368
478/27
Kgsberg den
21
Sept.
769.

28
Geliebtester Freund,

29
Erlauben Sie mir diesen vertrauten Titel unter dem ich immer an

30
Sie
Ihnen gedacht habe, ehe ich Sie noch persönlich kannte, und durch letzters noch

31
ein größeres Recht dazu glaube erlangt zu haben, ohngeachtet der Ausnahmen,

32
die ich sonst gegen
Berliner
überhaupt zu machen gewohnt bin und ohngeachtet

33
einer andern kleinen – Saumseligkeit, die ich noch lange Ihnen nachgetragen

34
habe, welche Sie aber durch das gegenwärtige Merkmal nicht nur Ihres

S. 479
Andenkens sondern zugleich redlichen Achtsamkeit völlig ersetzen. Ich ergreife daher

2
diese eben so unerwartete als angenehme Gelegenheit mit beyden Händen Sie

3
wenigstens meiner aufrichtigen und unveränderten Ergebenheit zu versichern.

4
Was die Sache selbst betrift; so bin ich nicht im stande Ihnen die geringste

5
Bedenklichkeit entgegen zu setzen, und weil ich mich gar nichts mehr erinnern

6
kann so muß alles schlechterdings Ihrem eignen Urtheil überlaßen und

7
anheimstellen. Ich setze den Bewegungsgrund Ihrer freundschaftl. Anfrage zugl.

8
als eine Richtschnur zur Ausführung zum voraus, und im Fall ich nur das

9
Decorum
eines
anonymi
für mich selbst habe, werde niemals auch das ärgste

10
überliefern
,
und
gebe Ihnen also
carte blanche
mit desto mehr

11
Zufriedenheit, wenn dadurch der geringste Vortheil zu Ihrer Absicht oder Plan, auch

12
nur bloß
Contrast
weise oder
per antithesin
erreicht werden kann. Was ich

13
vom
Decoro
des
anonymi
gesagt, betrift nur eigentl. dasjenige, was
ich

14
selbst schreibe
, das ich niemals weder
R
recht
Herz noch Lust gehabt habe mit

15
offener Stirn zu rechtfertigen; ich suche dadurch nicht im geringsten die

16
Urtheile anderer
gegen mich einzuschränken und überlaße es jedem gern

17
dasjenige selbst zu verantworten, was er selbst schreibt. Ich
schreibe
mache

18
Ihnen diese verlorne Anmerkung, liebster Freund, nur auf allen Fall, daß der

19
übrigen
Correspondence
dadurch nicht ein Haar entzogen wird sondern alles

20
der Wahrheit des damaligen Periods gemäß bleibt. –

21
Ich schreibe bey Licht, welches gar nicht mehr gewohnt bin. Wenn Sie von

22
meiner gegenwärtigen Verfaßung nichts wißen, so melde Ihnen daß über

23
2 Jahre bey der Hiesigen
Provincial Direction
als
Secretair-Traducteur

24
arbeite, mit viel
Zufriedenheit
aber so überhäuft, daß ich bey meiner

25
verjährten
Atonie
des Geistes kaum Augenblicke übrig behalte zu naschen

26
geschweige zu
studiren
. Unter allen häuslichen Druck und

27
privat-
Mühseeligkeiten hoff ich noch immer auf eine Zeit der Erholung, und ich bin zufrieden,

28
daß
mi
s
r
mein gegenwärtiges Joch erträglich, ja bisweilen leicht fällt. Außer

29
meinem Beruf finden sich noch immer Kleinigkeiten, die meine unbändige

30
Hypochondrie
oder Phantasie in Wichtigkeiten verwandelt und
vice versa,

31
aber auch in diesem Betrug ist etwas unterhaltendes. Der Himmel weiß wenn

32
ich unserm Freund Phädon sein
agio
werde
bezahlen
vergelten können. Die

33
Noth hat mich jetzt zu einem so guten Wirth gemacht daß ich eins von seinen

34
goldenen Pferden
Nunquam retrorsum,
die er mir damals zum Vorspann

35
vorstreckte noch bis jetzt ihm zum Andenken aufgehoben habe. Ihren

36
Rammler überhebe ich sich meiner zu erinnern, solang er einen meiner Landsleute,

37
wenn ich die Litthauer dafür ansehen darf, seinen Freund nennt. Seit dem

S. 480
Valet
briefe unsers
Herders
weiß nichts von ihm. Mein blindes Gefühl hat

2
den großen Mann in seinem damaligen
embryo
des
Genius Saeculi
und der

3
Mores eruditorum
oder wie es heißt so genau erkannt, daß ich den Litteratur

4
Briefen gern etwas von meinem
Instinct
gewünscht hätte. Ein wahres
Caput

5
mortuum
einer Gottschedschen Belustigung des Verstandes und Witzes mit

6
der lateinischen Sprache vereinigen zu wollen ist in meinen Augen ein solcher

7
Unsinn des Geschmacks,
⸂den mir mein
Caius Herennius Rapidius
eingebläut,

8
bey dem ich wieder allen
academi
schen Wohlstand noch Jahre lang den
Cicero

9
exponi
rt, ungeachtet
Plinus
einer meiner ersten Autoren als Schulknaben

10
oder vielmehr Jungen gewesen war.⸃
daß es mir nicht mögl. fällt einen

11
einzigen
römischen
Perioden
eines solchen Schriftstellers ohne Colik und

12
Bauchgrimmen herunterzukriegen; und der bitterste unverschämteste Spott der Alten

13
sind wohl die
Panegyricus
und Nachahmungen solcher Schüler.

14
Ich wage mich in ein Feld, wo ich nicht mehr zu Hause gehöre und bescheide

15
mich mit einem
non
nostrum est tantas
.
– Einen guten Abend kann ich mir

16
demohngeachtet von HE Leßings 2ten Theil versprechen. Ist der Verf. der

17
romantischen Briefe noch ein Räthsel? und darf man keine Fortsetzung erwarten.

18
Umarmen Sie unsern lieben Phädon, den ich anderthalb mal gelesen aber

19
nicht Zeit gehabt beurtheilen zu können. Roußeau Anmerkungen über Plato

20
scheint mir zieml. gegründet. Nun gute Nacht und Gott empfohlen bis auf

21
ein glückliches und munteres Wiedersehen.

22
Hamann.

23
Nicht im Hartungschen Buchladen sondern auf dem
Accise
v Zoll

24
Directorio
zu erfragen, nicht
sedentem
sondern
stantem in telonio.


25
Erhalten-Vermerk von Nicolai auf der letzten Seite des Briefes oben:

26
1769. 29
Sept
/ 29
Oct
bean.
Hamann

Ein Entwurf. Provenienz: Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 64:

523/7
Geliebtester Freund

8
Kgsberg den 21
Sept
769.

9
Foin de complimens
Ich bin eben um 7 Uhr des Abends zu Hause

10
und habe das Vergnügen Dero gütige Zuschrift, GeEhrtester Freund!

11
zu erbrechen.
Erlauben Sie mir diesen vertrauten Titel, unter dem ich

12
immer an
Sie
Ihnen gedacht habe, ehe ich Sie noch persönlich kannte,

13
und durch letzters noch ein größeres Recht dazu glaubte erlangt zu

14
haben ohngeachtet der Ausnahmen, die ich sonst gegen
Berliner

15
überhaupt zu machen gewohnt bin, und ohngeachtet einer andern

16
kleinen
rancune
Saumseeligkeit die ich
ehmals gegen Sie auf

17
dem Herzen
noch lange Ihnen nachgetragen habe,
und die
aber

18
durch
Dero
das gegenwärtige
s
Merkmal nicht nur Ihres

19
Andenken
und Merkmal davon an den Tag lege, da ich gäntzlich

20
vergeßen zu seyn vermuthet habe
sondern zugl. redl. Achtsamkeit völlig

21
ersetze. Ich ergreife daher diese Gelegenheit
wenigstens
mit beyden

22
Händen um Sie wenigstens meiner aufrichtigen v unveränderten

23
Ergebenheit zu versichern. Was die Sache selbst anbetrift so bin ich nicht

24
im stande Ihnen die geringste Bedenklichkeit entgegenzusetzen, weil

25
ich mich gar nichts mehr erinnern kann, muß daher alles

26
schlechterdings Ihrem eignen Urtheil überlaßen und anheimstellen.
Wenn

27
gedachte
carte blanche
dadurch mit desto mehr Zufriedenheit d
as
en

28
geringste Vortheil zu Ihrer Absicht oder Plan auch
durch den
nur

29
bloß
en
Contrast
weise oder
per antithesin
erreicht werden kann,

30
indem
Ich
aber
setze den BewegungsGrund ihrer Anfrage zugl

31
als eine
Regel bey der
Richtschnur zur Ausführung zum voraus

32
setzen darf
,
und
im Fall ich nur das
Decorum
eines
Anonymi

33
für mich selbst habe, werde niemals auch das ärgste niemals übelnehmen

34
werde, solang ich als
. Was ich vom
Decoro
des
Anonymi

35
gesagt, betrift nur eigentl dasjenige was ich selbst schreibe, das ich

S. 524
niemals weder recht Herz noch Lust gehabt habe zu rechtfertigen.

2
Ich suche dadurch nicht im geringsten die Urtheile anderer gegen mich

3
einzuschränken und überlaße es einem jeden gern dasjenige selbst zu

4
verantworten, was er selbst schreibt. Ich mache Ihnen diese verlorne

5
Anmerkung, liebster Freund nur auf allen Fall, daß der übrigen

6
Correspondence
dadurch nicht ein Haar entzogen wird, sondern alles

7
der Wahrheit des damaligen Periods gemäß bleibt. –

8
Ich schreibe bey Licht, welches gar nicht mehr gewohnt bin. Wenn

9
s
Sie von mr. gegenwärtigen Verfaßung nichts wißen, so melde

10
Ihnen daß über 2 Jahre bey der Hiesigen
Prov. Direction
als

11
Secretair Traducteur
arbeite mit viel Zufriedenheit aber so überhäuft

12
daß ich bey meiner verjährten
Atonie
des Geistes kaum Augenblicke

13
übrig behalte zu naschen geschweige zu
studie
ren. Unter allem häusl.

14
Druck und
privat
Mühseel. hof ich noch immer auf eine Zeit der

15
Erholung und ich bin zufrieden daß mir mein gegenwärtiges Joch

16
erträgl. ja bisweilen leicht fällt. Außer meinem Beruf finden sich noch

17
immer Kleinigkeiten die meine unbändige
Hyp.
oder Fantasie in

18
Wichtigkeiten verwandelt und
vice versa
; aber auch in diesem Betrug

19
ist etwas unterhaltendes. Der Himmel weiß, wenn ich unserm Freund

20
Phaedon
sein
agio
werde vergelten können. Die Noth hat mich jetzt zu

21
einem so guten Wirth gemacht daß ich eins von seinen goldnen

22
Pferden
Nunquam retrorsum
die er mir damals zum Vorspann

23
vorstreckte noch bis jetzt zum Andenken aufgehoben habe. Ihren

24
Rammler überhebe ich sich meiner zu erinnern so lang er einen meiner

25
Landsleute, wenn ich die Litthauer dafür ansehen darf, seinen Freund

26
nennt. Seit dem
Valet
Briefe unsers
Herders
weiß nichts von ihm.

27
Mein blindes Gefühl hat den großen Mann in seinem damaligen

28
embryon
des
Genius Saec.
oder
mores eruditorum
oder wie es heißt

29
so genau erkannt daß ich den Litteratur Briefen gern etwas von

30
meinem
Instinct
gewünscht. Ein wahres
caput mortuum
einer

31
Gottschedischen Belustigung des Verst. v Witzes mit der lateinischen

32
Sprache vereinigen wollen ist in meinen Augen ein solcher Unsinn

33
des Geschmacks den mir mein
Caius Herennius Rapidius
eingebläut

34
bey dem ich Jahre lang wider allen
academi
schen Wohlstand den

35
Cicero exponi
rt ungeachtet
Plinius
einer meiner ersten Autoren war

36
die ich als Schulknabe oder vielmehr Junge gewesen war. Daß es

S. 525
mir nicht mögl. fällt einen einzigen römischen Perioden eines solchen

2
Schriftstellers ohne Colik und Bauchgrimmen herunterzukriegen; und

3
der bitterste unverschämteste Spott der Alten sind wohl die
Panegyr
en

4
und Nachahmungen solcher Schüler. Ich wage mich in ein Feld wo

5
ich nicht mehr zu Hause gehöre und bescheide mich mit einem
non

6
nostrum est tantas
 – Einen guten Abend kann ich mir demohngeachtet

7
von HE
Lessings
2ten Theile versprechen. Ist der Verf. der

8
romantischen Briefe noch ein Räthsel? und darf man keine Fortsetzung

9
erwarten. Umarmen Sie unsern lieben Phädon, die ich anderthalb mal

10
gelesen aber nicht Zeit gehabt beurtheilen zu können. Roußeaus

11
Anmerkung über
Plato
scheint mir zieml. gegründet. Nun gute Nacht

12
und Gott empfohlen biß auf ein glückl. munteres Wiedersehen.

13
Hamann. Nicht im Hartungschen Buchladen sondern auf dem

14
Accise
v Zoll
Directorio
zu erfragen, nicht
sedentem
sonder

15
stantem in telonio.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Friedrich Nicolai/I/30/Mappe 11, 7–8.

Bisherige Drucke

Otto Hoffmann: Hamann-Briefe aus Nicolais Nachlass. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte I (1888), 123 f.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, II 2.

ZH II 478–480, Nr. 368.

Zusätze fremder Hand

480/26
Friedrich Nicolai

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
479/10
überliefern
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
überlaßen
479/13
ich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ich
479/14
R
recht
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
recht
479/24
Zufriedenheit
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Zufriedenheit,
479/28
mi
s
r
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mir
480/7
–10
⸂den […] war.⸃]
Geändert nach der Handschrift: Mit Einfügungszeichen am linken Rand des Blattes notiert.
480/11
römischen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
romischen
480/13
Panegyricus
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
Panegyrici
480/15
nostrum est tantas
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nostrum tantas

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
nostrum
est
tantas
480/26
1769. […] Hamann]
Hinzugefügt nach der Handschrift.