369
S. 481
Nantes

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An seinen Freund Hamann

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Sie werden einen Brief von mir empfangen haben, den ich als einen

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posthumum
nachließ. Nachdem ich Stadt u. Kirche gesegnet
hatte
, nachdem

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ich Stadt und Vorstadt mit dem letzten Gruße durchcaroßirt hatte, verschloß ich

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mich u. gab meine letzten Augenblicke in Riga 2. oder 3. lebendigen Freunden,

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meiner Mutter u. Ihnen.

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Es wird nicht lohnen, Sie über meinen Rückzug aus Riga aufklären zu

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wollen. Ein philosophischer Humour und oft ein sophistischer Spleen, wie der

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Ihrige, weißagt sich selbst Gründe, u. noch mehr läßt sich schwerlich andre

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sagen. Hier sind indeßen die, die ich in mir entwickle.

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Nichts ist in der Welt peinlicher, als zu groß für seine Sphäre zu scheinen

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u. zu klein für dieselbe zu seyn, und das war der Fall mit mir; das gab

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Contrarietäten zwischen mir u. meinen Ämtern, zwischen den Ämtern an sich

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selbst, u. mit andern Sachen. Ich fühlte den Anfang einer
Falte
meines

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Geistes, die ich zerstören wollte. Ich fing mich an, wie eine verstümmelte Büste zu

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fühlen, wenn ich in den ewigen Kreis meiner Beziehung hätte eingeschloßen

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bleiben sollen. Ich sahe, daß gewiße Jahre zu nutzen wären, die nicht

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wiederkommen. Ich sahe, daß ich überraschen müste, oder ich bliebe sitzen. Ich thats.

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Ich überraschte – – Stadt, Kirche, Magistrat, nahm Abschied, und traf den

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Punkt,
da mich die Thränen u. Wünsche aller begleiteten, u. man, aus einer

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Sympathie für die Jugend, in die ich mich stellete, u. in der man mich selbst

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bisher nicht gesehen hatte, mich mit Regungen beschenkte, die wenigstens

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uneigennütziger sind als Geschenke. Ich stürzte mich aufs Schiffe, ohne Musen,

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Bücher u. Gedanken, wie wenn ich in Bett u. Schlaf sänke, u. habe also die

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ganze 6. Wochen meiner langen, stillen, sanften u. recht Poetischen Reise nichts

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anders können, als Träumen – aber glauben Sie, mein H., Träume nach

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einer so schleunigen Veränderung, auf einmal wie in ein andres Land, u.

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Element geworfen, von Geschäften, Welt u. Narrheiten verlaßen, die uns

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belagerten, blos sich, dem Himmel u. dem Meer übergeben – o Freund da lehren

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uns Träume von 6. Wochen mehr, als
Jahr
h
e
von Bücherreflexionen u. von

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Hamannischen Pastoralschreiben.

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Jetzt bin ich in Nantes, wo ich in weniger, aber vertrauter Gesellschaft,

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französische Sprache Sitten u. Denkart kennen lerne – – kennen, aber nicht

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annehmen lerne; denn ich entferne mich immer mehr, je näher ich sie sehe.

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Einen Jüngling aus dem Nordischen Gothlande habe ich hier gefunden, den

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ich erleuchte, u. mit dem ich oft in einem schönen Walde, deßgleichen ich noch

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nie gesehen den Musen opfere. Er kannte mich durch meinen Namen u. hat

3
mich hier verrathen.

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Mein Journal der Reise ist noch zu jung und meine Tristramsche

5
Meinungen, die den Mangel der Denkwürdigkeiten ausfüllen müßen, zu unreif u.

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also nothwendig noch zu zahlreich, als sie schreiben zu können. Wenn Ihnen

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ein neues großes Caos von Buch zu Händen kömt:
les Saisons
so
dür
verderben

8
Sie nicht die Zeit mit dem Gedicht; lesen Sie aber die Anmerkungen. Manche

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von ihnen sind in dem Philosophischen Geist, der jetzt in Frankreich herrscht u.

10
da ich die Fabeln des Sadi, wie sie hier gesondert sind, im
Journal étrang.

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gelesen, da der Verf. sich als Encyklopädist verräth u. aus andern Gründen:

12
so halte ich
d’Arnauld
für den Verfaßer.

13
Hier ist das wichtigste, daß der König die Ostind.
Komp.
aufgehoben:

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wollen Sie die darüber gewechselten Schriften lesen: so haben Sie des Abbts

15
Morellets Memoire sur la situation actuelle de la Comp. des Ind.
zuerst u.

16
als die Hauptschrift, u. seine beiden Gegner
Necker
u. den Grafen
Lauraguais

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zu lesen. Ohne Zweifel ist die Preisaufgabe in Orleans:
quel seroit l’avantage

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d’un Royaume, qui rendroit le premier à son commerce une liberte

19
complette
u. wie es weiter heiße, die Folge davon, nach der löblichen Gewohnheit

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der Franzosen jede That Ihres Monarchen auf alle Weise zu verewigen.

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Die Abhandlungen des
Journal étranger
sind besonders gedruckt in 4.

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Theilen unter dem Titel
Variétés literaires et amusantes,
u. wenn Sie jenes nicht

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gelesen haben, so müßen Sie dies lesen. Ich habe Diderots Richardson, die

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Abhandlung über die Chevalerie, Allgarotti über Horaz eine sehr scharfe

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Wägung des Bollinbrocke, das Mark der D. Blairs über Oßian, schöne Stücke

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aus dem Italienischen u. überhaupt Aussichten über die Litteratur

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verschiedener Völker, Zeiten, Sitten u. Studien angetroffen, die mir zumal auf

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französischem Boden sehr neu u. gründlich geschienen.

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Ich bin an der Encyklopädie, die ich mit Dichtern ablöse: und kurz das alles

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lebendig an der Nation zu lernen suche, was ich nur immer im Buchstaben gelesen.

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Ich bin wie durch den Wurf des Schicksals hiehergekommen: es wird mich wieder

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herausführen, u. ich werde sehen, wozu die Bahn durch Frankreich nützte.

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Könnte ich nur einen Freund finden, u. Muße gewinnen, u. Geld erbeuten, um

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durch Italien, England u. Deutschland reisen u. wandern zu können, wie ich wollte.

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Wenn Ihr Bruder todt ist, wie ichs wünsche aber nicht hoffe: so geben Sie

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mir tausend Thaler von einer Erbschaft, die Sie nicht brauchen, ich aber sehr

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nöthig habe, u. nur von Ihnen annehmen würde.

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Gott befohlen, mein lieber Hamann. Ich liebe Sie unter dem französischen

2
Himmel u. hoffe Sie unter dem Preußischen zu umarmen.

3
Herder.

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Ich bin heute geädert: morgen purgire ich: und übermorgen geschieht die

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Operation an meinem Auge, förmlich u. wie ich hoffe glücklich: daß also wenn

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dieser Brief zu Ihnen kommt, ich, wo es sey, wenigstens mit zwei Augen zu

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sehen hoffe. Noch habe ich Sie auf ein Buch aufmerksam zu machen, das ich

8
von Herzen gern ganz lesen wollte:
Raccolta di lettere sulla pittura

9
scultura et archittetura da piu celebri personnaggi dal secolo XV. al XVII.

10
Ich habe Michel Angelo, Caracci, Rosa u. a. in allem ihrem Geist u. Feuer

11
darinn gefunden, nach den wenigen Briefen, die ich daraus gelesen.

Veränderte Einsortierung

Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert, sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 364 und 365.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 74.

Bisherige Drucke

Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, […]. Hg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Zweiter Band, erste Abtheilung. Erlangen 1846, 59–63.

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 62–64.

ZH II 481–483, Nr. 369.

HBGA I 164–166, Nr. 71.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
481/15
Falte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Falte
481/21
Punkt,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Punct,
481/31
Jahr
h
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jahre
482/7
so
dür
verderben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
so verderben
482/13
Komp.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Comp.