128
274/7
Geliebtester Freund,

8
Ich höre daß Posten von Grünhof abgehen werden, bitte mir also mit

9
selbigen und falls Sie zu lange werden sollten auch mit der Post ein Buch aus,

10
das ich unumgängl. brauche. Nämlich
Vernets
kleine Historie, die neben der

11
Joachimschen Abhandlung von den Münzen beygebunden. Wenn Sie letztere

12
noch nicht durchgelesen, so kann Ihnen an dieser Materie nicht so viel gelegen

13
seyn um mir das erstere zu versagen, das ich höchst nöthig habe. Mit den

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Posten werden Sie so geneigt seyn auch für meine Laute Sorge zu tragen; weil

15
mir mein Bruder keine mitgebracht und ich ein wenig Zeitvertreib v

16
Abwechselung mir an der Musick zu geben gedenke.

17
Sie wißen daß mein Bruder angekommen, falls er heute zu mir kommt,

18
soll er selbst an Sie schreiben. – – Ich freue mich sehr ihn um mich zu haben.

19
Gott schenke mir die Freude v den Nutzen von seinem Umgange, den ich mir

20
verspreche, und laß uns in aufrichtiger Friede und Liebe mit einander leben.

21
Was machen Sie, Geliebtester Freund? Ich hoffe v wünsche Sie wieder

22
gesund. Ein neuer Fluß an einer geschwollenen Wange hält mich ein; sonst

23
bin Gott Lob! munter und zufrieden und glücklich, so lange als Gott will;

24
bey meinen Umständen mehr Muth und Lust zu leben, als ich jemals gehabt.

25
Aristoteles amicus, Plato amicus, sed veritas maxime amica
– – und das

26
nach der Melodey: Mag es gleich der Welt verdrüßen. Dies ist eine

27
Nachahmung von einem Lausonschen Einfalle. An Ihren ältesten Herrn Baron

28
Die Wahrheit
Joh 8,32
habe ich mir selbige als ein Ritter vorgestellt. Die Wahrheit heißt es, macht

29
uns frey. Wir müssen also wie die Römischen Sclaven einige Maulschellen

30
Hut
zur Freilassung eines röm. Sklaven zus. mit den Maulschellen – das könnte Hamann etwa in
Baumgarten,
Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie
(Bd. 10, S. 131) gelesen haben.
fürlieb nehmen um den Hut tragen zu dürfen.

31
Vielleicht wage ich einige, oder habe es
schon
nach Ihrer Meynung schon

32
gethan, an Ihnen Selbst. Sie werden mich daher mit gleicher Münze

33
bezahlen. Ich suche die Furcht für Gesichter und Mienen so viel ich nur kann,

34
zu unterdrücken und zu verleugnen.

S. 275
Sie wollen
Hobbii Opera
lesen, ich habe selbige nicht – – und wenn ich

2
solche hätte, so würde ich ein Bedenken tragen sie Ihnen mitzutheilen. Wie

3
wenig wollen Sie sich durch mein Beyspiel warnen laßen? Sie werden den

4
Schaden davon tiefer als ich empfinden und er wird bey Ihnen vielleicht

5
schwerer zu ersetzen seyn. Sie haben ein größer
Genie,
das Sie schonen müßen,

6
und das weniger fremden Zusatz nöthig hat als ich. Sie haben einen stärkeren

7
Beruf und gezeichnetere Gaben zu einem Amte und zu einem öffentl. Stande

8
als ich habe. Hören Sie, wenn es möglich ist Sie aus dem Schlummer Ihrer

9
Hypochondrie zu ermuntern. Schonen Sie Ihre Gesundheit – – Dies ist eine

10
Pflicht, zu deren Erkenntnis v. Ausübung Sie keinen Leviathan nöthig haben;

11
von der die jezige Anwendung Ihrer Selbst und der künfftige Gebrauch Ihres

12
Lebens und der Wucher ihrer Pfunde abhängt. Ersparen Sie sich die Mühe

13
des Grabens, und den Aufwand eines Tuches – – nehmen Sie zur Wechsel

14
Bank Ihre Zuflucht, wo wir all das unserige anbringen und umsetzen können.

15
Denken Sie an Ihren Beruf; denken Sie daß Sie einen zwiefachen haben.

16
Hast Du mich lieb? Weide meine Lämmer. Hast du mich lieb? Hast du mich

17
lieb? Weide meine Schaafe, weide meine Schaafe. Wem viel vergeben ist,

18
Plat.
Phaid.
118 A,5–10
liebt viel.
Socrates
vergaß mitten unter den Wirkungen des Gifts die ihn zu

19
lähmen anfiengen des Hahns nicht, welchen er dem Esculap zu opfern

20
versprochen hatte. Denke an den, deßen Gekrähe Dich an meine Verleugnung

21
erinnerte, und an den Blick der Liebe,
den Dein Herz
schmolz. Thun Sie alles

22
dasjenige, was zu Ihrer Pflicht gehört? Woher entstehen alle die Lüste nach

23
fremden Gewächsen – – das Murren des Volks – –

24
Ich komme Ihnen vielleicht allzugerecht und allzuweise vor – – Sitzen

25
aber die Pharisäer selbst nicht auf Moses Stuhl, und gesetzt, ich straffte

26
mich jetzt selbst, hört dasjenige, was ich Ihnen sage, auf wahr und recht zu

27
seyn. Sagen Sie also nicht in Ihrem Herzen zu mir: Artzt hilff Dir selber! –

28
An dieser Krankheit sterben alle Ärtzte, und der gröste litte diesen Vorwurf

29
auf seinem Siechbette, dem Creutz. Thue das hier, auf diesem Grund und

30
arm werden
2 Kor 8,9
Boden, was man in Capernaum von Dir erzählt. Laßt uns arm werden – –

31
Naeman
2 Kön 5,4
Wittwen werden – – wie Naeman den Rath eines Dienstmädchens nicht für

32
gering achten um eine Reise zu thun, den Rath unserer Unteren nicht für zu

33
Jordan
2 Kön 5,13
(evtl.
Phil 3,8
)
schlecht um den Jordan zu besuchen. Ist es was großes, was der Prophet von

34
uns fordert. Ist es eine Lügen, was der Apostel sagt, daß alles Koth – – ja

35
Schaden ist – hat es Moses jemals gereut die Schmach seines Volkes für die

36
Weisheit v Ehre in Egypten vertauscht zu haben. – –: So wird eben das in

37
Ihrem Nazareth geschehen.

S. 276
Heumann
Heumann,
Acta Philosophorum
, dort, im 1. St., das Kap. „Ehren-Rettung der
Xanthippe
“, S. 103ff.
Xantippe
Frau von
Sokrates
Fragen Sie den gelehrten
Heumann,
was
Xantippe
für eine Frau war?

2
Um in dieser Verkleidung einen Freund zu beurtheilen, fühlen Sie sich recht

3
nach dem Puls – – Verzeyhen Sie mich, ich rede in lauter Brocken an Sie, an

4
denen Sie wiederkäuen mögen.

5
Gott hat mir Muße und Ruhe geschenkt. Ich suche die Zeit die ich jetzt habe wie

6
ein Altflicker anzuwenden. Zwo Stunden sind bisher für mich besetzt gewesen,

7
davon ich eine wieder verloren. Die erste war gewiedmet ein Kind lesen zu

8
lernen, die andere einen jungen Menschen, den ich als meinen Freund und Bruder

9
ansehe, ein wenig französisch. Ich habe den letzten jetzt nur, und habe die

10
Hofnung das erste wieder zu bekommen, und will so bald ich mit Gottes Hülfe

11
wieder ausgehen kann, einen Besuch thun darum zu betteln, daß man es mir

12
höchstens ein paar Stunden des Tages wieder anvertraut. Wollen Sie mir glauben,

13
daß ich ganze halbe Stunden herumgehen kann um mich zu den
Lection,
welche

14
die möglichst leichteste sind, vorzubereiten und nachzubereiten, daß ich so sage.

15
Sie werden mich verstehen und soviel davon als nöthig anwenden auf das,

16
was ich sagen will. Als ein Freund von Ihnen erlaube ich mir gegenwärtige

17
Vorwürfe
von G. I. Lindner bzgl. Hamanns Briefwechsel mit den Söhnen v. Witten,
HKB 119 ( I 257/29 )
Freyheiten, und suche die Vorwürfe einer Nasenweisheit zu mildern. Als

18
mein Nachfolger bey denjenigen Kindern, die ich ehmals gehabt, werden Sie

19
das Spiel, das ich mit Ihnen angefangen, nicht auf die strengste Art wie einen

20
Vorwitz um ganz fremde Dinge beurtheilen können.

21
Mein Bruder und Freund Baßa haben
Thée
mit mir getrunken. Der erste

22
hatte nicht Zeit zu schreiben. Der Herr
Rector,
der niemand beleidigen will,

23
Runde
J. Chr. Hamanns Antrittsbesuche
hat ihn rechtschaffen die Runde gehen laßen. Ich bin mit alle dem sehr

24
zufrieden, was mir auch als überflüßig vorkommen sollte. Er lehrt dadurch

25
seine Oberen kennen, und kann dadurch vielleicht einen künfftigen Vortheil

26
ziehen, an den unser bestgesinnter Freund jetzt selbst nicht denken mag. Ich

27
weiß Gott wird meinem Bruder gnädig seyn und ihm alles zum Besten dienen

28
laßen. Unsere eigene Fehler und die Fehler anderer sind öfters ein Grund von

29
unserm Glück; so wie wir bisweilen so sehr durch unsere Selbstliebe als

30
Freundschafft anderer gezüchtigt und geprüft werden müßen.

31
Freund Baßa lebt hier mit mehr Verdruß als Vergnügen; weil er seine

32
Waaren nicht anbringen kann. Gott hat mir Gnade gegeben auch mit ihm

33
durch ein Geldgeschenk seines Vaters konnte Hamann Schulden bei
George Bassa
tilgen, vgl.
Hamann,
Gedanken über meinen Lebenslauf
, LS S. 433/25
richtig zu machen. Um wieviel ℔ mein Herz dadurch leichter geworden, mögen

34
Sie Selbst berechnen. Ich sehe von meinen Wünschen einen nach dem andern

35
in Erfüllung gehen, ohne Selbst das Wunderbare darinn begreifen zu können.

36
Die Thränensaat einer Nacht verwandelt sich öffters in
ein Erndte
und

37
Weinlese Lied des darauf folgenden Morgens.

S. 277
Ich will mich einmal tumm anstellen, oder ein wenig blödsinnig, und die

2
Schmeicheleyen, die Sie mir in Ansehung meiner Briefe machen, nach dem

3
Buchstaben nehmen. Nach dieser Voraussetzung geht es füglich an Sie um

4
Packs
vmtl. Brief
HKB 125
u.
HKB 126
die Prüfung meines letzten Packs ein wenig zu ersuchen. Ich habe Kinder,

5
Eltern und Hofmeister vor Augen gehabt, und mich selbst nicht vergeßen.

6
Dies wären 4 Seiten, nach denen
ich
Sie solche in Augenschein nehmen

7
müßen, um meinen ganzen Entwurf zu übersehen.

8
Daß
mein Schlag anders wohin getroffen
– – Der Verstand dieses

9
Einfalls ist mir nicht entwüscht, ich kann Ihrem jungen HE. noch nicht die

10
Stärke zutrauen in wenig Worten soviel zu sagen. Meine Mühe Sie zu

11
errathen ist mir schlecht vergolten worden. Anstatt diese Einbildung aus dem

12
Sinn und der Feder Ihres Züglings auszureden, nehmen Sie an selbiger

13
Antheil und bestärken ihn auf eine feine v witzige Art darinn. Das heist ein

14
Kind der Schönheit wegen schielen zu lehren. Ich habe mich daher so

15
weitläuftig dabey aufhalten müßen ihm seinen künstl. Irrthum zu benehmen, der

16
mir Schande macht, und mit meinen Absichten nicht im geringsten

17
bestehen kann.

18
Ich habe nicht den Vorsatz gehabt so viel Philosophie zu verschwenden,

19
Brief
HKB 126
und fast über meine Kräffte v. Neigung den 2ten Brief geschrieben. Ihr Ton

20
hat mich dazu verführt.

21
Sentimens
bey Kindern herauszubringen, die Hebammen Künste, die

22
Bildhauer Handgriffe, welche
Socrates
von seinen 2 Eltern vermuthlich

23
abgestohlen – – Dies muß immer der Endzweck unseres Amtes seyn, und wir müßen

24
dies mit eben so viel Demuth v Selbstverleugnung treiben, als er die

25
Weltweisheit – –

26
Daß alle
Kinder
Sprünge nichts helfen um Kinder zu lehren, wißen Sie aus

27
der Erfahrung. Daß Sie unsere Lehrer sind, und wir von ihnen lernen müßen,

28
werden Sie je länger je mehr finden. Wenn
Sie
solche nichts von uns lernen

29
wollen noch können; so liegt allemal die Schuld an uns, weil wir so

30
ungelehrig oder so stumpf sind sie nicht in der rechten Lage anzugreifen. Je

31
mehr ich mich selbst in Ansehung des jüngsten HErrn untersuche, je mehr

32
finde ich, daß die Schuld an mir gelegen. Ich möchte Ihnen anrathen

33
dasjenige auszuführen, was ich Ihnen hier vorschlage. Sie werden auf manche

34
Entdeckungen kommen. – –

35
Gewöhnen Sie Ihren jungen HErrn so viel Sie können an eine bescheidene

36
Sprache. Der entscheidende zuversichtl. Ton gehört nur
vo
für
Sophisten.

37
Meine Meynung ist: Ein Beruff ist pp. Er muß weder römische Gesetze noch

S. 278
italienische
Concetti
schreiben lernen. Fast nicht ein einziger Period der nicht

2
das harte der ersteren und das gedrehte und gewundene der andern an sich hat.

3
Der junge Herr kann ohnmögl. Lust zu dieser Arbeit haben, falls Sie ihm

4
solche Muster und Stoff zu seinen Briefen geben. Er muß in seinem Herzen

5
sich über uns beyde aufhalten, wenn er in dem
Laut
fortfahren soll, worinn

6
er angefangen.

7
Ihre Aufnahme v der Gebrauch dieser Anmerkungen wird mich so oder so

8
bestimmen; ich werde mich dabey winden so gut ich kann. Sie müßen eben

9
so aufrichtig seyn als ich, und mir sichere
data
geben – – nach denen ich mich

10
gern beqvemen will.

11
Ich habe bey meinen Urtheilen das
Consilium
des lieben HE Bruders zu

12
Hülfe genommen, weil meinen eigenen Geschmack für zu eigensinnig halte.

13
Er
schien
mehrentheils gleicher Meynung mit mir zu seyn. Erfahrungen,

14
deren Eindrücke bey mir tief seyn müßen v deren Beyspiele mir noch

15
immer gegenwärtig sind, sollten mich vielleicht behutsamer machen. Ich halte

16
s
Sie für gesetzter und gründlicher, als daß Sie gegen mich zurückhalten

17
sollten. Falls Ihnen meine ganze Arbeit als eine Frucht des Eigendünkels

18
vorkommt, falls Sie an der Wendung derselben zu viel Antheil nehmen

19
sollten, so sagen Sie mir es. Ich werde für diese Probe Ihrer Freundschafft

20
Ihnen verbindlich seyn und auf eine Art
abbrechen,
die Ihnen alle

21
Genugthuung schaffen soll.

22
Ich bitte nochmals um
Vernets
Historie v mein lateinisch Wörterbuch, weil

23
Ihr
Faber
hier nebst
Virgil
mitgekommen, die Sie mit ehsten erhalten werden.

24
Meinen Empfehl an Ihre Excell. Excell. Grüßen Sie Ihre junge HErren

25
und die Pastorathe. – – Leben Sie wohl und erkennen mich für Dero

26
ergebenen Freund und Diener.

27
Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 4 (3).

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, I 310–313, 319–323.

Paul Konschel: Der junge Hamann. Königsberg 1915, 90–93.

ZH I 274–278, Nr. 128.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
275/21
den Dein Herz
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
der Dein Herz
276/36
ein Erndte
]
Geändert nach Druckbogen (1940); ZH:
eine Erndte

Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
ein Erndte
278/5
Laut
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1955):
lies
Lauf
278/20
abbrechen,
]
Geändert nach Druckbogen 1940:
abbrechen