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Zweeter Brief
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Mein Herr,
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Sie wißen, daß ich einen kleinen Anfang in der Physick gemacht. Ich habe
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dabey bemerkt, daß die Naturforscher einen Körper in allerhand
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Verbindungen setzen, auf die Veränderungen deßelben unter solchen Umständen Acht
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geben, und durch dergleichen Versuche Entdeckungen von Ihren Eigenschafften
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machen. Ebenso habe ich es mit dem Worte Beruff angegriffen, es in
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mancherley Redensarten eingeflochten und diejenigen Begriffe wahrgenommen, die
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in meinem Verstande entstehen, wenn jemand sagt: das ist mein Beruff, das
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gehört nicht zu meinem Beruff, ich habe keinen Beruff dazu, ich sehe es als
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einen Beruff an v. s. w.
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In allen diesen Redensarten versteht man eine Verbindlichkeit, die
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entweder aus gewißen Gründen folgt, oder sich auf gewiße Pflichten
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bezieht. Dies ist aber noch zu allgemein; denn nicht jede
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Verbindlichkeit wird ein Beruff genannt, sondern nur eine solche, welche den Gebrauch
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unsers Lebens zu einem gewißen Endzweck, und die Anwendung unserer
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Kräfte zu gewißen Uebungen, Geschäften und Handlungen, betrift. Die
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Gründe also, die mich bewegen diese oder jene Bestimmung von meinem
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Leben, und allem dem, was dazu gerechnet werden kann, zu machen,
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werden als ein Beruff angesehen. Dies scheint mir die erste Bedeutung des
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Wortes zu seyn.
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Der Beruf zu einer gewißen Lebensart liegt öfters in einer Neigung oder
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Lust, in einer herrschenden Leidenschaft, der ich ein Genüge zu thun suche, in
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Naturgaben v Fähigkeiten, in dem Willen derjenigen, von denen wir
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abhängen, in dem Exempel derer, mit denen wir umgehen; in Umständen, Zufällen,
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Vorurtheilen liegt die Ursache, warum ich mein Leben diesem oder jenem
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Gegenstande oder Endzwecke wiedme, und alle die Kräfte und Zugehör meines
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Lebens den Mitteln diesen Endzweck zu erreichen. Daß aber eine Sache zu
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einem Bewegungsgrunde werde diese oder jene Wahl in den Absichten und
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Beschäfftigungen des Lebens zu treffen, oder daß eine Verbindlichkeit des
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Beruffs daraus entstehe – hiezu ist nöthig in einer solchen Sache eine gewiße
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Beziehung, Uebereinstimmung und Füglichkeit auf uns Selbst oder die Liebe
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die wir uns schuldig sind, wahrzunehmen. Hierin würde also die erste
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Bedeutung des Beruffs bestehen, deßen allgemeiner und abgesonderter Begriff
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im gemeinem Leben auf einige Ämter eingeschränkt wird. – Laßt uns jetzt die
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Anwendung davon auf den Beruf des Edelmanns machen. In diesem
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Verstande würde derselbe ungefehr folgende Frage in sich schlüßen: Giebt es
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in dem Stande und in der Natur des Adels gewiße Bestimmungen, die sich
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auf einige Gegenstände mehr als auf andere beziehen? Was sind das für
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Gegenstände, zu denen ein Edelmann mehr Ursache hat, mehr Gelegenheit,
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eine fügligere Lage, wie der Bürger und Bauer, und die ihn verbindlich
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machen eine besondere Richtung seinen Kräfften und seinem Fleiß zu
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geben? Gesetzt der Adel wäre nichts als ein Vorurtheil oder eine Hypothese,
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so behielte er gleichwol sein Augenmerk, das man niemals aus dem
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Gesichte verlieren muß, um den grösten Nutzen davon in der Gesellschafft zu
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ziehen und den besten Gebrauch davon zu machen. Aus diesem
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Gesichtspunct muß der Edelmann die Bestimmung betrachten, nach der er sich zu
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bilden, und die Ehre seiner Geburt wahrscheinlich zu machen suchen muß. Alle
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Theile seines Lebens müßen sich auf diesen Gegenstand als ihren
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Mittelpunct beziehen. – –
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Die zwote Bedeutung eines Berufs zeigt eine Verbindlichkeit zu gewißen
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Pflichten an, die aus meiner getroffenen Wahl folgen, nach der ich schuldig
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oder willens bin meine Kräffte und meine Zeit anzuwenden, oder meine
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Fähigkeiten und Handlungen einzurichten. Alles dasjenige was aus dieser
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Wahl folgt, gehört zum Beruff; was aber selbige aufhebt oder ihr zuwieder
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ist, entfernt mich von demselben – – Ich will mich jetzt nicht damit aufhalten,
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die Ähnlichkeit und den Unterscheid dieser letzten Erklärung von der ersteren
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genauer anzusehen, gegen einander zu halten, noch zu untersuchen, in wie
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fern der letztere von dem ersteren abhänge. Es gehört mehr zur Sache die
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Anwendung jetzt auf den Edelmann zu machen. In diesem Verstande wird durch
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seinen Beruf eine Reyhe von Pflichten
entstehen
verstanden, die aus dem
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Vorzug seiner Geburt folgen, aus dem Range, den er in der Gesellschaft
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genüst und den Vortheilen, die damit verbunden sind. Seine Einsichten, seine
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Sitten, seine Denkungsart, Grundsätze pp. müßen mit seinem Stande
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übereinstimmen. Je mehr daher seine Erziehung nach seinem Stande eingerichtet
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seyn wird, je früher und gründlicher er in seiner Jugend von demjenigen,
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wozu ihn seine Geburt berufft unterrichtet wird, desto beßer wird er demselben
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in späteren Jahren nachzuleben wißen.
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Sie haben jetzt das Beste, was ich im stande bin Ihnen zu sagen. Ich
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erwarte jetzt die Verbeßerung und Ergänzung, die Sie für nöthig finden um
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meine Anmerkungen richtiger und deutlicher zu machen. Ich will noch
einige
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eine einzige hinzufügen, die mir mitten in meiner Arbeit eingefallen. Sollte
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es den Philosophen, wenn sie die Zeichen der menschlichen Begriffe erklären
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und recht bestimmen
wollen,
nicht öfters als den Kindern gehen, die sich
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Mühe geben das Qvecksilber fest zu halten?
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Ich bin mit aller Hochachtung Mein Herr, Ihr gehorsamer Diener.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 33.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VIIIa 13–16.
ZH I 270–272, Nr. 126.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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wollen, ]
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Geändert nach Druckbogen 1940; ZH: wollen |