299
325/11
Bester Freund,

12
Nehmen Sie Ihren Freund jetzo mit beiden Händen zurück: ich habe ihn

13
sieben halbe Monden
als Kollaborator, wie Jakob sieben Jahre Rahel, vgl.
1 Mo 29,18
von Ihnen bekommen – ich habe ihn genoßen; ich habe ihm sieben halbe

14
Monden gedienet: – u. siehe! da hast Du das Deine! –
Montag,
oder Dienstag

15
reist er ab; ich will ihn begleiten, u. habe ihn als Opferpriester gesegnet. –

16
Und einen andern statt seiner her: Lindner sagte in der Abschiedsrede: ich

17
wünsche
, daß er mir
einst
gleichkommen möge. Man hat es ihm übel

18
genommen; man wird es ihm vielleicht noch übler nehmen, wenn man ihn sehen

19
wird. Schlegel ist für unsere Schule, als Lehrer, betrachtet, besser, als sein

20
ästhetischer Vorgänger; aber als Direktor einer Domschule voll Domgebräuche

21
u. fauler Freiheiten, immer zu blöde im Denken, u. wollen, u. sprechen: u.

22
vor Riga, als Gesellschafter, als Schwätzer, als Prediger nichts. – Indeß

23
mit den Fersen stoßen
1 Mo 25,22
müssen sich solche 2. Antipoden oft mit den Fersen stoßen, damit eine würkl.

24
Sokratische Wehmutter
Sokrates
Sokratische Wehmutter Maasregeln nehmen kann, wie das Kind soll zur

25
Welt geboren werden.

26
Der beste Begriff, den man sich in der Abwesenheit, von einer Republick

27
wie Riga, macht, ist Chaos; ich lerne immer mehr, u. dieser Sommer wird,

28
wie ich hoffe, mir eine reichere Ernte Erfahrungen seyn können. Ich bin

29
Kandidat, u. zwar gegenwärtig der erste: der Collaborator hat auf den Candidaten

30
aufmerksam gemacht; der Candidat machte den Schullehrer bekannter.

31
Zweimal habe ich gepredigt, u. ich wünsche
mirs
das 3te mal – – immer als einen

32
frommen Zweck.

33
Rigisches Drama
die Aufführung der Schuldramen von
Johann Gotthelf Lindner
Ich habe, ohngeachtet meiner Begierde, doch kein Rigisches Drama sehen

34
können: u. meine Idee davon sinkt auch etwas. Es sind keine Akteurs nach

S. 326
Schuldiderot
Denis Diderot
dem
Zusta
Zuschnitt, den der
Schuldiderot
macht, u. er wird kein

2
Rikkoboni
Lodovico Riccoboni d. Ä. (1674–1753), ital. Schauspieler und Schauspieldirektor
Rikkoboni
für
S
sie gewesen seyn indessen sind diese Schuldram’s Riga

3
noch immer
angemeßener
, als Ihr Hohenpriester selbst in seinem 5ten Jahre.

4
HE.
Profeßor
Lindner läßt viel Gutes nach; das meiste hat seine

5
Bestrebsamkeit im Denken u. Handeln, u. etwas weniges sein Patriotismus gestiftet:

6
so lange der
Mann
Baum lebt, genießt das Publikum seiner Früchte, ohne

7
auf die Wurzel nachzugraben;
ist
wird er verpflanzt, so sieht man seine

8
Wurzel, u. riecht ihre Säfte eher. Da wird
s
man
mehr anatomirt, ob

9
der Baum mehr Anziehungs- oder Zurückstoßungskraft geäußert: ob er mehr

10
Mensch oder Bürger gewesen –
/
Als
Professor
der schönen Wissensch. ist er

11
mehr in seiner Sphäre, als in der Schule: nur seine Nordische Entfernung

12
hat ihm etwas von dem Modernen entzogen; doch selbst dies Antike ist vor

13
Mosaische Arbeit, als Hagedornsche Cabinetter
Mosaik- bzw. Dekor-Kunst vs. Malerei, hier repräsentiert vom Kunstsammler
Christian Ludwig von Hagedorn
.
Königsb. gut, wo man noch immer lieber Mosaische Arbeit, als Hagedornsche

14
Cabinetter sieht. Die hiesige Geschäftenfülle hat ihm unendl. Zerstreuungen

15
auf Kosten des
schönen Geistes
, u.
Philologen
; nie aber des

16
Schullehrers
gemacht. Königsberg wird ihn mehr samlen, aber auch mehr in

17
bürgerl.
Gesellschaften zerstreuen: u. überhaupt reiset er ins Vaterland, nicht

18
aber in das Land seiner Jugend. –

19
Seine Abreise, u. ihre unterbliebene Antwort ist die Ursache meines

20
bisherigen Stillschweigens gewesen: sezzen Sie noch die Fülle meiner Geschäfte

21
dazu, so ist Ihnen Drei statt eins – Ich will in diesem Briefe recht viel sagen,

22
u. fragen, um ihren Schlaf zu zerstreuen, u. ihnen wenigstens dabei zuruffen:

23
wenn er schläft
Lazarus,
Joh 11,12
wenn er schläft, so wirds besser mit ihm.

24
über ein Kleines
Hebr 10,37
Was machen Sie, da Sie weder Ihrem Freunde, der
j
über
ein Kleines zu

25
Journal
Korrespondenz
ihnen kommen wird, noch mir etwas melden: wie sehr ist unser Journal, u.

26
die Geschichte unsres Lesens in Stocken gerathen? Was macht Ihr Alter

27
Kurland
als Hofmeister, vgl.
HKB 298 ( II 324/20 )
Ehrwürdiger? was Ihr Gedank an Kurland? Was ihre Ruhe? was Ihre

28
Ansprüchen der Militz
vgl.
HKB 296 ( II 321/25 )
Aussichten? Ich habe von Ansprüchen der Militz auf Ihre Größe gehört –

29
Lazarus schläft
Joh 11,11
O wie viel haben Sie mir zu sagen, u. Lazarus schläft – Ich lebe abgesondert

30
von meinen Brüdern: u. auch hier wie unter
Fremden;
– Der Jüngste fängt

31
totus in illo
dt. alles in diesem
an, die Lücken zu füllen: das bin ich! – – Ich bin eine Zeitlang
totus in illo

32
gewesen: eine Menge meiner Lieblingsideen unter das Thema zu bringen,

33
wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner u. nützlicher werden

34
kann: besinnen Sie sich dieses Problems. Jetzo schreibe ichs ab, u. ich kann

35
Ihnen vielleicht mehr Winke davon nächstens geben. – –

36
Von gelesenen Sachen habe ich meistens unentbehrliche alte Neuigkeiten,

37
nachgeholt, die ich als Theolog
wißen
muß:

S. 327
Spalding
von den Gefühlen
hat im Grunde Recht, wenn er die

2
Erfahrungs
regeln
der Mystiker u. Pietisten bestreitet: u. es ist offenbar seine

3
schleichende Miene zu sehen, die auch den Satzungen der
Orthodoxen
nicht

4
zu nahe treten will, aber ohne Schleyer zu reden, sie wirklich einschränkt.

5
Allein auf Philosophie hätte er seinen Satz nicht bauen sollen; sondern auf

6
gesunden Menschenverstand: er hätte sich in vielen so genannten Nuancen u.

7
hingeworfenen Stücken mehr bestimmen sollen. Man muß ihn
ganz
kennen,

8
und selbst Prediger gewesen seyn, der Seelen sucht, wenn man über diese

9
Materie sich entschließen will. Ich bewundere weder seinen Schritt, da er das

10
zwischen Argerniß u. Thorheit
1 Kor 1,23
Kreuz Jesu mitten zwischen
Argerniß
u. Thorheit stellen will; noch seiner

11
Gegner, die nichts wider ihn sagen – aber die Kälte, mit der er schreibt; u. die

12
Hitze, mit der seine Gegner schreiben, um ihn nicht einmal der
kalten

13
Ueberlegung zu würdigen: Gott u. das bei der
wichtigsten
Materie: das ist

14
prakt. Xstentum
praktisches Christentum
erstaunend. Unser prakt. Xstentum kann hier von beiden Seiten Blöße leiden:

15
der Weg den er bestimmt ist allerdings oft Ärgerniß, oft Thorheit; der Weg

16
den er bestimmt, ist zu fein, u., verfliegt für das Gros der Christen –

17
Den
Göttingschen Prediger
p habe halb gelesen, u. sehr viel vortrefliches

18
in ihm gefunden. Tiefe Einsichten in die Seele (selbst von der unbekandten

19
Seite der Religion) einen Plan von Philosophie in der Religion, u. in die

20
Beredsamkeit reizen mich zum 2ten Lesen: u. alsdenn kann ich blos von den

21
Fehlern reden; jetzt bin ich von den Schönheiten verblendet. Die Schrift ist

22
für
Michaelis
zu Gedankenvoll, zu Philosophisch, zu genau in der Anlage;

23
der schreibt sonst weit
Populärer
, jagt den neuen Gedanken zu sehr nach,

24
indulget genio suo
dt. freut sich seines Genius (
Per.
saturae
, 5,151)
careßirt
sie von allen Seiten, u.
indulget genio suo.
Dieser mag vielleicht

25
Prof. Leß
Gottfried Leß
Kennicotschen Sache
Benjamin Kennicott
Prof.
Leß
seyn, den sie aus der
Kennicot
schen
Sache kennen werden. Ich

26
Joh. 17., 3. in den Göttingern
Leß,
Programma ad Johannem 17,3
, gedruckt auch in
Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen
vom 21.2.1765, 22. St.
habe leztens seine Erklärung über
Joh.
17., 3. in den Göttingern gelesen.

27
Das ist das ewige Leben, daß s. Dich erkennen, der Du allein (unter allen

28
Jesum Xst.
Jesum Christum
Göttern) der
wahrhafte
bist, weil Du Jesum Xst.(den versprochnen) gesandt

29
hast.

30
Verfaßer vom Baum des Erkenntnißes …
Fielding,
Der Baum der Erkenntniß des Guten und Boesen
Kennen Sie nicht den
Verfaßer
vom Baum des
Erkenntnißes
, Sittenlehre

31
des Teufels, der Herr u. Knecht u. einigen andern Stücken. Ein Mann von

32
rasender Einbildungskraft, unverschämter Dreustigkeit u.
Flüßigk.
der

33
Worte. Alle die Schriften, die ich anführte sind schlecht; sein
Zankapfel
über

34
den Baum p ist das, wo er sich am meisten zeigt. Er hat zu wenig Oriental.

35
u. Philol. Kenntniß, u. ist der Moses in Midian, u. die Dina von ihm (welches

36
Delphine
vgl.
Hor.
ars
, 30
ich aber nicht glaube) so schreibt ein Schulmeister, der Delphine in Wälder

37
mahlt.

S. 328
Lindauischen Nachrichten
Ausführliche und kritische Nachrichten
Die
Lindau
ischen Nachrichten
vergeßen
Sie doch nicht fortzusetzen –

2
Berlin
wohl von
Friedrich Nicolai
Recherches sur le Despotisme oriental
Boulanger,
Origine du Despotisme Oriental
Haben Sie aus Berlin keine Nachrichten
/
Ich habe die
Recherches sur le

3
Despotisme oriental
nicht bei Ihnen gesehen, ein Buch, worinn sie viel

4
unter
streichen
viel ausstreichen werden. – – – Und nun von meinem

5
Stundengeben 3. Worte
/
Ich habe wöchentl.7. Mädchens, nicht aber alle

6
Tage eine jede, sonst würde das zu sehr abmatten. – Unter Ihnen sind

7
2. v. Arndt Berens
Katharina Hedwig Berens (1754–1786)
der ältesten
Johanna Sophia Berens
auch die 2. v.
Arndt Berens
, davon Sie, wie ich höre, der ältesten den

8
ersten Gusto beigebracht haben: sie ist ein Kind von vielem Geist u. Feuer,

9
Ältesten Schwarz
Johanna Sophia Schwartz (1753–1800)
wie Vater u. Mutter. –
Bei
a
Altesten
Schwarz, habe ich auch eine sehr fleißige

10
Eva Berens
Eva Maria Berens (1726–1791)
u. muntere Schülerin; deren Mutter Sie als die
Eva
Berens
kennen

11
werden. Ich habe also Gelegenheit, mich nach der ganzen Berensschen

12
Familie zu erkundigen, u. kenne sie zum Theil die beiden unverheiratheten

13
Frauenzimmer wenigstens von Gesicht. – Sonst wird Ihnen Ihr Freund

14
hievon mehr erzählen können.

15
In der That ein gar zu langer Brief! Gott, hab ihn selig! – Antworten

16
cito, citius, citissime
dt. rasch
Sie mir doch
, bester Freund, bald, ehestens, nächstens
cito, citius, citissime
– u.

17
erwarten Sie alsdenn durch L. weitere Nachrichten. Ich bin Ihr

18
Riga d.
23
/
4
1765.
Herder


19
Vermerk von Hamann:

20
HE. Fischer
Carl Gottlob Fischer
Erhalten den 10 May durch HE.
Fischer.

Veränderte Einsortierung

Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert, sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 300 und 301.

Provenienz

Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 2).

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 12–15.

ZH II 325–328, Nr. 299.

Zusätze fremder Hand

328/20
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
325/14
Montag,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Montag
325/17
einst
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nicht
325/17
wünsche
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wünschte
325/31
mirs
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mir
326/3
angemeßener
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
angemessener
326/4
Profeßor
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Professor
326/10
/
]
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel.
326/24
j
über
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
über
326/30
Fremden;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Fremden.
326/37
wißen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wissen
327/10
Argerniß
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ärgerniß
327/24
careßirt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
caressirt
327/25
Kennicot
schen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Kennicott
schen
327/30
Erkenntnißes
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Erkenntnisses
327/30
Verfaßer
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Verfasser
327/32
Flüßigk.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Flüssigkeit
328/1
vergeßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vergessen
328/2
/
]
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel. ZH:
328/5
/
]
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel. ZH:
.
328/9
Bei
a
Altesten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Bei ältesten
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Bei
der
ältesten
328/16
Sie mir doch
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sie doch