372
S. 4
Kgsberg den 13
Sept
770.

2
Herzlich geliebtester Freund,

3
Ich erinnere mich noch des
Agio,
das Ihnen für Ihren Vorschuß schuldig

4
bin, unterdeßen der
Cours
ist jetzo vor der Hand noch zu schlecht, und ich

5
warte auf beßere Zeiten mit der Sehnsucht eines Rabbinen und Chiliasten.

6
Vergeben Sie es einem alten guten Freunde, der sich ehmals um Ihre

7
Buhlschaft
bekümmert, daß er sich nach 7 oder 10 Jahren ein wenig Ihrer

8
Vaterschaft
annehmen darf. Was ich Ihrem Freunde und Verleger

9
geschrieben, das wiederhole ich Ihnen. Wenn Sie Ihre Kinder lieb haben und

10
für selbige noch die Plage der Blattern fürchten müßen: so tragen Sie keinen

11
Augenblick Bedenken Sie dem geschickten und würdigen Mann und englischen

12
Artzt anzuvertrauen, den ich hiedurch zugleich ihrer sympathetischen

13
philosophischen und ästhetischen Denkungsart bestens und aufs nachdrücklichste

14
empfehle. Er wird sich selbst
nennen
; übrigens beziehe mich auf meinen Brief

15
an HE
Nicolai.
Vielleicht haben Sie einige Gelegenheit sich um einen Mann

16
verdient zu machen, der Ihrer Bekanntschaft und gantzen Achtung würdig
ist. –

17
Gesetzt daß Sie auch eben nicht neugierig wären, liebster Freund, sich um

18
meine gegenwärtige Verfaßung zu erkundigen: so werden Sie es theils

19
meinem Mangel der Welt theils meiner Hypochondrie zugutehalten mich hierüber

20
zu erklären. Es geht jetzt ins vierte Jahr daß ich bey der Hiesigen
Provincial-

21
Accise
und
Zoll
Direction
als
Secretaire-Traducteur
stehe, mit einem

22
monathl. Gehalt von 16 rth angefangen habe und gegenwärtig bis zu 30

23
gestiegen bin. Mein Schicksal ist also von solcher Bewandnis daß ich mehr

24
Ursache habe mit selbigem als mit mir zufrieden zu seyn. Ich bin aber den

25
gantzen Tag so besetzt mit Arbeit, daß ich für meine Augen und meine

26
Gesundheit fürchten muß, und daß wenn ich zu Hause komme, ich nicht mehr

27
weiß
ob
und
was
ich anfangen soll. Unterdeßen wohnt noch immer in meinem

28
Busen die Erbsünde der gelehrten Neugierde, der Lesesucht und einer

29
gewißen unbestimmten Lüsternheit nach Dingen die nicht der Mühe werth oder

30
doch über meinen gegenwärtigen Horizont sind. Zu Anfang dieses Jahres fiel

31
es mir auf einmal ein mich auf die
Vaterlandsche Geschichte
zu
lesen
legen
; ich

32
versprach mir viel Vortheil von einem festen Gegenstande, mit dem ich mich

33
allmählich beschäftigen könnte, und der gantz
neu
für mich ist. Ohngeachtet

34
dieses
des
Reitzes einer idealischen Jungferschaft sind auch diese
molimina
noch

35
fruchtlos gewesen. – Ich beziehe diesen Michaelis ein kleines Häuschen, das

36
ich in der Nachbarschaft meines
Bureau,
von dem ich jetzt eine halbe Meile

S. 5
weit wohne, die ich vier mal des Tages diesen gantzen Sommer habe laufen

2
müßen, gekauft habe. Wiewol ich nur wenig Beqvemlichkeit und Vortheil

3
von
bey dieser neuen Einrichtung
versprechen
vorstellen kann; so

4
verspreche ich mir doch wenigstens etwas mehr Ruhe und Stätigkeit, auch für

5
meine Gesundheit einige gute Wirkungen von dem bisherigen Gebrauch der

6
China
und eines
Thé
von der gemeinen
Baldrian
Wurzel, den ich kürzlich

7
auf Empfehlung meines Freundes des
D. Motherby
mit vielem Geschmack

8
zu trinken angefangen.

9
Ich besorge nicht, liebster Freund, daß Ihnen dieser vertrauliche Ton eckel

10
und beschwerlich seyn wird, in dem ich mich über meine kleine Angelegenheiten

11
gegen Sie ausgeschüttet. Vergelten Sie mir bey einer müßigen Stunde mit

12
gleicher Münze und laßen Sie mir auch etwas von Ihrer jetzigen Lage wißen.

13
Ich schmeichele mir noch immer, da bereits so viele meiner Ahndungen

14
eingetroffen, noch einen Sabbat in meinem Alter zu erleben, der mich wieder

15
verjüngen wird und wo ich mit einem Schriftsteller Ihrer
Nation
seg
werde

16
rühmen können, der letzte aufgewacht zu seyn; wie einer der im Herbst

17
nachlieset, und dennoch seine Kelter gefüllt zu haben –
εν ευλογιᾳ Κυριου εφϑασα,

18
και κατεκληρονομησα αυτους καϑως απ’ αρχης.

19
Nun mein Freund wartet auf den Schluß dieses Briefes und Sie werden

20
vermuthlich auch der Mühe ihn zu entziffern überdrüßig seyn. Da ich mir

21
ohnedem nicht zutraue Ihnen etwas Kluges mehr schreiben zu können: so

22
empfehle ich mich Ihrem fernern gütigen Andenken, umarme Sie im Geist

23
und werde mich bey Gelegenheit wieder melden, wiewol ich Sie auch ersuche

24
sich auf gl. Fuß meiner zu erinnern. Grüßen Sie aufs herzlichste Ihre liebe

25
Hälfte, und gantze Familie. Ich bin mit der innigsten Aufrichtigkeit Ihr treu

26
ergebenster Freund und Diener

27
JG Hamann.


28
Adresse mit Siegelrest (Kopf des Sokrates nach links):

29
à Monsieur / Monsieur Moyse Mendelsohn / Savant très celebre / à /
Berlin

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1840.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 3.

ZH III 4 f., Nr. 372.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
4/16
ist. –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ist.
4/21
Zoll
Direction
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Zoll
Direction
4/31
lesen
legen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
legen
4/34
dieses
des
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
des
5/15
seg
werde
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
werde