147
346/2
Mein lieber Bruder,

3
Weil du glaubst, daß ich Zeit genung zum Schreiben übrig habe: so soll es

4
meine Pflicht seyn, mich Deiner guten Meynung an meiner Muße, so viel ich

5
Nachrichten
nicht überliefert
kann, zu beqvemen. Wir haben uns herzlich über Deine letzte Nachrichten

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von Deiner Gesundheit gefreut, die uns so willkommen waren als ein

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Jahrmarktsgeschenk. Gott erhalte Dich, und laße es Dir an keinem Guten

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fehlen! Er lehre Dich die Welt brauchen, daß Du derselben nicht misbrauchst,

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weil das, was in unsern Augen als das Wesen derselben aussieht, das

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Alter einer
Mode, Fashion
sagt der Engländer, aushält. Unsere Vernunft

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kann sich gleichwol, wie unser Auge an einem gewißen Zuschnitt der Kleider

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gewöhnen.

13
Es ist mir lieb, daß ich Dir was nützliches an der historischen
Tabelle

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geschickt. Ich ziehe
Vernets
Historie noch immer vor und wünschte, wenn Du

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mit Hänschen selbige vornehmen könntest. Mir gefällt nicht, daß Du
S
sie

16
mit
conjugi
ren qvälst, sie und Dich selbst. Denn die Arbeit, die ein Lehrer dem

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Schüler macht, fällt immer auf den ersteren wieder zurück. Warte mit dem

18
Conjugi
ren biß sie schreiben kann, und dann wird sie mit mehr Gründlichkeit,

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Etymologie
In Grammatiken des 18. Jhds. wird darunter überwiegend noch das verstanden, was heute als Morphologie bezeichnet wird.
Leichtigkeit und Lust lernen; indem Du ihr zugleich die
Etymologie
der

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temporum
sinnlicher machen kannst, und die
characteristic
der

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Endungsarten, der Personen pp. Du willst aber nichts von dem anwenden, was man

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Dir an die Hand giebt, sondern bleibst auf dem Gleise den andere gehen und

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der Dir schon bekannt ist; und bist so wohl zu furchtsam als zu schläfrich nähere

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Wege zu
gehen
versuchen. Ist das Buchstabierbüchlein von Dir eingeführt

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worden? Deine Schüler werden Dich immer nachahmen, und nichts recht

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lernen wollen, weil Du sie nicht recht lehren willst. – Du bist so geheim mit

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Deinen Schulsachen gegen mich, als wenn es Staatsgeschäfte wären, oder

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als wenn Du Deinen Kindern durch Dein Beyspiel hierinn vorgehen wolltest

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nicht aus der Schule zu schwatzen. Wenn Du von der Wichtigkeit Deines

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Amtes recht eingenommen wärest; würde diese Lust und die
Idee
davon nicht in

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hundert Kleinigkeiten hervorbrechen, in Fragen, Anmerkungen,

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Beobachtungen. Eine Leidenschaft zu einem Gegenstande verräth sich bald; sie sucht

33
Verg.
ecl.
, 3,64f.: „malo me Galatea petit, lasciva puella, / et fugit ad salices et se cupit ante videri“, „Äpfel wirft Galatea nach mir, das lockere Mädchen, / Flüchtet ins Weidengebüsch und wär nur zu gern noch gesehen.“
sich wie Galathe zu zeigen, ehe sie Apfel wirft, sie verräth sich selbst durch ihr

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Verstecken, und spottet über ihr eigen Winkel und Buschspiel. Du wirst doch

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wohl Deine Schule mit andern Augen ansehen können, wie ich die Londener

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Börse, auf der ich mehr die Menschen und Bildsäulen bewunderte als um die

S. 347
Plut.
vit.
, Demosthenes 11; vgl.
Hamann,
Gedanken über meinen Lebenslauf
, LS S. 337
Kaufleute bekümmerte, und mich wie
Demosthenes
beym Geräusch der

2
Wellen übte englisch mit mir Selbst zu reden.

3
Wenn es Dir ängstlich fällt als ein Lehrer Deine Stunden anzuwenden, so

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gehe als ein Schüler in die Claße und siehe Deine Unmündige als lauter

5
Collaboratores
an, die Dich unterrichten wollen, gehe mit einem Vorrath von

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Fragen unter ihrem Haufen, die sie Dir beantworten sollen: So wirst Du die

7
Ungedult der Wißbegierde beym Anfange Deiner
Lection
in Dir fühlen, und

8
das Nachdenken eines solchen Schülers mit Dir nach Hause bringen, der eine

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ganze Gesellschaft von Lehrern auf einmal vergleichen und übersehen kann.

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Werden Dich Deine Kinder als einen solchen Schüler selbst erkennen; so

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werden sie sich bald nach deinem Muster bilden, und dieser Betrug wird sie

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bald geneigt machen sich in einen Wettstreit mit Dir einzulaßen. Die gröste

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Vortheile sind allemal von Deiner Seite. Du bist der älteste unter ihnen, und

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einen Kopf höher. Du kannst mehr lernen wie Sie, weil Du so viele Lehrer

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hast, die Du gegen einander halten kannst.

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Wer von Kindern nichts lernen will, der handelt
tumm und ungerecht

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gegen sie, wenn er verlangt, daß sie von ihm lernen sollen. Kannst Du sie

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durch Dein Wißen nicht aufblähen, desto mehr Glück für Sie und Dich, wenn

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sie durch Deine Liebe erbaut werden.

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Je mehr Du mir Muße zutraust, mein lieber Bruder, desto genauer werde

21
u.a.
Ov.
met.
I, 625; die etymolog. Spekulation bezieht sich auf griech. ἀργός: ungetan, unbearbeitet, müßig, faul; auch in Zedlers
Universallexikon
zu finden,
Bd. 2, Sp. 1329
: „ein fauler nichtswürdig. Mensch“. Ebenso
Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
, SD S. 15/29, N II S. 63/39, ED S. 21.
ich auf Deine Unterlaßungsfehler seyn. Der hundertäugige
Argus
war ein

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Mensch ohne Geschäfte, wie sein Name ausweiset. Es ist daher kein Ruhm,

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daß ein Zuschauer von einigen Dingen beßer urtheilen kann als die sie unter

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Händen haben; und keine Schande für diese, ihre Handgriffe nach den

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Beobachtungen eines Müßiggängers zu verbeßern.

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Nur Leute, die zu arbeiten wißen, kennen das Geschenk der Ruhe, diese

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Gabe, diese Einsetzung, diese Nachahmung des Schöpfers. Die leersten Köpfe

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haben die geläufigste Zunge, und die fruchtbarste Feder. Man darf nur eine

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allgemeine Kenntnis der Gesellschaften und Bibliotheken haben, um zu wißen,

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wer am meisten zu reden und zu schreiben gewohnt ist.

31
Glückliche
Compilatores
zu seyn; darinn besteht das Verdienst eines

32
Bayle
und
Montesquieu,
und
Homer
soll selbst einer gewesen seyn, nach der

33
siehe bspw.
Gottsched,
Versuch einer Critischen Dichtkunst
, S. 13, Anm. 59 u. 60 zu
Hor.
ars.
47f.: „wirst du Besonderes sagen, wenn eine verschmitzte Verbindung aus einem bekannten Wort ein neues gemacht hat.“
Meynung der besten Kunstrichter

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Dixeris egregie, notum si callida verbum

35
Reddideret punctum
nouum – –

36
Eine schlaue Verbindung von Wort und Wort, Redensart und Redensart,

37
Begebenheit und Vergleichung, Empfindungen und Urtheile – Erlangt man

S. 348
dadurch die Unsterblichkeit, und muß der Endzweck nicht
an
Mitteln gemäß

2
seyn, beyde eitel und thöricht.

3
Und doch fällt es uns wie muthwilligen Kindern so schwer still zu sitzen.

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Verleugnen wir nicht dadurch den Rang, den uns Gott angewiesen und machen

5
uns zu Lastträgern und Gibeoniten seines Staats, die wir Herren, Zuschauer

6
und Aufseher der Schöpfung seyn sollten.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (69).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, II 7–11.

ZH I 346–348, Nr. 147.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
347/35
Reddideret punctum
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
Reddiderit iunctura

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
Reddiderit iunctura
348/1
an
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies wohl
den
statt
an