416
S. 112
Kgsb. den 5
Oct.
74.

2
Mein lieber Hartknoch!

3
Das Ding ging
so
zu. Ich kam gestern Abend um 6 Uhr nach Hause
entre

4
chien et loup
und ich hatte den ganzen Tag so viel geschrieben, daß das Licht

5
meiner Augen auch halb erloschen war. So bald ich in meine Stube trat

6
fand ich mein Hänschen auf dem Schooß der Mutter im Flußfieber, und

7
erfuhr, daß er immer nach mir gefragt hatte, und daß mir HE
Laval
einen Brief

8
zugeschickt hatte mit einer Bestellung, auf die ich nicht recht Achtung gab, und

9
nach meiner Art das, was ich nicht verstund, auslegte, und ein
Advocat
der

10
mir fast ganz unbekannt war, ein großes
Billet.
Ich stritt mich über den

11
Namen des
Advocaten
und erkannte Ihre Hand auf dem
Couvert.
Ich fühlte

12
eine Einlage, und seegnete meinen Hartknoch, der mir so
promt
antwortete

13
und mich nicht so hündisch wie Hinz und Bode begegnete. Unter diesen

14
Gedanken riß ich an dem Siegel, ärgerte mich über meine Ungeschicklichkeit, kam

15
zu meinem Zweck und an statt eines Einschlußes an Herder, wie ich dachte,

16
fiel mir ein halb gedrucktes und geschriebnes
Billet
in die Hände, deßen

17
Sprache mir zwar bekannt aber der
Styl
gar fremde war. Ich schrie wie die

18
Israeliten:
Man hu! Man hu!
was ist das? und dem glaubwürdigen

19
Zeugniße meiner Hausmutter zufolge, ha
ben
t
mir
das Paar meiner kleinen

20
Augen in meinem Gesichte, wie zwey Neben Monde am Firmament des

21
Himmels gestarrt. „Mein Gott! Der Brief wird nicht an Sie seyn. HE
Laval
ließ

22
ja sagen, daß Sie unter Ihrem
Couvert
wieder zuschicken möchten“ – Da war

23
ich erst so klug nach dem
Couvert
Aufschrift zu sehen und laß gantz deutlich

24
was geschrieben stand!
C
---- 
R
 – 
z
 – 
B
 – – – Ha! dachte ich –
bist Du nicht

25
ein Geistlicher in Schwaben
? Volle
r
Aergernis und Schaam versteckte den

26
Brief samt seinem Eingeweide an einen sichern Ort
und
ohne einen

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Buchstaben gelesen zu haben. Hierauf gieng ich zu dem großen
Billet
des

28
Unbekannten
Advocaten,
der aus Vertrauen auf meine
edle Denkungsart

29
mich
und
ein
Capital
von 1000 rth auf einen Wechsel
à
6
p
% auf Jahr und

30
Tag für sn Vater
sub hypotheco omnium bonorum,
die sämtlich

31
schuldfrey
wären ersuchte. Dieser Umstand nöthigte mich noch denselben Abend

32
nach der Stadt zu laufen; aber der Gang war vergebens; und ich kam müde

33
über die Ebentheuer deßelben nach Hause, um ein Butterbrodt zu eßen.

34
Hierauf setzte ich mich wieder um dem Consistorial Rath u Gevatter zu

35
Bückeburg alles zu beichten und erwarte seine
Absolution
mit erster Post;

36
weil ich mein Sünden Maaß voll gemacht und meine Neugierde mit aller

S. 113
Gemächlichkeit befriedigt. Denn hätte ich es nicht gethan; so hätte ich nicht

2
das Vergnügen gehabt meinen zärtlichen Verleger und Ehmann in seinem

3
Tete a-tete
zu belauschen, mit seinem Autor und Jochbruder. Was ihr euch

4
da für schöne Sachen von Euren Weiberchen und Mütterchen schreibt! Wie

5
voller Geigen
e
Euer Himmelbette hängt! – Wenn meine Sibylle nur erst

6
mit ihrem kleinen Versuche über die Ehe
à la Wilkes
fertig wäre. – – – Ueber

7
einen oder 2 Bogen läst sich gar nicht aushalten weder im Lesen noch

8
Schreiben, wie ich den
Ton
Bogen ge
faßt
spannt habe.

9
Gleichwie die Fr. Cons. R. zu Bückeburg ein halb Jahr vor dem 29
Aug. c.

10
für eine Maschiene sorgte den schönen Springbrunnen für ihren kleinen

11
Christian in Gang zu bringen – und Monathe zuvor Hemdchen und Häubchen

12
zuschnitt
utriusque generis
um auf jeden Fall gefaßt zu seyn; und gleichwie

13
M
e
Hartknoch
dergl. Zerstreuungen bald nöthig haben wird, und Vater und

14
Mutter, Brüder und Schwester einmal ganz zu vergeßen: eben also freut sich,

15
meine Muse, die alte Sibylle ihren kleinen Versuch von 1½ Bogen klein

16
Octav gedruckt zu sehen. Das Format wie das kleine naseweise witzige Ding:

17
Ueber die Ehe
: auch eben die Lettern und Einfaßung. Der Titel aber nicht

18
schwarz
und
roth
– pfuy! sondern in französischer Pracht und was man

19
sagt
nennt:
or et azur.

20
Mein lieber junger Ehmann! Ich bin allemal in übler Laune, wenn ich so

21
baroque
schreibe. Scherz bey Seite. Der Aufbruch des Briefes ist in aller

22
Unschuld geschehen, aber das Durchlesen mit allem Fleiß. So sehr mir das

23
erste leid gethan; so zufrieden bin ich mit dem letzten. Besonders wegen des

24
Projects
unsern Freund zu verpflantzen. Ich habe mich über diesen
Punct

25
nicht gantz deutlich erklären können gegen unsern Gevatter zu Bückeburg.

26
Aber Sie haben den Ungrund der Hartm. Bemühungen rein gnug aufgedeckt.

27
In dem jungen Mann liegt ein
Klotz
und
Comp in folio.
Ich habe nur vorige

28
Woche einen Brief von ihm an unsern
Kant
gelesen und se.
tolle

29
Ankündigung des Fuldaschen Wurzelbuchs in der Mitauschen Zeitung.
Sapienti sat.

30
Artig wäre es von Ihnen gewesen, daß Sie mir auch ein paar Zeilen

31
geschrieben hätten, weil sie die fröliche Botschaft von des kleinen Herders glückl.

32
Ankunft durch meinen Einschluß erhalten haben; und mein prosaischer

33
Abschied so wie der poetische des alten
Candidaten Theol.
einem
Verleger
nicht

34
ganz gleichgiltig seyn sollten, dem an Gottes Seegen und dem fernern Dienst

35
der Prosa und Poesie gelegen ist.

36
Es ist immer etwas, was mich noch abhält mich über unsers Freundes

37
Autorschaft
zu erklären. Da selbige aber in sein Schicksal Einfluß zu haben

S. 114
scheint; so hab ich ihn vor der Hand gebeten darüber mit sich selbst zu Rathe

2
zu gehen, weil ich nicht mehr sagen kann, als ihm sein
Gewißen
schon sagt

3
und er selbst einsieht und mir berichtet. Schaffen Sie mir ja die mir noch

4
fehlende
Corpora Delicti
seiner Autorschaft, damit ich das
Gantze
übersehen

5
kann. Ohngeachtet ich keine Zeit und Kräfte habe zu denken; so denke ich doch

6
und arbeite wie ein Apelles hinter der Wand; oder wie ein Bergknapp unter

7
der Erde.

8
Seyn Sie also wegen Ihres ausgehandelten Briefes unbesorgt. Ich habe

9
ihn samt sn.
Intestinis
unter mein
Couvert
verwahrt und will alles HE
Laval

10
zu weiterer Bestellung überbringen. Ich umarme Sie und bitte ja für die

11
Corpora Delicti
zu sorgen. Sollte ich selbige hier ehe finden; so werde Ihnen

12
sogl. Nachricht davon mittheilen. Antworten Sie mir nach Ihrer

13
Gemächlichkeit und Gott schenke uns bald
Ostern
wo ich Ihnen werde mehr sagen

14
können. Empfehlen Sie mich dem Andenken Ihrer lieben Gemalin, als Ihren

15
alten Freund Hamann.

16
Kanter
hat diesen Sonntag einen jungen Sohn taufen laßen und nimmt

17
es Ihnen übel keine Zeile von Ihrer Veränderung erhalten zu haben. Ich

18
habe ihn versichert, daß Sie in Jahr und Tag ein gantz anderer Mann seyn

19
würden, von dem Freunde und Feinde sich alle
égards
würden versprechen

20
können, die man im Handel und Wandel nur mit Grund und Fug von

21
einander fordern kann. Er ist mit dem Grundriß einer Papiermühle beschäfftigt,

22
die er anlegen will. – –

23
Erinnern Sie doch Hintz, daß er ein
Exemplar
der neuen Auflage von der

24
Lettre perdue
nach B… besorgt und vergeßen Sie nicht das
Dictionnaire des

25
Finances.
Ich werde wol vor Ostern nicht nöthig haben an Sie zu schreiben;

26
es sey etwa Ihnen vom Empfang der Herderschen Schrifften Nachricht zu

27
geben, nach denen meine Ungedult groß ist.
Wagner
hat mich versichert, daß

28
sie alle unter Weges wären. Ist dies wahr, so kann ich wol auf das mir

29
zugedachte
Exemplar
von jedem nach Ihrer Bequemlichkeit warten. Da ich den

30
Anfang zu dem kleinen Versuch gemacht habe, so möchte ich gern mit fertig

31
werden; möchte Ihnen aber am liebsten die Handschrift davon hier

32
einhändigen. Muß Ihnen
aber
zum voraus sagen, daß er so klein als möglich

33
gerathen dörfte. Die Muße zu den hierophantischen Briefen kann ich bey meiner

34
gegenwärtigen Verfaßung gar nicht absehen; und von den
Prolegomenis

35
Zacchaei
erfahre kein Wort. Vielleicht werden
S
sie im Meß-
Catalogo

36
angekündigt stehen.

37
Ihr
Name
wird kaum vor dem kleinen Versuch stehen können, doch ich bin

S. 115
noch zu weit vom Ziel. Vorigen Sonntag habe 2 Perioden gemacht, die noch

2
nicht fertig sind, und ich habe die Sonntage zu dieser Arbeit ausgesetzt.

3
Nun leben Sie wol. In Eil.


4
Adresse mit Mundlackrest:

5
à Monsieur / Monsieur Hartknoch / Marchand-Libraire / à /
Riga
. /

6
par fav
.


7
Vermerk von Hartknoch:
HE Haman in Königsberg. Empf.
d.
29
Sept
1774.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 5.

Eine fragmentarische Abschrift des Briefes wird aufbewahrt in: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Wittenberg, Signatur 232_4603a.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 97 f.

ZH III 112–115, Nr. 416.

Zusätze fremder Hand

115/7
Johann Friedrich Hartknoch

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
112/29
und
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1957):
lies vermutlich
um
statt
und

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
lies vermutlich
um
statt
und