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P. P.

3
Da Ew. Wolgeboren vielleicht der
erste
gewesen, der die Lavatersche

4
Fragmente durchgeblättert, und vielleicht der
einzige
sind, der solche im Lichte der

5
reinen Vernunft
d
zu durchschauen im stande ist: so würde ich nicht

6
ermangelt haben beyliegenden A-Stich, der mir von Dero Herrn Wirthe als

7
eine der glücklichsten Proben der Lavaterschen Kunst in Auflösung

8
physiognostischer Probleme vorigen Sonntag
entre chien et loup
eingehändigt

9
worden Ihnen vorzulegen. Ohngeachtet ich wider meine
Diaet
die ganze Nacht

10
schlaflos und mit Briefschreiben zugebracht hatte, so erschien ich doch gestern

11
Morgens einer mit Ihrem HE. Wirth genommenen Abrede zufolge in
i

12
seinem
Buch
Laden, ohne ihn zu Hause anzutreffen. Meine Schläfrigkeit

13
und der dadurch mir schwerer gewordene Posttag erlaubten mir das
Bureau

14
zu verlaßen und das Gesuch Ihres Bedienten zu befriedigen.
Allem

15
ohngeachtet machte ich mir noch g
Gestern Abend aber that ich den mühseeligen

16
Spatziergang nach Ew. Wolgebornen
in Ihrem
Garten
aufzusuchen.

17
auch
umsonst

18
Diese Nacht hab ich
der
meiner trägen Natur den kleinen Rückstand ihres

19
trägen
Tributs
ehrlich abgetragen und Gott Lob! wacker aus und

20
übergeschlafen. Meine erste Arbeit ist Ew. Wolgebornen Neugierde
in Ansehung

21
des Shandi-
Lavater
schen A
Stiches
zu
befriedigen
beantworten, wiewol

22
selbige kaum selbst
wenig
eigentl. dabey
interessi
rt seyn kann, weil Ihr Herr

23
Wirth mich mit seinem ihm leider so geläufigen und zu seiner Zeit nicht

24
un
er
gehört bleibenden: Straff mich Gott! versichert, daß Dieselben
der erste

25
gewesen, der
vorzüglich über die
frappante
Gleichförmigkeit des

26
physiognostischen A–Stiches mit dem
Original
wenigstens sein Erstaunen bezeugt

27
haben soll.

28
Da ich aus meinen
natürlichen
Ohren vor dem Publico kein Geheimnis

29
machen kann, weil mir schon leider! seit Jahr und Tag 3 rth zu einer neuen

30
Perücken fehlen: so möchte ich es doch nicht gern auf eine Probe aussetzen,

31
aus Ihres Herrn Wirths
Luculli
schen
Hor. Lib. I Ep.
6 u Leipziger
Apparatu

32
meine
Organa sapientiae
wie Freund Lauson
und Ihre Blöße
zu

33
bedecken, als
wie (zum Exempel) mein Freund Lauson zu bedecken.

34
Was mein geistliches oder symbolisches Ohr betrifft; so kann ich es freylich

35
ohne Undank gegen die gütige und freygebige Natur nicht verbergen, daß ich

36
in der Gabe zu hören alle meine Freunde und Vertraute ziemlich übertreffe

S. 199
und daher würklich das unsichtbare
organon
dieses Sinns um einige Zoll

2
länger und ein gut Theil spitziger vermuthe, als es von dem
A
Stecher

3
St. Lips.
nachgezeichnet und nachgestochen worden – und daß ich für die ewige

4
Leyer der reinen Vernunft und des schönen und erhabenen Geschmacks ein

5
noch gröberer
Asinus
seyn werde als es dem symbolischen A–Stich bis
dato

6
anzusehen ist.

7
Im Grunde ist aber der ganze freundschaftliche
Wink
Hieroglyphe
über

8
meiner
erkünstelten
und mehr
affecti
rten
als der
wie meiner unsichtbaren

9
Natur angemeßenen Grobheit
und
oder Freyheit ein

10
Schusterjungen-Einfall
, der die Anmerkung des weisen Horatz bestätigt:

11
Naturam expellas furca; tamen usque recurret

12
Et mala perrumpet
furtim
fastidia
victrix
.

13
Lib. I. Ep. X. v.
24. 25.

14
Wer mit einer
so faulen
und
concreten
Methode mich abzuschrecken zu

15
widerlegen u sich zu decken meynt, wird sich
in fine
betrogen finden. Weil ich

16
aber mit Pfriemen nicht umzugehen weiß: so soll mein
gemiethet Scheer

17
Meßer
noch manchen unversehrten Wangenbart in die Glut heiliger

18
Gesänge versetzen.

19
Des berühmten
Cicisbeo
freche Lügen,
anatomi
sche Mordgräuel,

20
Auswüchse am Ende der meinigen, reiche Werke des guten Geruchs sollen in einer

21
Kupferplate erscheinen, de
ßen
ren Ausgabe ich meinen neu erworbenen

22
Freunden
Zimmermann
und
Lavater
zu überlaßen denke.

23
Dieser Nationalzug der philosophischen und moralischen
Canaille
verklärt

24
mir vollends mein
es
verwünschten
Vaterland
s
,
absolvi
rt
und

25
gereicht fast zur
Absolution
beynahe
meine
n
s Vetter
Nabal
zu Böhmisch

26
Breda und seine siechen
Consorten
und Nachbarn. Mein Vetter
Nabal
soll

27
für die
Gnade und
Ehre
, die er dem
Cicisbeo
meiner Landsleute und ihrer

28
schönen und braven Geister während seiner dortigen StaatsGeschäfte

29
erwiesen,
belohnt
einen Gotteslohn empfangen und ich werde getrost fortfahren

30
ein
Antipod
der weltberühmten preuß. National
Falschheit
und National

31
Höflichkeit
zu leben und obenein mir den Ruhm zuzueignen suchen die
se

32
Bon
um
a Naturae
aus andern,
vielleicht
beßeren Grundsätzen, zu

33
anderm, vielleicht
beßerem
Behuf anzuwenden – so wahr mir Gott helfe!

34
Amen.

35
Ich eile nunmehr mit eiskaltem Blute zur Fortsetzung eines Versuchs, den

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ich am weiland grünen Donnerstage angefangen und seit dem Fest aufgegeben

37
hatte, wenn beyl. Eselsohr mir nicht zur Brücke würde meinen Weg

S. 200
gemächlicher zu verkürzen – So
muß
wahr ist es daß alles was aus Liebe kommt,

2
zu unserm Besten dienen muß.

3
Ich bitte mir
Einlage bitte mir noch heute zurück, weil ich gestern keinen

4
einzigen meiner Freunde habe auftreiben können, die hoffentlich
meiner philo

5
güldenen des
der Verwandlung meines
einzigen Ohres
rechten sich nicht

6
schämen werden, da sie sich bey
den
Philosophen
ad modum
Apulejus sich

7
weiter als auf ein recht Ohr erstreckte. Allen den Ihrigen steht
es
der

8
physiognostische A-stich ehstens nach Herzens Lust und
selbstbeliebiger Weile

9
zu Dienste und Geboth. Uebrigens habe die Ehre mit unveränderten

10
Gesinnungen zu verharren Ew Wolgeboren Meines HöchstzuEhrenden HE

11
Professor
ergebenster Freund und Diener

12
Am alten Graben
Johann Georg Hamann.

13
den 18
Julii
1775.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 73.

Bisherige Drucke

Kant, Werke [Akademieausgabe] XIII 73–75, vgl. 75 f.

Arthur Warda: Ein „rasendes und blutiges Billet“ von Joh. Georg Hamann an Imm. Kant. In: Euphorion 13 (1906), 497 f.

ZH III 198–200, Nr. 453.