272a
XXXI/4
Frankfurt.
den 30.
Aug.
64.

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Hochwolgeborner Herr,

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Höchstzuehrender Herr Geheimer
Rath,

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Gnädiger Herr,


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Ich wandre…
aus der 8. Strophe des Liedes
Ich bin ein Gast auf Erden
von
Paul Gerhardt
Ich wandre meine Straßen,

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Die zu der Heimat führt,

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Da mich ohn’ alle maaßen

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Mein
Vater
trösten wird.


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Den 21.
Jul.
bin ich hier angekommen u. morgen wills Gott! als den

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lezten dieses gehe über Leipzig nach Berlin. Wie mir diese Zeit über zu

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Muth gewesen, können Ew. Hochwolgebornen leicht erachten. Stellen Sie

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Rohrdommel…
Ps 102,7f.
sich einen Rohrdommel in der Wüsten vor – einen einsamen Vogel auf

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dem Dach. Beßer weiß ich das große Leere in meinem ganzen Gemüth

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Garbischen Buchladen
Johann Gottlieb Garbe
nicht auszudrüken. Aus Noth habe meine meisten Tage hier im Garbischen

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Buchladen zugebracht u. mit dem Verleger Ihrer neuesten Schriften eine

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Reise nach Strasburg u. Basel gethan, wo ich das ungenuzte Vergnügen

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gehabt außer mehrern Bekanntschaften, die meinem Geschmak bey einer

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HE. Hofrath Pfeffel
Gottlieb Konrad Pfeffel
; mit Schicksal ist wohl dessen Erblindung gemeint.
andern Lage gemässer gewesen wären, auch den HE. Hofrath Pfeffel in

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Colmar zu sehen. Sein Haus
u.
sein Schiksal hat mich so eingenommen,

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daß ich mich unter gewißen Verlegenheiten, die ich umsonst gefürchtet,

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Amanuensis
Handlanger, im Sinne von Schreibgehilfe oder Sekretär
entschlossen haben würde, sein
Amanuensis
zu werden – falls meine

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HE. Joh. Ge. Gebhard
Johann Christian Gebhard
Verbindlichkeiten gegen HE. Joh. Ge. Gebhard, der mit dem Familiengeiste seiner

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Handlung vielen Wiz eines lebhaften Umganges verbindt, mein Wißen u.

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Wollen übertroffen haben sollten; werden Ew. Hochwolgebornen eben so

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geneigt als leicht im Stande seyn, meine Unvermögenheit zu Gegendiensten

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zu ersezen.

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In Ermanglung zureichender Gründe mich selbst zu entschließen, bin

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ich durch einen Zusammenhang oder vielmehr durch einen Wirbel kleiner

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Frau Gemalin
Ernestine v. Moser (gest. 1770),
Mosers
erste Frau (seit 1749)
Umstände gedrungen
worden
dero gnädige Frau Gemalin zu überlaufen.

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Um einer mündlichen Erklärung die mir schwer fällt, überhoben zu seyn,

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suchte ich mich durch Ew. Hochwolgeb. lezte Zuschrift, mit der ich beehret

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worden, zu
legitimi
ren; ich bedaure aber, daß ich an die Ehre dieser

S. XXXII
Bekanntschaft nicht ohne Schaam über ein grobes Mißverständnis zurükdenken

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kann.

3
Ziel meiner Reise
Hamann wollte in Frankfurt
Friedrich Carl von Moser
besuchen.
Ohngeachtet ich das Ziel meiner Reise verfehlt habe, u. selbige in einen

4
Kreuzzug
Anspielung auf
Hamann,
Kreuzzüge des Philologen
abermaligen Kreuzzug
p
so hoffe ich doch alle meine Wünsche u. Absichten

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erfüllt zu haben, wenn ich mich mit dem Glük schmeicheln kann, mein

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Vaterland u. die meinigen gesunder, mithin auch vernünftiger u. zahmer bald

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wieder zusehn.

8
Sie haben Ihr Beßtes gethan, würdigster Freund, mich von dem Adel

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Ihrer Gesinnungen zu überführen, u. ich habe gleichfalls das meinige thun

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wollen Ihnen meine persönliche Dankbarkeit zu überbringen. Der

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Ebril
Johann Arnold Ebert
, vmtl. Verschreibung in der Abschrift
rechtschaffene
Ebril
in Braunschweig nebst dem
Prof.
Zachariä haben mir

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beyde einen Gruß an Sie aufgetragen, falls ich das Glük haben sollte – –

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Aufgeschoben
nicht aufgehoben. Denn hofften wir allein in diesem Leben;

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so wären wir die unglüklichsten unter allen Menschen.

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Es kommt der Tag…
Kompilation verschiedener Kirchenlieder. „meine Ruh / Gott bist einig Du!“: aus der 5. Str. von
Simon Dach
, „Selige Ewigkeit“. – „aller Väter Schaar“: aus der 2. Str. von Heinrich Held, „Gott sei Dank durch alle Welt“ (dort „alten Väter Schar“). – „lieben alten…“: aus der 4. Str. von
Paul Gerhardt
, „Ich bin ein Gast auf Erden“
Es kommt der Tag, wo Gott

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– – all ungeschikte Sachen

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wird richtig machen.

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Es kommt der Tag, wo wir werden sagen:

19
– – meine Ruh

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Gott bist einig Du!
wo
wir werden sprechen immerdar,

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aller Väter Schaar u. die lieben Alten

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an deren Fuß u. Pfad

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wir uns noch täglich halten,

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wenns fehlt an gutem Rath.

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Ich umarme Sie u. werde Zeit haben auszuschlafen, u. werde satt seyn,

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wenn ich erwache. Fahren Sie fort, wenn Sie können, sich meiner zu

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erinnern.

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Ich ersterbe

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Ihr

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treuergebenster Freund u. Diener

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J. G. Hamann.

Provenienz

Eine Abschrift des Briefes von Johann Caspar Lavater, aufbewahrt in Zürich, Zentralbibliothek, Signatur FA Lav. Ms. 510.273. Original verschollen. Letzter Aufbewahrungsort unbekannt.

Bisherige Drucke

Walther Ziesemer: Unbekannte Hamannbriefe. In: Altpreußische Forschungen 18 (1941), 302 f.

ZH III XXXI–XXXII, Nr. 272a.

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