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S. 1
Auf der Vorderseite:

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Ohngeachtet ich ein geborner Preuße bin, stamm ich aus reinem deutschen Blute

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her. Mein Vater war ein Lausnitzer und meine Mutter aus Lübeck gebürtig; in

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ihrem Hause war jeder freundlich willkommen, und ich bin in die Sitten Gebrauche

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Chroniken und Gesetze meines Vaterlands mit St. Paulo zu reden, unter allen

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Sündern und Zeloten der Vornehmste.

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Wenn mir Ihre
Excellence
auch bey Ihrer Heimkunft verbieten sollte mehr

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an dieselbe zu schreiben: so sind Sie doch nicht im Stande mir zu untersagen

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von Ihnen zu träumen.

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Ich habe mit dem kleinen Junker Hans Michel
vor 4 Wochen die Abrede genommen

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ihn von einem hiesigen Pauperjungen in der
VocalMusic
unterrichten zu laßen,

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und ihm zum ersten Liede aufgegegeben:

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Beschränkt ihr Weisen dieser Welt!

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das ich zwar niemals habe Singen
auslernen
aber wie die Nonne ihren Psalter par coeur

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beten können. Und bey diesen mit meinem Knaben genossenen Abende soll es

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wills Gott! bleiben. – – –


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Auf der Rückseite:

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N. S.

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Die
Correspendence
des horratianischen
Davus
mit dem
Mecaenas
in
Potsdam
hat

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Gottlob! eine sehr glückliche Endschaft erreicht. Ich behalte mir vor die

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Acten
dazu zu
suppli
ren –

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Ew
Excellenz
werden noch die Gnade haben den treuherzigen Layenbruder

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zu erinnern, daß
Sein Magus bisher umsonst auf den 2 Theil der Vermischten

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Schriften gewartet und seine kleine Bibliotheck so viel möglich zu
ergänzen

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wünscht, weil er
keine
Defecten
leiden kann und mehr als zu viel zu seinen

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Fächern dulden muß. Als ein sehr glimpflicher Büßer für diese Unterlaßungs Sünde

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wird der treuherzige Layenbruder seinem Frankfurter
Comissionair
die
Ordre

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ausstellen dem 2 Theil der vermischten Schriften, davon ich den ersten just

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morgen vor 10 Jahren erhalten in einer pappe mit rothem türkischem Papier

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überzogenen Deckel, noch die
Beherzigungen
, den
Daniel in der
Mörder
Löwengrube

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und den
HErrn und Diener
beyzulegen, alle in ähnl. Bande. Das
Corpus delicti

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und den
Deutschen Nationalgeist
besitze schon.

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Um meinen Character nicht zu verleugnen, hab ich zu guter letzt mir
n
doch diese

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Ungezogenheit erlauben wollen, so lange sich der treuherzige Layenbruder

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auf dem Grund und Boden meines Monarchen aufhält.

Provenienz

Unvollständig überliefert. Staatsarchiv Ludwigsburg, Nachlass Israel Hartmann, Signatur: PL 701 Bü 88. Der von Hamann geschriebene, aber unvollständig im Nachlass des ludwigsburger Waisenhauspfarrers Israel Hartmann befindliche Brief ist bezüglich des Datums und des Adressaten unsicher; man ist auf Vermutungen auf Grundlage des im Brief Geschriebenen angewiesen. Die Nachschrift auf der Rückseite ist sicher an Friedrich Carl von Moser, den ‚treuherzigen Layenbruder‘, gerichtet: Sämtliche von Hamann erwähnten Bücher (Z. 22–32) befanden sich später laut Biga-Katalog mit dem Eintrag „Donum AVCTORIS“ in Hamanns Bibliothek. Die Vorderseite ist weniger eindeutig: Für Israel Hartmann als Adressaten spricht lediglich die Tatsache, dass sich der Brief in dessen Nachlass befindet. Dagegen spricht das völlige Fehlen jeder weiteren Spur Israel Hartmanns in Hamanns Korrespondenz, außerdem die Anrede mit „Ihre Excellence“ (Z. 7, Israel Hartmann war ein einfacher pietistischer Waisenhauspfarrer, den niemand so angesprochen hätte, Moser dagegen Reichshofrat und adelig) sowie einige Details der Datierung; dies alles deutet darauf hin, dass auch die Vorderseite an Moser gerichtet ist. Israel Hartmann fing erst als Reaktion auf den Tod seines Sohnes – dieser wurde 1773 Professor in Mitau und machte rasch Karriere auch am Curländischen Hof, verstarb aber im Winter 1775/1776 plötzlich – an, seinen Freundes- und Bekanntenkreis auch brieflich zu erweitern (vgl. J. Volkening: Israel Hartmann, der Waisenschullehrer in Ludwigsburg. Versuch einer Lebensskizze. Bielefeld 1851, 73), sodass später Goethe, Jung-Stilling und viele weitere berühmte Zeitgenossen zu seinen Korrespondenzpartnern gehörten. Die Nachschrift an Moser wurde aber aller Wahrscheinlichkeit nach bereits im Winter 1773/1774 von Hamann verfasst, zu einem Zeitpunkt also, als Hartmann noch gar nicht in die deutschen Brief- und Gelehrten-Zirkel integiert war. Am plausibelsten ist, dass Moser, der nach seinem Sturz als mächtiger hessen-darmstädtischer Staatsmann seinen Lebensabend ab 1790 in Ludwigsburg und als Freund Israel Hartmanns verbrachte (vgl. ADB XXII, 779), Briefe von Hamann in seinem pietistischen Freundeskreis zirkulieren ließ – und sich eine Seite irgendwie in den Nachlass Israel Hartmanns verirrte.

Grundlage für die Datierung ist Hamanns Erwähnung des ersten Teils der „vermischten Schriften“, den er „just morgen vor 10 Jahren erhalten“ habe (Z. 28–29) – es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den ersten Teil von Mosers „gesammelten moralischen und politischen Schriften“ (Frankfurt 1763), die im Biga-Katalog ebenfalls als „Donum AVCTORIS“ aufgeführt werden. Hamann hat diesen ersten vmtl. im Zuge des ersten intensiveren brieflichen Kontakts mit Moser 1763 auf seine Bitte hin erhalten: „Ich gieng eben mit dem weitläuftigen Anschlage um mir zum Neuen Jahr von Ew. Hochwolgeb. ein Andenken an Dero sämtl. Schriften auszubitten, von denen ich noch nichts, nicht einmal den Daniel besize“ (HKB 255a [III xxviii/8–11], 10. November 1763); Anfang 1764 las er sie vmtl. bereits (vgl. HKB 270 [II 234/13–15], an Lindner, 1.2.1764: „Nebst Kant ist Mosers Sammlung v Winkelmann Schreiben an einen jungen Liefländer über Bildung des Geschmacks auf diesen Monat meine schwerste Arbeit.“). Für einen engen zeitlichen Konnex mit HKB 398 spricht auch Mosers Aufenthalt in Preußen Ende 1773: Am 27. November ist er offenbar in Königsberg „durchgegangen“, wovon Hamann am 1. Dezember bewegt schreibt (HKB 398 [III 66/3–16]). In Z. 34–35 spricht Hamann scherzend davon, dass er seine Bitte noch während sich Moser auf „Grund und Boden meines Monarchen“ aufhalte, an ihn richten wolle: Dies legt nahe, dass er den Brief kurz nach seinem langen Schreiben vom 1. Dezember 1773 verfasste.