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        S. 129
Grünhof den 
28 Christm. 755.
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Herzlich Geliebteste Eltern 
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Eben bin mit meinen Neujahrs Wünschen fertig; für Freuden weiß meine 
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Brief
 nicht überliefert 
Zeit nicht beßer anzuwenden als Dero liebreichen Brief, den über Riga diese 
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wenigen Zeilen
Brief 51
 Woche erhalten, jetzt zu beantworten. Aus den wenigen Zeilen die ich neulich 
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in der grösten Eil aufgesetzt, werden Sie schon meinen Tausch wißen. Ich bin 
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wieder hier v finde viel Zufriedenheit darinn, daß Ihre Wahl meine 
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Entschlüßung billiget. Das übrige werde von dem entschieden, unter deßen Vorsehung 
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unser Schicksal steht. Wie angenehm sollte es mir seyn die Freude zu erfüllen, 
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die Sie sich schon zum voraus auf meine Rechnung machen. Ich habe die 
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Höflichkeit bey Ihro Excell. angebracht, die Sie so gütig gewesen in Ihrem 
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Briefe anzubringen. Man war für diese Aufmerksamkeit erkenntlich, man 
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gedachte zugleich, daß man sich schon vorgenommen hätte an Sie nach 
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Königsb. zu schreiben um mich wieder zu haben. Es ist mir lieb, daß man diese 
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Mühe nicht nöthig gehabt. Ein paar Tage nach meiner Ankunfft bin hier zu 
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meinem Verdruß unpäßlich worden und muß leyder! noch die Stube hüten. 
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Verkältung vermuthlich ist schuld daran. Eine geschwollene Hälfte vom 
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Flußfieber
 „Febris catarrhalis, ein nachlaßendes Fieber, welches sich mit Flüssen auf der Brust vereinigt. Man macht einen Unterschied unter ein gutartigen [Catarrh] und bösartigem Flußfieber.“, vgl. 
Krünitz
, Tl. 14, S. 420 
Gesicht nebst einem Flußfieber, verdorbener Magen, verhärteter Leib jetzt wieder 
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seit 4 Tagen. Gott Lob daß ich nicht völlig das Bett hüten darf. An Pflege 
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fehlt es mir nicht, wie Sie leicht denken. Es läge an mir noch mehr zu haben. 
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Man hat mir einen Artzt aus Mietau anbieten laßen, den ich zu einer solchen 
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Kleinigkeit nicht für nöthig halte. Ich will heute Abends ein abführend 
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Pulver das man hier hat v Morgen früh wieder einnehmen. Mein Zahngeschwür 
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scheint zeitig zu seyn, und ich wünschte den Aufbruch deßelben befördern zu 
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können. Man erwartet den jüngsten HE. Grafen von Lacy morgen, der das 
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Neue Jahr hier zubringen wird; ein Liebling seiner Schwester. Meine 
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Krankheit wird mich schwerlich vor dem NeujahrsTage verlaßen. Wenn nur mein 
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Magen beßer wäre – – ein großer Appetit der von Schärfe herkommen muß, 
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eine enge Kehle von Blähungen v Schlappigkeit des Magens; nebst einer 
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Spannung im Zwergfell oder in der Brust. Ich hoffe nicht daß dies viel auf 
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sich haben wird, mein harter Leib ist gleichwol eine Seltenheit. Das hiesige 
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Bier hat mich mit Blähungen zugesetzt, weil es nicht gut gegohren; ich trinke 
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daher Waßer mit geröstetem Hausbrodt und meine Portion Wein 
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mehrentheils dabey. Sollte es an Getränke liegen? Der Winter ist abgegangen, die 
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Gelegenheiten nach der Stadt sind seltner. Ich weiß nicht, wenn dieser Brief 
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abgehen wird. Bey beßerem Wege hätten Sie ihm am ersten NeujahrsTage, 
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Geliebteste Eltern erhalten sollen. Nun glaube ich daß ihn erst die Post dann 
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wird mitnehmen können. Wenn meine Wünsche verspäten, so verlieren Sie 
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gleichwol nichts von Ihrer Kraft. Ohne eine Liste von allen den Gütern zu 
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machen, die der Menschen Glück befördern nehmen Sie die Aufwallungen 
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meines kindlichen gehorsamen dankbaren Herzens an statt großer Reden an. 
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Gott kennt unser aller Nothdurft am besten, seine Weisheit und Güte, die er 
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auf einen größeren Schauplatz für uns als das kurze und elende Leben ist 
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uns in ihrer Größe zu zeigen aufbehalten, wird uns auch in diesem 
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Raupenstande
 vll. entlehnt aus 
A. v. Hallers
 Versen in „Antwort an Herrn Bodmer“: „Mach deinen Raupenstand und einen Tropfen Zeit, / den, nicht zu deinem Zweck, die, nicht zur Ewigkeit.“ 
Gedichte des Herrn von Haller
 (Zürich 1750), S. 174 
Raupenstande nicht vergeßen. Er mache unsere Seelen gegen Satan, Welt und uns 
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selbst stark, und führe uns zu seiner Ehre und unserm ewigen Glück heraus. 
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Wenn unsere Schwachheiten einmal aufhören werden, wenn ein neuer Leib 
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uns umgeben wird, deßen Last unser Geist nicht fühlen wird; dann laß er uns 
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mit jenen Kranken, die sein Wort gesund machte, mit einander ausruffen: 
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[…] wohl gemacht
Mk 7,37
 Der Herr hat Alles wohl gemacht. Biß auf diesen schönen Augenblick, der uns 
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absondern unterscheiden und belohnen wird, gönne er uns das Gute seiner 
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Geschöpfe und unsers jetzigen Auffenthalts in ihm zu genießen, auch hier in 
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Glück und Unglück zu sehen und zu schmecken, wie freundlich Er der Herr ist: 
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So lange uns Gott auf seinem Grund und Boden hier erhält, Liebste Eltern, 
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laßen Sie uns unsere gegenseitige Verhältnis zum Trost und Aufmunterung 
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dienen. Meine Entfernung ist vielleicht selbst eine unerkannte Wohltat der 
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Vorsehung, und giebt Ihnen Vortheile vielleicht, denen Sie meine 
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Gegenwart berauben würde. Ein Brief, eine gute Nachricht von mir, die 
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Hofnung mich wieder zu sehen… sind dies nicht Arten von Vergnügen, die 
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Ihrem väterl. Herzen wenigstens zum Zeitvertreib gereichen können. 
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Feinde und Verfolger, lieber Papa, verschonen Ihr frommes Alter nicht. Sie 
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vertrauen mir Ihren Gram darüber, den ich kindlich mit Ihnen theile. 
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Wie oft und wie muthig haben Sie sich auf selbige beruffen, das tägliche 
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Brodt, das Ihnen der liebe Gott zuschneidt, wird niemand als Sie zu 
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genüßen bekommen. Es gedeye Ihnen desto beßer und der Fluch ihres 
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armen Nächsten wird sich 
in einen
 zu lauter Seegen in ihren Körben 
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verwandeln. Denken Sie an uns weniger als Sie vielleicht thun, laßen Sie es 
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sich aus Liebe zu uns an einem zufriednem Herzen mit einem bescheidnem 
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Theil nicht fehlen. Der Himmel wird uns Jungen auch wohl versorgen, 
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wenn wir ihn anruffen. Meine eigene Erfahrung sagt mir, daß er noch 
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nicht aufgehört hat Wunder zu thun. Ist derjenige König arm oder geitzig 
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geworden, der nicht jedes Jahr den Tag seiner Huldigung als den ersten 
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durch Schaumünzen und allgemeine Freygebigkeit seiner Schätze feyret? 
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Sein Reichthum flüst nützlicher ohne öffentl. Aufruhr in die Häuser seiner 
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Unterthanen. 
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Es ist Zeit hier meine Betrachtungen abzubrechen. Sie sind meine liebste 
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Gesellschafft. Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen bloß zu Gefallen ernsthafft ja 
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auch als ein Christ denke. Mein eigner Wunsch stellt mir letzteren als das letzte 
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Ziel unserer Menschlichkeit für. Ich fürchte mich, daß ich mich künfftig an 
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Manna
Joh 6,58
 meiner Schoosneigung zu Büchern wie die Kinder Israel am Manna vereckeln 
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werde. Wenn meine Leidenschaft zu den Wißenschaften aufhören sollte, so 
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weiß ich keine in mir so stark, die diese ersetzen könnte. Wie theuer soll mir der 
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guten Freundes
 nicht ermittelt, 
HKB 54 ( I 133/34 ), 
HKB 55 ( I 135/35 ), 
HKB 58 ( I 144/24 ), 
HKB 60 ( I 149/31 ) Wink seyn zu einem Göttlichen Geschäffte. Das Beyspiel eines guten 
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Freundes, den ich hier unvermuthet gefunden, und deßen Schicksal mir nahe geht, 
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hat einen wehmüthigen Eindruck bey mir gemacht. Der Höchste lacht unserer 
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Keckheit, unsers leichtsinnigen Muths, wie unsers Verstandes. Ihre 
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Erinnerung in Ansehung des letzteren möge bey mir nicht fruchtlos seyn. 
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Weil heute noch eine Gelegenheit nach Mietau abgeht, so muß schließen. 
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Ich habe noch fast nichts von meiner hiesigen Einrichtung sagen können. Daß 
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meine Aufnahme hier sehr feyerlich gewesen, läst sich gleich vorstellen. Ich 
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habe mich weder zu einer gewißen Zeit noch unter der Bedingung des Reisens 
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verbindlich gemacht. Wer kann mir für den Ausschlag meiner Bemühungen 
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gut sagen? Dies muß die Zeit lehren. Wenn ich zum Nutzen der jungen Herren 
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hier seyn und was gutes bey Ihnen ausrichten kann; so soll mir kein Ort und 
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keine Gelegenheit die Welt zu sehen lieber als gegenwärtige seyn. Wenn das 
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erstere nicht eintrift; so fällt das letztere von selbst um. Seyn Sie mit dieser 
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Gleichgiltigkeit, Liebste Eltern, zufrieden; sie ist wenigstens sehr ehrlich und 
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unschuldig. Die kurze Zeit verbietet mir jetzt noch eine weitere Aussicht, da ich 
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in Falten legen
 ordnen 
ohnedem kaum mich wegen meiner Unpäßlichkeit recht habe in Falten legen 
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können. Mit dem ersten Fuhrmann erwarte die Sachen. Ich hätte wohl noch 
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gern etwas um meine Dienstfertigkeit hier zu bezeigen. Die Fr. Gräfin hat 
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Bruder
Moritz Reichsgraf v. Lacy
 gewünscht einige Insecten Stücke von Börnstein Ihrem HE. Bruder dem 
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HE. Grafen zum Andenken zu geben. Wenn ich unvermuthet damit 
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zuvorkommen könnte; so würde dies sehr gut aufgenommen werden. Es müßen 
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aber ausgesuchte Stücke seyn, die mit dem ersten Fuhrmann überkämen; weil 
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Ernesti
 Ein Exemplar von 
Ernesti, 
Initia Rhetorica
, 
HKB 51 ( I 125/8 ); welchen Titel von Ernesti Hamann gefunden hat, ist unklar. 
ich ohnedem mit Schmerzen auf die andern warte. 
Ernesti
 habe hier im 
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Buchladen angetroffen; seine 
Rhetoric
 nicht. Der junge HE. hat sie also schon, 
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wenn ich ihn unterdeßen auch bekäme, könnte es nicht schaden. Seine 
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Philosophie könnte vor der Hand wenigstens entbehren. Auf die andern Sachen 
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warte aber mit Schmerzen. 
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Gott sey mit Ihnen, herzlich Geliebteste Eltern. Er seegne Sie Beyderseits 
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und unser ganzes Haus im geistl. und leibl. Alle gute Freunde nebst Jgfr. 
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Degnerinn grüße herzlich. Ich küße Ihnen tausendmal die Hände mit der 
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kindlichsten Ehrfurcht und ersterbe 
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Ihr gehorsamster Sohn.
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An meinen Bruder. 
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Frölich Neu Jahr. Ein frölich Herz, ein gesunder Leib, ein gut Gewißen. 
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Auf wie lange ich Dich, mein lieber Bruder Christel, 
praenumeriren
 soll, weiß 
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ponderentur […]
 gewogen, nicht gezählt 
ich nicht; du auch nicht. Der Himmel zieh also unser Loos. 
ponderentur, non 
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numerentur,
 laß uns unsere Jahre als Zeugen ansehen, auf deren Gewicht 
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mehr ankommt als auf Ihre Menge. Ich habe nicht Zeit aufzuschlagen. Wenn 
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willkührl. Kopfsteuer […]
 Zitat nicht ermittelt 
diese Stelle fehlt: so muß sie so heißen: 
eine willkührl. Kopfsteuer
 (Was 
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 engl. poll tax = Kopfsteuer 
Poll
 seyn soll weiß nicht besinne mich auch gar nicht in einem Exemplar 
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gefunden zu haben; mein engl. 
Dictionair
 ist noch nicht hier) 
die zwar 
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mittelmäßig aber in ihren Folgen gefährlich ist, weil es leichter fällt eine 
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schon eingeführte Abgabe zu vermehren als eine ganz neue 
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einzuführen
. 
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Ich weiß noch nicht ob HE. Lindner angekommen. Er hat seinem Bruder 
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ein gewißes Gedicht 
pucelle
 wo ich nicht irre mitbringen wollen wovon ich 
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auch ein 
Exemplar
 wohl gehabt hätte. Ob es geschehen weiß nicht. Besorge 
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doch meine Sachen mit dem ersten Fuhrmann v lege mir Lilienthals neueste 
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Auflage von seinem Gesangbuche bey. Ich halte dies für die beste v nützlichste 
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Arbeit meines Wohlthäters v habe schon lange es zu haben gewünscht. Du 
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würdest mich betrüben wenn Du es vergeßen möchtest. Schreibe ohne Rand 
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v leeren Raum an mir, mein lieber Bruder. Gott mache mich nur gesund, daß 
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ich so wohl meinen Beruf als Nebenarbeiten abwarten kann. Mein Nachbar 
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Pastor
Johann Christoph Ruprecht
 der HE. Pastor ist Bräutigam. Wirst Du nicht bald Pastor 
adjunctus
 seyn. 
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Grüße alle Freunde. Künftig mehr. Du wirst in Bestellung meiner Briefe 
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saumseelig gewesen seyn. Doch St‥ zum Neuen Jahr will ich mich nicht mit 
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Dir zanken. Lieb mich und vergiß Deinen Freund nicht; der es dem Blut und 
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dem Herzen nach ist und bleiben wird. 
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Johann George Hamann.
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Den 29. Decembr. 
Schreib an unsre liebe Freunde in Riga. 
Provenienz
 Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (33). 
Bisherige Drucke
 Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 78–80.
 ZH I 129–132, Nr. 53.