333
380/30
Wehrtester Freund,
31
Ohne auf eine Beantwortung meines lezten Briefes zu warten: schreibe ich
32
bei Gelegenheit des Schreibens,
das ich
nebst meiner Odenabhandl. aus
33
Mitau erhalte. Ich sage:
mit
bei Gelegenheit
; denn vieles darinn habe schon
34
vorher beantwortet, daß dieser Brief mir also meistens nur Winke zu
S. 381
Gesprächen geben wird; u. Geliebte, Zauberer u. Helden verstehen sich mit dem
2
Winken sehr gut. –
3
Meine Handschrift habe sogleich durchlaufen, wie ein Vater sein verlornes
4
Kind; aber ich sage es ihnen noch einmal, daß vielleicht blos der Name
5
desselben, bei der Firmelung, bleiben soll, die ich ihm zu geben gedenke: nur
6
wenn? weiß ich noch nicht. Da ich immer mehr meine hiesige Situation, den
7
Genius dieses Orts, u. meine eigne Projekte kennen lerne: so mehren sich
8
meine Arbeiten, meine Einsichten, u. meine Melankolien: es ist ein elend,
9
jämmerl. Ding um das Leben eines Literatus – u. insonderheit in einem
10
Kaufmannsort; ein
Prophet
sagt wohl freilich immer: dies ist die
Last
über
11
Tyrus
; – aber dazu wird auch wirklich die Myopie eines Philosophen erfordert
12
um diese Last nicht zu sehen. Ich suche also, mein Amt abzuwarten, u. nicht
13
zu singen, sondern zu arbeiten. –
14
Die Anmerkungen, die Sie über meine Schreibart, säen, sollen auf ein gutes
15
Land fallen, nur hören Sie, was ich dagegen habe. Ich weiß, Sie nehmen das
16
Wort Styl so, als Winkelmann das Wort
Geschichte
nehmen will, u. darauf
17
antworte ich, wenn man von sich selbst urteilen kann, oder soll, oder
will:
Ich,
18
und mein Stil
selbst bin noch immer unreif; ein
pomum praecox
zu einem
19
Amte, zu einer Schulstelle, zu einem
gesezten
Umgange u. Stil.
und
Meine
20
ganze Bildung gehört zu der wiedernatürlichen, die uns zu Lehrern macht, da
21
wir Schüler seyn sollten. Haben Sie Mitleiden mit mir, bester Freund, daß
22
mich das Schicksal in einem pedantischen Mohrungen hat geboren werden
23
laßen; daß ein
einseitiger
Trescho meinen ersten Funken weckte, daß ich in
24
Königsb., mit dem Zepter des Korinthischen Dionys mir meine Galgenfrist zu
25
studiren habe erwuchern
müßen. Hätte ich außer einem Kant
noch Pedanten
26
hören können,
die meine
Hitze hätten abkühlen, u. mir
Schulmethode
hätten
27
lehren sollen; hätte ich durch
d
as
en
Umgang mir den Weltton angewöhnen
28
können; hätte ich mehr Uniformes mit der Universität, u. dem Gros meines
29
Stabes angenommen: so würde ich vielleicht
anders
denken, aber auch nicht
30
dasselbe denken. Ein siebenmonatlicher Embryon muß viele Nachbildung u.
31
Wartung haben, ehe er sich zur Luft der Menschen
gewöhnet,
u. ich gestehe gern, daß
32
ich das Phlegma eines
homme d’esprit,
noch gar nicht mit dem Enthusiasmus
33
des
Genies
zu verbinden weiß. –
34
Meine Studien sind wie Zweige, die durch ein Ungewitter
mit einemal
35
ausgetrieben worden: mein Gedichte gehören zur Zeit des hohen Stils, der
36
sich
mit
plötzl. aus dem Chaos emporschwang, u. die Gratie noch nicht
37
kannte: aber wißen Sie auch, daß ich noch nicht im Alter der
Reife
, sondern
S. 382
der
Blüthe
bin: eine jede hält eine ganze Frucht in sich, aber viele fallen
2
freilich auf die Erde. Wollen Sie an einem jungen Baum lieber
abschreiben
3
abschneiden,
als
oder einpropfen. Spornen Sie mich also an, vieles zu
4
entwerfen; nichts aber, als Autor vor die Ewigkeit ausführen zu wollen: es
5
kommen immer Jahre,
da
unsre Augen nicht mehr zeichnen, sondern ausmalen. –
6
Stellen Sie sich meine Pein vor, die ich haben muß, um einen Gedanken
7
auszubilden, zehn jüngere zu verlieren; u. hingegen die
Zeugungsbrunst
8
eines Schriftstellers, der was er
säet
, Menschen, u. was er schreibt,
Gedanken
9
werden sieht. Ein Jüngling wird blos
Vater
,
weil
um sein selbst willen,
10
weil die Brunst des Thiers ihn treibt; u. erst einen Greis muß seine junge
11
Gattin zu diesem Liebeswerke anfeuren, daß er sich dadurch bei der Nachwelt
12
verewigt. Ich mag mit Kalibanen des Shakespears, oder mit Puppen die
13
Welt bevölkern, ich will nicht umsonst Mann seyn –
14
Gnug von mir dem Schriftsteller – denn ich glaube doch nicht, daß Sie mich
15
den Briefsteller, beurteilen – noch 2. Worte von mir dem Scholastikus, u.
16
einem
Collaboureur
des hiesigen Gottesackers.
Hier
Sie kennen mich zu
17
wenig von dieser Seite; indeßen wenn Ihre Lection irgendwo gilt, so gilt Sie
18
hier dreifach, wo man die lose Kunst, die Sie anstechen, gleich jener hält,
19
Linsen zu werfen; u. wo man alles mit Maas, Zahlen, u. Gewicht mißt, selbst in
20
denen Wißenschaften: Sie sehen, daß ich an einem solchen Orte, meiner
21
Lieblingsseite eine Lähmung des Schlages anwünschen muß, um mit der andern
22
zu arbeiten. Die Amazonen brennen sich die Brust ab, um zu
fechten –
23
Sie sehen aus dem ganzen Ton dieses Briefes, daß ich jetzt eine zu unruhige
24
Laune habe, u. gar zu sehr mit mir beschäftigt bin, um so gleich von Ihrem so
25
treuen Beitrage Trauben lesen zu können u. ich lege den Brief in das heilige
26
Archiv meiner Grundriße u.
zu
Projekte, um wenn meine ganze Seele lebt,
27
ihn zu genießen. –
28
An Neuigkeiten bin ich arm; ich habe den
Windheim
bis zum Eckel
29
durchgelaufen, was die Prakt. Phil. anbetrift, u. wünsche bei
Muße,
u. Geist:
30
Michaelis
von der Sünde:
Baile
über die Worte: nöthige sie herein zu
31
kommen;
Premontval
vom Hazard u.
Reinhard
über die Freiheit zu lesen.
32
Wißen Sie etwas beßers hierin so sagen Sie es mir, liebster Freund!
33
Sie fahren noch in ihrem Stöhnen fort; unglücklicher Hamann! wozu wird
34
uns der Himmel machen. Thun Sie, was Ihnen ihr Genius sagt, wählen Sie
35
aber dazu nicht einen
κακοδαιμων.
Gehts drauf los, so strecke beide Hände
36
nach Ihnen aus, mein Freund, u. bleibe bis zu einem baldigen Briefe Ihr
37
Herder.
S. 383
ici – a present.
2
Da mir alle Lust zu schreiben vergeht: so lege eins meiner Gedichte bei; ich
3
glaube, es wird mehr ein Ganzes seyn, als meine vorigen. Inlage bestellen
4
Sie doch, bester Freund auf die
Post
Veränderte Einsortierung
Die Einsortierung wurde gegenüber ZH verändert, sie erfolgt chronologisch zwischen Brief Nr. 304 und 305.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 44.
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 30–32.
ZH II 380–383, Nr. 333.
HBGA I 45–47, Nr. 15.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
380/32 |
das ich ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: da ich Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): das ich |
381/17 |
will: ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: will. |
381/25 |
studiren […] erwuchern] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: stud irenhabe eriwuchern Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): studiren habe erwuchern |
381/26 |
die meine ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: de meine Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): die meine |
381/27 |
d as en ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: den |
381/31 |
gewöhnet, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: gewöhnt, |
382/5 |
da ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: die |
382/9 |
Vater , ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Vater, |
382/16 |
Collaboureur |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Collaboureur |
382/22 |
fechten – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: fechten. – |
382/29 |
Muße, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Muße |
383/4 |
Post ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Post. |