45
113/5
Grünhof den
10 Jun. 1755,
6
Herzlich Geliebteste Eltern,
7
Ich kann es mir selbst zuschreiben, wenn ich so lange keine Nachrichten von
8
meinen lieben Eltern, an die ich täglich denke, v tägl. habe schreiben wollen,
9
bekommen habe. Wenn Ihnen mein langes Stillschweigen einige Sorgen
10
gemacht, bitte ich um Verzeyhung derselben. Meine Entschuldigungen liegen
11
bloß in Zeit v. Umständen. Die Cur, welche ich glücklich zu Ende gebracht, hat
12
mich ein wenig magerer aber Gott Lob! leidlich gesund zurückgelaßen. Man
13
ist hier auf die andern Güter gereist v ich erwarte sie diese Woche, bin daher mit
14
meinen jungen Heerschaften allein. Daher gehen seltener Gelegenheiten,
15
unordentlicher wegen der Feldarbeit v dieser Abwesenheit; sie kommen des
16
Nachts v sind mit anbrechendem Tage schon wieder auf dem Wege pp. Mehr
17
Aufsicht, weniger Einsamkeit, indem ich sie beständig um mir haben muß;
18
folglich verdrüslicher und müder dadurch ppp.
19
Brief
nicht überliefert
Mein lieber Vater haben mir neulich einen sehr langen Brief geschrieben;
20
in dem
er
Sie die glückliche Genesung
seiner
Ihrer Entkräftung mir
21
Zinks
nicht ermittelt
gemeldet v die Geschichte eines Freyers, des ehrl. Zinks, mir erzählen, dem ich
22
nebst seiner jungen Wittwe viel Glück v Seegen wünsche. Er wird doch wohl
23
mit seinem Nebenbuler in keine Verdrieslichkeiten kommen; ich wundere
24
mich, daß dieser Mensch sich noch in Königsberg aufhalten darf, von dem ich
25
lange geglaubt, daß er ich weiß nicht wo? wäre. Uebrigens, lieber Papa,
26
glauben Sie nur vor der Zeit ganz ruhig, daß die Ehrlichkeit da aufhört, wo der
27
Eigennutz anfängt, daß die meisten Menschen die vierte Bitte im Vater Unser
28
wie die jungen Raben thun, daß Gott auch ihre Stimme erhört, aber noch
29
weniger den Gerechten und seinen Saamen es an Brodt fehlen läst, v daß
30
wir uns bey geseegneten Bißen glücklicher als gemästeten Ochsen befinden.
31
Ich wünschte, v ich habe die Hofnung immer gehabt, daß Sie einen Entschluß,
32
den Sie schon so frühe gefast v. an den ich Sie jetzt nicht erinnern mag,
33
ausführen würden. Würden Sie nicht ruhiger leben können? Haben Sie an Ihren
34
Kindern nicht genung gethan, daß Sie selbige erziehen laßen? v. der
Welt
S. 114
Stadt zum Beste
rn
n im Großen genung gearbeitet. Sollten Sie sich nach
2
einem Stande nicht sehnen, wo Sie nicht von
z
so viel Leuten abhängen
3
dürfen, für deren Aufenthalt, Aufführung v. Geschicklichkeit sie arbeiten v
4
sich ärgern müßen, die sich selbst vielleicht mehr als Ihrem Herrn verdienen
5
v bisweilen mehr zerstreuen als einbringen? Wenn Sie jemandem alles
6
abtreten möchten, zu dem Sie Vertrauen hätten, würde der nicht andern die
7
Stange halten und bey Ihrem Namen sich die Gunst der Leute zu Nutz
8
machen v
s
Sie aller Verdrüßlichkeiten v entkräftender Geschäfte überheben
9
können. Sie scheinen mit demjenigen, der jetzt an Zinks Stelle getreten,
10
zufrieden zu seyn. Vergeben Sie mir, wenn mir dieser Plan jetzt noch möglicher
11
v. nöthiger scheint als Ihnen vor so viel Jahren. Ich glaube nicht, Sie
12
hiedurch beleidigt zu haben, daß ich mich dieser angenehmen Vorstellung eines
13
ruhigen Alters vor Ihnen so weit nachgehängt.
14
Meine liebe Mutter befindet sich GottLob gesund ich freue mich darüber; sie liebt
15
mich noch, ohngeachtet sie nicht an mich schreibt. Sie wird mir wenigstens bald
16
einen Aufsatz von Leinwand schicken, den ich hier noch wo es mögl. lieber als
17
später zu erhalten wünschte. Herr
Vernizobre
muß schon abgegangen seyn; ich freue
18
mich auf alle die Antworten, die er mir auf meine Fragen wird geben können.
19
Es ist mir lieb, daß mein Bruder fleißig ist. Ich werde ihm selbst ein paar
20
Worte beylegen. Die Gelegenheit eilt zum Abbruch. Ich habe zu einer
21
außerordentlichen Zeit schreiben müßen; weil selbige unvermuthet sich findt v bald
22
abgehen wird.
23
Gott schenke Ihnen Herzlich geliebteste Eltern, beyderseits Gesundheit. Wir
24
Meyhof
Gutsbesitz der v. Wittens; wohl Meijas muiža (Maihof) in Jelgava/Mitau, Lettland [56° 39’ N, 23° 42’ O]
möchten vielleicht, so bald Ihre Excell. zu Hause können, nach Meyhof gehen;
25
Mietau
heute Jelgava, Lettland [56° 39′ N, 23° 43′ O] (40 km südwestlich von Riga)
addressi
ren Sie ihren Brief nach Mietau auf sicherste: abzugeben bey des HE.
26
D. Lindners
HochEdelgeb. Lieben Sie mich, beten Sie, aber sorgen Sie nicht
27
für mich. Ich empfehle mich Ihnen mit einem tausendmaligen Handkuß v
28
bitte alle gute Freunde auch die Jgfr. Degnerinn zu grüßen. Mit der
29
kindlichsten Hochachtung nenne mich Ihren gehorsamst ergebensten Sohn.
30
Johann George Hamann.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (28).
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, I 69 f.
ZH I 113 f., Nr. 45.