453
198/2
P. P.
wohl für praemissis praemittendis (wörtlich ‚mit Vorausschickung des Vorauszuschickenden‘), in der Bedeutung von ‚anstatt eines Titels‘
P. P.
3
Lavatersche Fragmente
Lavater,
Physiognomische Fragmente
, Bd. 1 (1775), deren Lektüre Hamann bei Kant nur vermutet (er selbst hatte es noch nicht gelesen).
Da Ew. Wolgeboren vielleicht der
erste
gewesen, der die Lavatersche
4
Fragmente durchgeblättert, und vielleicht der
einzige
sind, der solche im Lichte der
5
reinen Vernunft
d
zu durchschauen im stande ist: so würde ich nicht
6
beyliegenden A-Stich …
Hamann legte dem abgesandten Brief offenbar einen Abzug jenes Porträts bei, den Kanter ihm am Sonntag zuvor aus Leipzig mitbrachte, vgl. zu
HKB 452 ( III 196/12 ). Das schwer zu deutende „A-Stich“ könnte wegen der ‚Eselsohren‘ für Asinus-Stich stehen.
Wirthe
Johann Jakob Kanter
ermangelt haben beyliegenden A-Stich, der mir von Dero Herrn Wirthe als
7
eine der glücklichsten Proben der Lavaterschen Kunst in Auflösung
8
physiognostischer Probleme vorigen Sonntag
entre chien et loup
eingehändigt
9
worden Ihnen vorzulegen. Ohngeachtet ich wider meine
Diaet
die ganze Nacht
10
schlaflos und mit Briefschreiben zugebracht hatte, so erschien ich doch gestern
11
Morgens einer mit Ihrem HE. Wirth genommenen Abrede zufolge in
i
12
seinem
Buch
Laden, ohne ihn zu Hause anzutreffen. Meine Schläfrigkeit
13
und der dadurch mir schwerer gewordene Posttag erlaubten mir das
Bureau
14
zu verlaßen und das Gesuch Ihres Bedienten zu befriedigen.
Allem
15
ohngeachtet machte ich mir noch g
Gestern Abend aber that ich den mühseeligen
16
Spatziergang nach Ew. Wolgebornen
in Ihrem
Garten
aufzusuchen.
17
auch
umsonst
–
18
Diese Nacht hab ich
der
meiner trägen Natur den kleinen Rückstand ihres
19
trägen
Tributs
ehrlich abgetragen und Gott Lob! wacker aus und
20
übergeschlafen. Meine erste Arbeit ist Ew. Wolgebornen Neugierde
in Ansehung
21
des Shandi-
Lavater
schen A
–
Stiches zu
befriedigen
beantworten, wiewol
22
selbige kaum selbst
wenig
eigentl. dabey
interessi
rt seyn kann, weil Ihr Herr
23
Wirth mich mit seinem ihm leider so geläufigen und zu seiner Zeit nicht
24
un
er
gehört bleibenden: Straff mich Gott! versichert, daß Dieselben
der erste
25
gewesen, der
vorzüglich über die
frappante
Gleichförmigkeit des
26
physiognostischen A–Stiches mit dem
Original
wenigstens sein Erstaunen bezeugt
27
haben soll.
28
Da ich aus meinen
natürlichen
Ohren vor dem Publico kein Geheimnis
29
rth
Reichstaler, eine im ganzen dt-sprachigen Raum übliche Silbermünze, entspricht 24 Groschen (Groschen: Silbermünze [ca. 24. Teil eines Talers] oder Kupfermünze [ca. 90. Teil eines Talers]; in Königsberg war der Kupfergroschen üblich; für 8 Groschen gab es ca. zwei Pfund Schweinefleisch)
machen kann, weil mir schon leider! seit Jahr und Tag 3 rth zu einer neuen
30
Perücken fehlen: so möchte ich es doch nicht gern auf eine Probe aussetzen,
31
aus Ihres Herrn Wirths
Luculli
schen
Hor. Lib. I Ep.
6 u Leipziger
Apparatu
32
Organa sapientiae
dt. Werkzeuge der Vernunft
meine
Organa sapientiae
wie Freund Lauson
und Ihre Blöße
wie (zum Exempel) mein Freund Lauson zu bedecken.
34
Was mein geistliches oder symbolisches Ohr betrifft; so kann ich es freylich
35
ohne Undank gegen die gütige und freygebige Natur nicht verbergen, daß ich
36
in der Gabe zu hören alle meine Freunde und Vertraute ziemlich übertreffe
S. 199
und daher würklich das unsichtbare
organon
dieses Sinns um einige Zoll
2
länger und ein gut Theil spitziger vermuthe, als es von dem
A
–
Stecher3
St. Lips
Johann Heinrich Lips
fertigte Kupferstiche für
Lavater,
Physiognomische Fragmente
an, auch den
später bekannten von Hamann
.
St. Lips.
nachgezeichnet und nachgestochen worden – und daß ich für die ewige
4
Leyer der reinen Vernunft und des schönen und erhabenen Geschmacks ein
5
Asinus
dt. Esel
noch gröberer
Asinus
seyn werde als es dem symbolischen A–Stich bis
dato
6
anzusehen ist.
7
Im Grunde ist aber der ganze freundschaftliche
Wink
Hieroglyphe
über
8
meiner
erkünstelten
und mehr
affecti
rten
als der
wie meiner unsichtbaren
9
Natur angemeßenen Grobheit
und
oder Freyheit ein
10
Schusterjungen-Einfall
, der die Anmerkung des weisen Horatz bestätigt:
11
Naturam expellas …
Du magst die Natur mit der Forke vertreiben, sie wird dennoch zurückkehren und heimlich deine häßliche Hoffart siegreich durchbrechen. (
Hor.
epist.
, 1,10,24–25)
Naturam expellas furca; tamen usque recurret
12
Et mala perrumpet
furtim
fastidia
victrix
.
13
Lib. I. Ep. X. v.
24. 25.
14
Wer mit einer
so faulen
und
concreten
Methode mich abzuschrecken zu
15
widerlegen u sich zu decken meynt, wird sich
in fine
betrogen finden. Weil ich
16
Pfriemen
Ahlen, Werkzeug zum Stechen von Löchern
aber mit Pfriemen nicht umzugehen weiß: so soll mein
gemiethet Scheer
17
Meßer
Jes 7,20
; im Hintergrund steht vmtl. Hamanns Vater als Bader, für den das ursprüngliche Ölporträt gemacht wurde, von dem Hamann in diesem Brief glaubt, Kanter habe eine hämische Karikatur herstellen lassen.
Meßer
noch manchen unversehrten Wangenbart in die Glut heiliger
18
Gesänge versetzen.
19
Cicisbeo
Bezeichnung in Italien für einen dienenden Kavalier. Im
Teutschen Merkur
, 2. Vierteljahr 1775, S. 118–134, wurde ausführlich darüber berichtet. Gemeint ist hier wohl
Johann Heinrich Lips
.
Des berühmten
Cicisbeo
freche Lügen,
anatomi
sche Mordgräuel,
20
Auswüchse am Ende der meinigen, reiche Werke des guten Geruchs sollen in einer
21
Kupferplate erscheinen, de
ßen
ren Ausgabe ich meinen neu erworbenen
22
Freunden
Zimmermann
und
Lavater
zu überlaßen denke.
23
Dieser Nationalzug der philosophischen und moralischen
Canaille
verklärt
24
mir vollends mein
es
verwünschten
Vaterland
s
,
absolvi
rt
und
25
Nabal zu Böhmisch Breda
Friedrich Nicolai
unter Anspielung auf
1 Sam 25,3
sowie
Grimm,
Le petit prophète
gereicht fast zur
Absolution
beynahe
meine
n
s Vetter
Nabal
zu Böhmisch
26
Breda und seine siechen
Consorten
und Nachbarn. Mein Vetter
Nabal
soll
27
für die
Gnade und
Ehre
, die er dem
Cicisbeo
meiner Landsleute und ihrer
28
schönen und braven Geister während seiner dortigen StaatsGeschäfte
29
erwiesen,
belohnt
einen Gotteslohn empfangen und ich werde getrost fortfahren
30
ein
Antipod
der weltberühmten preuß. National
Falschheit
und National
31
Höflichkeit
zu leben und obenein mir den Ruhm zuzueignen suchen die
se
32
Bon
um
a Naturae
aus andern,
vielleicht
beßeren Grundsätzen, zu
33
anderm, vielleicht
beßerem
Behuf anzuwenden – so wahr mir Gott helfe!
34
Amen.
35
Ich eile nunmehr mit eiskaltem Blute zur Fortsetzung eines Versuchs, den
36
ich am weiland grünen Donnerstage angefangen und seit dem Fest aufgegeben
37
hatte, wenn beyl. Eselsohr mir nicht zur Brücke würde meinen Weg
S. 200
daß alles was aus Liebe kommt …
Röm 8,28
gemächlicher zu verkürzen – So
muß
wahr ist es daß alles was aus Liebe kommt,
2
zu unserm Besten dienen muß.
3
Ich bitte mir
Einlage bitte mir noch heute zurück, weil ich gestern keinen
4
einzigen meiner Freunde habe auftreiben können, die hoffentlich
meiner philo
5
güldenen des
der Verwandlung meines
einzigen Ohres
rechten sich nicht
6
schämen werden, da sie sich bey
den
Philosophen
ad modum
Apulejus sich
7
weiter als auf ein recht Ohr erstreckte. Allen den Ihrigen steht
es
der
8
physiognostische A-stich ehstens nach Herzens Lust und
selbstbeliebiger Weile
9
zu Dienste und Geboth. Uebrigens habe die Ehre mit unveränderten
10
Gesinnungen zu verharren Ew Wolgeboren Meines HöchstzuEhrenden HE
11
Professor
ergebenster Freund und Diener
12
Am alten Graben
Wohnort seit 1770, in der Nähe des Lizent
Am alten Graben
Johann Georg Hamann.
13
den 18
Julii
1775.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 73.
Bisherige Drucke
Kant, Werke [Akademieausgabe] XIII 73–75, vgl. 75 f.
Arthur Warda: Ein „rasendes und blutiges Billet“ von Joh. Georg Hamann an Imm. Kant. In: Euphorion 13 (1906), 497 f.
ZH III 198–200, Nr. 453.