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den
12 Febr. 1760.
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Mein lieber Bruder,
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Dein Vater wartet mit Schmerzen auf Briefe von Dir. Du schiebst Deinen
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Dank für überschickte Sachen lange auf. Der Pelz ist angekommen und Putz
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hier gewesen. Wir danken herzl. dafür. Ich habe Dir lange nicht ordentl.
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schreiben können; und will es heute suchen nachzuholen. Das letzte mal schrieb
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auf dem Bett. Ich habe mich 14 Tage einhalten müßen; jetzt befinde mich Gott
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Lob! gesund.
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Ich werde erst einige Antwort auf Dein letztes Schreiben geben; und von
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mir selbst anfangen. Du hast nicht nöthig in Gleichnißen mit mir zu reden.
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Ich werde Dir nichts übel nehmen. Es ist eine
Gabe
Allegorien zu machen,
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und Allegorien auszulegen. Sie beziehen sich auf einander. Ich habe Dir schon
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bey einer andern Gelegenheit geschrieben, daß
Nachahmen
und
Nachäffen
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nicht einerley ist. Die Verhältnis in der ich mit meinen Freunden stehe, ist
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ganz anders, als die Deinige, und vielleicht auch die ihrige gegen mich. Du
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magst selbst Anlaß nehmen, nachzudenken. Wenn wir nichts als ein Spiel des
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Witzes daraus machen, so üben wir uns dadurch in einem hämischen Witz, der
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Wahrheit und Liebe den Pflichten aufopfert, um sich hinter den Schirm kützeln
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zu können, gewöhnen uns an Verdrehungen, Doppelsinn. Ich habe für desto
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nöthiger gefunden diese Erinnerung Dir zu thun, weil ich sehe, daß klügere
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Leute sich nicht schämen meine Tadler und Nachfolger beydes auf eine nicht zu
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geschickte Art zu seyn. Es gehört also ein wachsames Auge auf sein eigen Herz
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so wohl als die Gegenstände, mit denen man zu thun hat; und nicht eine bloße
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Geschicklichkeit andern nachzuspotten. Einer kann sich Freyheiten aus
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Leichtsinn nehmen, und sich das Exempel eines andern zum Muster stellen, deßen
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alles zu prüfen …
1 Thess 5,21
Erkenntnis und Gefühl noch für ihn zu stark ist. Es ist uns befohlen, alles zu
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prüfen, und das Gute nur anzunehmen. Ich halte es nicht für nöthig Dir die
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Fehler in Deinen Anspielungen zu entdecken. Meynst Du, daß es eine Kurzweil
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ist, solche Schüler vor sich zu haben, die zu schläfrig sind geistl. Dinge zu hören,
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und die man ärgert, wenn man auf eine geistl. Art davon mit ihnen reden
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wollte, daß man sich zu irrdischen Bildern herunterlaßen muß, wenn sie einigen
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Begrif davon haben oder einige Lust dazu bekommen sollen. Wir können das
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Verderben unsers Nächsten nicht sehen ohne an unser eigenes zu denken und
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diese Rücksicht beugt uns; und diese Demüthigung giebt unserm Geiste Kräfte
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und macht uns zu Wendungen aufgelegt, die ein gerad und steif denkender
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Philosoph nicht nachzumachen im stande ist.
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Wagners
Wagner,
Sprachlehre der Griechen
Das zweyte ist Dein Urtheil über Wagners Grammatik. Heist das Urtheilen,
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mein lieber Bruder: „Sie ist
sonst
sehr gut und kann zur
Anleitung jeder
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Sprachlehre dienen
; aber etwas zu kurz und ein bloßes Gerippe. Ich ziehe
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Müllers
nicht ermittelt
Müllers vor.“ Deines Wirths Urtheil ist ein wenig feiner aber sieht nach eben
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dem Bilde und der Ueberschrift aus, und ist d
ie
er verbeßerten Ausgabe
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eines Buchs gleich, das niemals gut werden kann, wenn es auch zehnmal
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verbeßert auskäme, weil es im Zuschnitt verdorben ist. Wir wollen nur so
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aufrichtig seyn und bekennen, daß wir alle drey nicht stark genung im
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griechischen sind um diese Grammatik zu verstehen; und daß sich ein Buch schwer
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Kindern erklären läst, dem man selbst nicht gewachsen ist. Ein Schüler kann
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sich bey einer mäßigen Lust und Fähigkeit mit Müllers Grammatik selbst
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helfen, ohne
Praeceptor.
Wenn wir also einen Schüler fragen möchten:
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welches Buch gefällt dir beßer? so würde er sich unstreitig für dasjenige
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erklären, das ihm am
leichtesten
wäre. Denn alle Schüler haben Lust zu lernen,
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und
Bequemlichkeit
, mit leichter Mühe zu lernen. Diese Denkungsart schickt
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sich für keinen Lehrer, der seine
Gymnasia
sten abhärten will, und daher selbst
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die Schwierigkeit nicht achten muß. Wenn lehren aber in nichts anders
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besteht, als daß ich ein
Pensum
meinen Untergebnen aufgebe, daß er ohne
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meine Mühe sich einprägen muß: so ist
Müller
und
Gottsched
ein
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vortreflich Muster, das Lehrern und Schülern nicht sauer wird. Ein Gerippe muß
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trocken und dem Gesicht unangenehm, von Adern, Sehnen und Fleisch
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entblößt; wiedrigenfalls ist es ein Aas oder Luder. Diese dürre Knochen muß
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viua vox
dt. lebendige Stimme; s. Luthers Verwendung dieser Wendung in der Auslegung von Gal 4,20 in WA 57 II S. 34.
eben der Geist des Lehrers
bekleiden
und
beseelen
. Das ist
viua
vox
im
2
vox humana
Orgelregister (kurzbechriges Zungenregister), bes. zur Imitation der menschlichen Sangstimme.
Unterricht, eine Tochter einer
lebendigen Erkenntnis
, und nicht wie
vox
3
humana,
eine Orgelpfeife. Gründliche Einsichten sind nicht leicht, sie müßen
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gegraben und geschöpft werden – –
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den 19 Fastnacht
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Wir feyren heute Fastnacht mein lieber Bruder. Gott laße auch diese Zeit
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an Dir geseegnet und heilige auch einige Augenblicke Deiner Tage dem
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Andenken unsers Mittlers und Fürsprechers. Ich habe Dir mit letzter Post nicht
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schreiben können; weil ich eben mit meinen Briefen an HE Arend B. fertig
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wurde. Dein Vater wartet mit Schmerzen auf Briefe von Dir, du hast in dem
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letzten ihm Hofnung dazu gemacht, und nicht Wort gehalten. HE Carl B.
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empfängt einen wilden Schweinskopf von mir; sollte schon vorige Woche
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HE Wagner
Friedrich David Wagner
abgehen, ist aber kein Fuhrmann gefahren. Jetzt eben hat HE Wagner eine
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Paudel
litauisch: pudlar, längliches Kistchen
HE. J. C. B.
Johann Christoph Berens
Paudel dazu eingepackt an HE. J. C. B.
addressi
rt, worinn aber nichts als die
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Journal de Commerce
18 Tle. 1759–62, ab 1762 fortgeführt als
Journal de commerce et d’agriculture
(Brüssel: Van den Berghen, dann Brüssel: De Bast)
10 Monathe vom
Journal de Commerce
an ihn sind, die gestern mit der Post
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HE Mag.
Johann Gotthelf Lindner
angekommen. Das übrige ist an HE Mag. Ein Säckchen von seiner
Mama
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mit Grütze; einige Stricknadeln. Riegers Paßionsandachten nebst einem
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lateinischen Buche habe für ihn hier ausgesucht. Die ersten kenne nicht; sind mir
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HE Trescho
Sebastian Friedrich Trescho
aber von HE Trescho, einem guten
Recensen
ten, sehr gelobt worden, der mir
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HE. Diac. Buchh.
Johann Christian Buchholtz
auch ein mal eine einzige Seite daraus vorgelesen. HE.
Diac.
Buchh. der
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uns gestern besuchte hat mir dies Buch auch zu meiner Erbauung dieser Zeit
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Lettre de Mr. Rouss. à Volt.
Rousseau,
Lettre à M. de Voltaire
Kant
Immanuel Kant
HE B.
Johann Christoph Berens
versprochen.
Lettre de Mr. Rouss. à Volt.
schickt
Kant
zurück an HE B.
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Bengels Zeigefinger
Bengel,
Gnomon Novi Testamenti
Ich studiere jetzt mit viel Nahrung für mich
Bengels
Zeigefinger über das
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N. T. Dieser Autor hat sich durch seine Ausgabe des N. T. und durch seine
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chronologische Versuche
u.a.
Bengel,
Ordo temporum
;
Böhmer,
Herrn Joh. Alb. Bengels Prophetische Zeitrechnung
chronolog
ische Versuche in der historischen und prophetischen Zeitrechnung
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berühmt gemacht. Du weist daß ich die kleine Ausgabe des ersteren besitze,
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große
die Tübinger Quart-Ausgabe.
über die ich mich sehr freue. Die große habe gestern zum erstenmal gesehen,
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und ich würde sie allen andern vorziehen, der Vollständigkeit des Textes, und
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der Reinligkeit wegen, womit er gedruckt ist in 4. Er hat einen glücklichen
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Te totum applica …
Übers.: „Wende dich ganz dem Text zu: die ganze Sache wende auf dich an.“ In Bengels Vorrede zur Oktav-Ausgabe auf S. 7
Ausdruck in Sinnsprüchen; einer der seinigen ist gewesen:
Te totum applica
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υστερον προτερον
hysteron proteron, Umstellung (auch von Buchstaben), Umkehrung
ad textum: rem totam applica ad te.
Es ist ein
υστερον προτερον
in dieser
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Sentenz.
Das erste muß das letzte. Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem
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Buch
von ihm
geschrieben stehet; desto mehr wächst der Eyfer zum
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Schulmeisterinn …
Gal 3,24
Buchstaben des Wortes. Die Critik ist eine Schulmeisterinn zu Christo; so bald der
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Magd …
Gal 4,30
Glaube in uns entsteht, wird die Magd ausgestoßen und das Gesetz hört auf.
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Der geistl. Mensch
1 Kor 2,15
Der geistl. Mensch urtheilt denn; und sein Geschmack ist sicherer als alle
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pädagogische Regeln der
Philologie
und
Logic.
S. 10
Der Titul von diesem Werk verdient daß ich ihn hersetze; weil der Autor
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den Inhalt seines Werks sehr genau beschrieben hat.
Gnomon Noui
3
Testamenti in quo ex natiua verborum vi Simplicitas, Profunditas, Concinnitas,
4
Salubritas Sensuum coelestium indicatur operâ Joh. Alb: Bengelii.
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Tubing.
742. 4. In der Vorrede führt der Autor einen sehr merkwürdigen
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Ausspruch
Wohl eine Zusammenfassung von Bengel (
Bengel,
Gnomon Novi Testamenti
, § XIV der ‚Praefatio‘) von ähnlichen Aussagen Luthers, etwa: Spiritus sanctus habet suam grammaticam (WA 39 II S. 104/24). Vgl. auch
Hamann,
Wortfügung
, N II S. 129/6ff.
Ausspruch unsers
Luthers
an, der von dem philosophischen Geiste dieses
7
Mannes ein Zeugnis giebt:
Nil aliud esse Theologiam, nisi Grammaticam
8
in Spiritus Sancti verbis occupatam.
Diese Erklärung ist
erhaben
und nur
9
dem
hohen
Begrif der
wahren
Gottesgelehrsamkeit
adaequat.
Das
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affectuoso
vor allem ein musikalischer Begriff: nachdrückliche Spielart
N. B.
Neuen Bundes
Patheti
sche und das
affectuoso
in der Schreibart der Bücher des N. B. ist ein
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τα ηθη
Anmut, Beschaffenheit der sprachlichen Hülle; diese Wendung und die folgenden Begriffe in:
Bengel,
Gnomon Novi Testamenti
, § XV der ‚Praefatio‘.
Decorum
das Angemessene (bes. in der Rhetorik, der Sache nach wie auch in Bezug auf gesellschaftliche Konventionen)
Gegenstand;
τα ηθη
, oder das
Decorum
der andere. Von dieser Seite hat
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man wenig Ausleger; und in dieser Betrachtung ist dies Werk ein
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affectus und mores
leidenschaftliche Ergriffenheit und schicklicher Ausdruck
Hauptbuch.
Argumenta
haben Ausleger genung:
affectus
und
mores
gar keine oder
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sehr wenige gehabt.
Provenienz
Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1940. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 1 (68).
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, III 11–16.
ZH II 7–10, Nr. 178.