369
S. 481
Zum Hintergrund des Briefes vgl. die Vorbemerkung des ersten Herausgebers Emil Gottfried Herder in
Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild,
Bd. 5, S. 58f.: „Dieser Brief fand sich zerrissen unter Herder’s Papieren aus damaliger Zeit, und scheint von ihm verschoben, dann später wieder aufgefunden, als nicht mehr zeitgemäß zerrissen worden zu seyn. Ich glaube denselben hier um so mehr mittheilen zu müssen, als die Briefe, welche Herder in der letztern Zeit an Hamann geschrieben hat, leider fehlen und man aus den Hamann’schen Briefen der letztern Zeit vielleicht schließen könnte, als sey zwischen beiden Freunden eine Erkältung eingetreten, was aber der vorliegende Brief auf das bündigste widerlegt, so wie er auch noch außerdem für die Charakteristik Herder’s nicht unwichtige Data enthält.“
Nantes

2
An seinen Freund Hamann

3
Sie werden einen Brief von mir empfangen haben, den ich als einen

4
posthumum
nachließ. Nachdem ich Stadt u. Kirche gesegnet
hatte
, nachdem

5
ich Stadt und Vorstadt mit dem letzten Gruße durchcaroßirt hatte, verschloß ich

6
mich u. gab meine letzten Augenblicke in Riga 2. oder 3. lebendigen Freunden,

7
meiner Mutter u. Ihnen.

8
Rückzug aus Riga
von den Ämtern an der Domschule und als Pfarradjunkt sowie aus der Stadt überhaupt
Es wird nicht lohnen, Sie über meinen Rückzug aus Riga aufklären zu

9
wollen. Ein philosophischer Humour und oft ein sophistischer Spleen, wie der

10
Ihrige, weißagt sich selbst Gründe, u. noch mehr läßt sich schwerlich andre

11
sagen. Hier sind indeßen die, die ich in mir entwickle.

12
Nichts ist in der Welt peinlicher, als zu groß für seine Sphäre zu scheinen

13
u. zu klein für dieselbe zu seyn, und das war der Fall mit mir; das gab

14
Contrarietäten zwischen mir u. meinen Ämtern, zwischen den Ämtern an sich

15
selbst, u. mit andern Sachen. Ich fühlte den Anfang einer
Falte
meines

16
Geistes, die ich zerstören wollte. Ich fing mich an, wie eine verstümmelte Büste zu

17
fühlen, wenn ich in den ewigen Kreis meiner Beziehung hätte eingeschloßen

18
bleiben sollen. Ich sahe, daß gewiße Jahre zu nutzen wären, die nicht

19
wiederkommen. Ich sahe, daß ich überraschen müste, oder ich bliebe sitzen. Ich thats.

20
Ich überraschte – – Stadt, Kirche, Magistrat, nahm Abschied, und traf den

21
Punkt,
da mich die Thränen u. Wünsche aller begleiteten, u. man, aus einer

22
Sympathie für die Jugend, in die ich mich stellete, u. in der man mich selbst

23
bisher nicht gesehen hatte, mich mit Regungen beschenkte, die wenigstens

24
uneigennütziger sind als Geschenke. Ich stürzte mich aufs Schiffe, ohne Musen,

25
Bücher u. Gedanken, wie wenn ich in Bett u. Schlaf sänke, u. habe also die

26
ganze 6. Wochen meiner langen, stillen, sanften u. recht Poetischen Reise nichts

27
anders können, als Träumen – aber glauben Sie, mein H., Träume nach

28
einer so schleunigen Veränderung, auf einmal wie in ein andres Land, u.

29
Element geworfen, von Geschäften, Welt u. Narrheiten verlaßen, die uns

30
belagerten, blos sich, dem Himmel u. dem Meer übergeben – o Freund da lehren

31
uns Träume von 6. Wochen mehr, als
Jahr
h
e
von Bücherreflexionen u. von

32
Hamannischen Pastoralschreiben
wohl Ermahnungen Hamanns über Herders unkluges Verhalten in der Auseinandersetzung mit
Christian Adolph Klotz
wie in
HKB 357 ( II 435/8 )
Hamannischen Pastoralschreiben.

33
in weniger, aber vertrauter Gesellschaft
ein Mr und eine Mme Babut, vgl.
HBGA
, Bd. 11, S. 154
Jetzt bin ich in Nantes, wo ich in weniger, aber vertrauter Gesellschaft,

34
französische Sprache Sitten u. Denkart kennen lerne – – kennen, aber nicht

35
annehmen lerne; denn ich entferne mich immer mehr, je näher ich sie sehe.

36
Jüngling
ein junger schwedischer Kaufmann namens Koch, vgl.
HBGA
, Bd. 11, S. 157
Einen Jüngling aus dem Nordischen Gothlande habe ich hier gefunden, den

S. 482
ich erleuchte, u. mit dem ich oft in einem schönen Walde, deßgleichen ich noch

2
nie gesehen den Musen opfere. Er kannte mich durch meinen Namen u. hat

3
verrathen
als Autor geoutet
mich hier verrathen.

4
Tristramsche Meinungen
Anspielung auf
Sterne,
Sentimental Journey
Mein Journal der Reise ist noch zu jung und meine Tristramsche

5
Meinungen, die den Mangel der Denkwürdigkeiten ausfüllen müßen, zu unreif u.

6
also nothwendig noch zu zahlreich, als sie schreiben zu können. Wenn Ihnen

7
ein neues großes Caos von Buch zu Händen kömt:
les Saisons
so
dür
verderben

8
Sie nicht die Zeit mit dem Gedicht; lesen Sie aber die Anmerkungen. Manche

9
von ihnen sind in dem Philosophischen Geist, der jetzt in Frankreich herrscht u.

10
Fabeln des Sadi
Saint-Lambert,
Les saisons
, Auflage 1771, Fables orientales. Préface de Saadi, S. 121-198.
Journal étrang.
Journal étranger
da ich die Fabeln des Sadi, wie sie hier gesondert sind, im
Journal étrang.

11
gelesen, da der Verf. sich als Encyklopädist verräth u. aus andern Gründen:

12
d’Arnauld
François Arnaud
so halte ich
d’Arnauld
für den Verfaßer.

13
der König die Ostind. Komp.
Französische Ostindische Kompanie, 1642 von Richelieu begründet, ausgestattet mit einem Monopol für den Handel mit Indien; wegen hoher Verluste 1769 aufgelöst
Hier ist das wichtigste, daß der König die Ostind.
Komp.
aufgehoben:

14
wollen Sie die darüber gewechselten Schriften lesen: so haben Sie des Abbts

15
Morellets Memoire sur la situation actuelle de la Comp. des Ind.
zuerst u.

16
Necker u. den Grafen Lauraguais
Jacques Necker
:
Réponse au mémoire de M. l’abbé Morellet, sur la Compagnie des Indes
(Paris 1769) und Louis-Léon-Félicité Comte de Lauraguais (1733–1824, frz. Literat):
Mémoire sur la Compagnie des Indes, dans lequel on établit les droits et les intérets des actionnaires. En réponse aux compilations de M. l’abbé Morellet
(3 Bde., 1770)
als die Hauptschrift, u. seine beiden Gegner
Necker
u. den Grafen
Lauraguais

17
Preisaufgabe in Orleans
von 1769; dt.: Welchen Vorteil hätte ein Königreich, das als erstes seinem Handel vollkommene Freiheit wiedergeben würde?
zu lesen. Ohne Zweifel ist die Preisaufgabe in Orleans:
quel seroit l’avantage

18
d’un Royaume, qui rendroit le premier à son commerce une liberte

19
complette
u. wie es weiter heiße, die Folge davon, nach der löblichen Gewohnheit

20
der Franzosen jede That Ihres Monarchen auf alle Weise zu verewigen.

21
Die Abhandlungen des
Journal étranger
sind besonders gedruckt in 4.

22
Variétés literaires et amusantes
François Arnaud, Jean Baptiste Antoine Suard (Hg.):
Variétés littéraires ou Recueil de pièces tant originales que traduites, concernant la philosophie, la littérature et les arts
(4 Bde., Paris 1768/69)
Theilen unter dem Titel
Variétés literaires et amusantes,
u. wenn Sie jenes nicht

23
Diderots Richardson
Diderot,
Lettres angloises
gelesen haben, so müßen Sie dies lesen. Ich habe Diderots Richardson, die

24
Abhandlung über die Chevalerie
Charles Jarvis:
Some account of the rise, progress and continuance of Chivalry. Essai sur la naissance, les progrès et la dureé de la Chevalerie, traduit de l’Anglais par M. Suard
, in:
Journal étranger
, August 1761, Article I, S. 5–34
Allgarotti über Horaz
Francesco Algarotti
:
Essai sur la vie d’Horace,
in:
Journal étranger
, April 1761, S. 137–174
Abhandlung über die Chevalerie, Allgarotti über Horaz eine sehr scharfe

25
Bollinbrocke
Henry Saint-John, Lord Bolingbroke
;
Observations sur la Correspondance littéraire de Milord Bolingbroke, ses Ouvrages politiques, et ses Papiers sur différens sujets, avec l’examen des causes et des progrès de sa reputation
, in François Arnaud, Jean Baptiste Antoine Suard (Hg.):
Variétés littéraires
, Bd. 1
Wägung des Bollinbrocke, das Mark der D. Blairs über Oßian, schöne Stücke

26
aus dem Italienischen u. überhaupt Aussichten über die Litteratur

27
verschiedener Völker, Zeiten, Sitten u. Studien angetroffen, die mir zumal auf

28
französischem Boden sehr neu u. gründlich geschienen.

29
Ich bin an der Encyklopädie, die ich mit Dichtern ablöse: und kurz das alles

30
lebendig an der Nation zu lernen suche, was ich nur immer im Buchstaben gelesen.

31
Ich bin wie durch den Wurf des Schicksals hiehergekommen: es wird mich wieder

32
herausführen, u. ich werde sehen, wozu die Bahn durch Frankreich nützte.

33
Könnte ich nur einen Freund finden, u. Muße gewinnen, u. Geld erbeuten, um

34
durch Italien, England u. Deutschland reisen u. wandern zu können, wie ich wollte.

35
Wenn Ihr Bruder todt ist, wie ichs wünsche aber nicht hoffe: so geben Sie

36
mir tausend Thaler von einer Erbschaft, die Sie nicht brauchen, ich aber sehr

37
nöthig habe, u. nur von Ihnen annehmen würde.

S. 483
Gott befohlen, mein lieber Hamann. Ich liebe Sie unter dem französischen

2
Himmel u. hoffe Sie unter dem Preußischen zu umarmen.

3
Herder.

4
Ich bin heute geädert: morgen purgire ich: und übermorgen geschieht die

5
Operation an meinem Auge, förmlich u. wie ich hoffe glücklich: daß also wenn

6
dieser Brief zu Ihnen kommt, ich, wo es sey, wenigstens mit zwei Augen zu

7
sehen hoffe. Noch habe ich Sie auf ein Buch aufmerksam zu machen, das ich

8
von Herzen gern ganz lesen wollte:
Raccolta di lettere sulla pittura

9
scultura et archittetura da piu celebri personnaggi dal secolo XV. al XVII.

10
Michel Angelo
Michelangelo Buonarroti (1475–1564), italienischer Renaissancekünstler
Caracci
Annibale Carracci (1560–1609), italienischer Barockmaler
Rosa
Salvator Rosa (1615–1673), italienischer Maler
Ich habe Michel Angelo, Caracci, Rosa u. a. in allem ihrem Geist u. Feuer

11
darinn gefunden, nach den wenigen Briefen, die ich daraus gelesen.

Veränderte Einsortierung

Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert, sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 364 und 365.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 74.

Bisherige Drucke

Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Zweiter Band, erste Abtheilung. Erlangen 1846, 59–63.

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 62–64.

ZH II 481–483, Nr. 369.

HBGA I 164–166, Nr. 71.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
481/15
Falte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Falte
481/21
Punkt,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Punct,
481/31
Jahr
h
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jahre
482/7
so
dür
verderben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
so verderben
482/13
Komp.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Comp.