang werden zu laßen. Meine

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rechte Arbeit, die niemand sieht, ist der Beruf meines Vaters, ihn nicht in

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Gottes Arm
Ps 71,18
seinem Alter zu verlaßen – – der Gottes Arm verkündigen möge

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Kindeskindern!

17
Ich bin durch Dero Nachricht von meinem Bruder, GeEhrtester Freund,

18
herzlich gebeugt worden; so sehr ich auch gewißermaßen auf Gottes

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Heimsuchung zubereitet worden. Auch diese väterliche Züchtigung wolle so gut zu

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meinem und derjenigen Besten, die daran Theil nehmen, als seinem eigenen

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gedeyhen. Ich habe ihm niemals mit meinen Angelegenheiten beschwerlich

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fallen wollen, (und dies auch zu thun nicht nöthig gehabt) weil er mit den

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seinigen so zurückhaltend gegen mich gewesen. Wo er also die finstre Eindrücke

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von meinem Schicksal hergesogen, weiß ich nicht. Auf meine Briefe kann mich

25
Freudenöl
Ps 45,8
beruffen, die mehr nach Freudenöl riechen als meiner Gesellen ihre. Ich würde

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der undankbarste Mensch unter der Sonne seyn, wenn ich im geringsten über

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meine jetzige Verfaßung in meines Vaters Hause klagen wollte, (den Himmel

28
verlange ich auf der Erden nicht, der im Herzen, ist Himmels genung auch

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in der ärgsten Welt.) Unendlich zufrieden kann mit dem Ausgange meiner

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Angelegenheiten
vgl.
HKB 180 ( II 16/18 )
außwärtigen Angelegenheiten seyn; und ich habe wie ein trunckener Mensch

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darüber gejauchzt. Unendlich zufrieden über die Denkungsart derjenigen

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Leute, mit denen ich zu thun gehabt. Falls Sie alle meine Briefe an ihn

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durchlesen sollten, würden Sie nichts von demjenigen finden, was ihn

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beunruhigt.
Nach der Wahl hab ich sie lieber
als irgend andere Menschen

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auf der Welt und ich schreibe auch an meinen leiblichen Bruder nichts, das sie

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nicht hören dürften, wenn es abgekanzelt werden sollte. Ich habe ihn immer

37
gebeten, daß er sich um nichts bekümmern sollte, daß meine Sachen ihn nichts

S. 28
angiengen, und um desto sicherer diese fremde Gedanken von ihm v von mir

2
in unserm Briefwechsel zu entfernen, hab ich beynahe
affecti
rt lauter

3
gelehrte
Sach
Poßen und insbesondere ein Journal meines jetzigen

4
Studierens ihm zu liefern und ihn immer um
acta Scholastica
dafür ersucht,

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ihn zugl. zum Fleiß, zum
rechten Fleiß
aufzumuntern und an meinem eignen

6
wie der, so hat …
Mt 13,12
Exempel
zugleich zu lehren, wie selbiger geseegnet ist und wie der, so hat,

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immer mehr empfäht.

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unerkannte Sünde
Ps 90,8
Wer glaubts, daß Gott so sehr zürnet, und unsere unerkannte Sünde ins

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Licht vor sein Angesicht stellt? Was
für
wir nicht für Sünde halten oder

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für Sünde glauben können, das braucht keiner Vergebung. Dieser Wahn ist

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ein Schlaftrunk, der unsern Fall beschleunigt. Wohl dem der so fällt, daß er

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wenigstens davon aufwacht, und sich für solcher Betrübnis der Seelen hüten

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lernt.
Jer: VIII.
12.

14
Gott mag sich seiner annehmen! Ich würde durch meine Herüberkunft, die

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er sich wünscht, ein leidiger Tröster für ihn seyn. Was können ihm meine

16
der Buchstabe …
2 Kor 3,6
Briefe helfen, der Buchstabe würde ihn immer mehr tödten, je mehr er

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demselben nachgrübelt ohne dem Geist, mit dem ich sie schreibe und mit dem er sie

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auch lesen sollte. Gott schicke Ihnen GeEhrtester Freund! Mitleiden und

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Gedult mit seinen Schwachheiten. Hätten Sie beym Antritt seines Amtes

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weniger gehabt; so würden sie jetzt vielleicht nicht so viel brauchen. Denken Sie

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daß Sie 2 Brüder haben, deren Wege eben so wenig scheinen gebahnt zu seyn,

22
als bisher meiner und meines Bruders gewesen.

23
Ich halte es für meine Schuldigkeit Ihnen noch einige Erläuterung über

24
sub rosa
Unter dem Siegel der Verschwiegenheit
das Hirngespinst seiner Armuth zu geben.
Sub rosa,
er hat seinen

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Schuldigkeit eines Hochzeitgeschenkes
siehe
HKB 182 ( II 20/22 )
Goldklumpen bisher, versetzt. 2.) hab ich ihm die Schuldigkeit eines

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Hochzeitgeschenkes nach ihrem Beyspiel zu verstehen gegeben. 3.) ist er hier viele Jahre

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fl.
Gulden, Goldmünze, hier aber vmtl. 1 polnischer Gulden, eine Silbermünze, entsprach 30 Groschen.
im Buchladen 12 fl. schuldig geblieben, an die ich ihn mahnen müßen, für ein

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Buch, das der seel. Hartung für ihn verschreiben müßen. Er hat dies aus

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Freundschaft gegen
Charmois
gethan, der aus Freundschaft sein Schuldner

30
geblieben, wie er aus guter Nachbarschaft dem Buchladen. Es kann also

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würkl. ihm am Gelde fehlen und er hat die Schaam sich zu entdecken.

32
verwirrten Brief
vgl.
HKB 183 ( II 24/20 )
Er hat mir vor 4 Wochen einen so verwirrten Brief geschrieben, daß ich

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mich fast selbst an demselben verwirrt gelesen; der letzte war wieder

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empfindlich, und er redte darinn vom Raub seiner Güter, weil ich an seine kleine

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Schulden gedacht, und mich dazu anerboten selbige hier zu bezahlen. Sie

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werden so gut seyn meinen Brief zu lesen an ihn, ehe Sie ihm selbigen geben.

37
An Nachrichten von ihm ist meinem alten Vater und mir viel gelegen; wir

S. 29
verlaßen uns hierinn auf Ihre Freundschaft. Am Besten wäre es, daß er von

2
allen Nebenstunden jetzt loßgespannt und bloß bey der Schularbeit bliebe,

3
Brunnenkur
Trinken von Heilquellwasser
mein Vater räth zur Brunnenkur. Tragen Sie die Last, die Ihnen Gott

4
auferlegt hat, und nehmen Sich seiner an, nicht nach Ihrem guten Herzen

5
Weisheit …
Hi 28,28
sondern mit Weisheit in der Furcht des HErrn. Unsern Herzl. Gruß an Ihre liebe

6
Frau. Ich ersterbe Ihr Freund.
H.


7
Mein Vater ersucht Sie herzlich, ihn sogl. zum Aderlaßen zu zwingen,

8
wenn er sich daßelbe nicht als einen Rath gefallen laßen will; und die bittere

9
Seydl. Brunnenkur
Seydlitzer Brunnenkur, mit Hilfe von Heilwasser aus einer Quelle in Sedlitz, das enthaltene Bittersalz wirkte abführend.
Seydl. Brunnenkur zu brauchen, die erste
Bouteille
auf 4 Tagen. Er kann ein

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Kruke
Krug, wie er von Apotheken verwendet wurde
Paar Tage einhalten und wieder eine Kruke trinken.

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Gott wird uns nicht mehr auflegen als wir tragen können.
Motion

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empfiehlt mein Vater. Ich weiß nicht was er unter meiner Herüberkunft, auf die

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er in einigen Briefen auf eine mir ganz unerklärliche Art gedrungen, eigentlich

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hinter sich hat. Ist es bloß Lüsternheit – – hat er mir was zu entdecken, laß ihn

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nur reden. Will er loß seyn; in Gottes Namen – Ich will ihm meine Stelle

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hier einräumen, und wenn mein Vater uns nicht alle beyde unterhalten kann

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oder Zank seyn sollte, die rechte und linke Seite zu wählen überlaßen.

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Ist ihm nicht Gott näher als ich; und wenn er mich liebt, wozu entdeckt er

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sich nicht, und schreibt mir ins andere Jahr nichts als vorsichtige Briefe. Traut

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er sich selbst oder mir nicht?

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treue Zeuge in den Wolken
Ps 89,38
Der treue Zeuge in den Wolken! den ich jetzt nach dem Abendeßen gesehen.

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Die heutige Sonnenfinsternis hat wegen des wolkichten Himmels kaum

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wahrgenommen werden können.

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Mein Vater ist sehr geneigt mir eine Reise nach Riga einzuwilligen, falls selbige

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nothwendig, das Versprechen oder die Erfüllung deßelben zu meines Bruders

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Wiederherstellung nöthig wäre. Melden Sie ihm dies zu seiner Aufmunterung.

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Gott gebe Ihnen Gedult und laße alles zu Seiner Ehre und unserm Heyl

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gereichen. Sein Wille geschehe. Er ist doch der Beste. In diese glückliche

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Traurigkeit …
2 Kor 7,10
Gemüthsfaßung versetze uns Sein guter Geist alle, und laße unsere Traurigkeit

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Gottlich und unsere Freude im HErren seyn.

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Ich umarme Sie nochmals und empfehle Sie Göttl. Gnade. Versäumen

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Seine Wege …
Hi 38,16
u.
Ps 77,20
Sie nichts an meinem Bruder, und seyn Sie ruhig. Seine Wege sind in

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großen Waßern und man kann ihre Fußstapfen nicht sehen. Leben Sie wohl mit

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Ihrem gantzen Hause. Gott empfohlen.

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Ich schreibe nächstens wie ich hoffe mit mehr Faßung. Wir gehen nächste

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Wie ein Hirsch …
Ps 42,2
Woche wills Gott zum Abendmal. Zu meiner Beichte gewählt: Wie ein Hirsch

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schreyet nach frischem Waßer.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 2 (50).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 26–30.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 43 f.

ZH II 26–29, Nr. 184.