335
384/20
Mein liebster H.

21
Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, für den Antheil, den Sie an meinem

22
Mißvergnügen nehmen, und fühle es bei diesem Vorfall recht sehr, was es

23
heißt, einen wahren Freund haben. Ich hätte also in eben dem Feuer, in

24
welchem ich Ihren Br. las, Ihnen so gleich geantwortet, wenn ich nicht Freit u.

25
Predigt
nicht überliefert; laut
Hoffmann: Herders Briefe an Joh. Georg Hamann
, S. 32 am 7.12.1766
Sonnab. Nacht hätte schlaflos zubringen müßen, einer Predigt wegen, die ich

26
Sonntag früh
ge
halten muste, als ein Werk der Nothwendigkeit.

27
Entschieden war die Sache so gleich im Lesen u. jeder Augenblick Bedenkzeit hat diesen

28
Entschluß bestärket: daher ich ihn jetzt mit
der
Freiheit schreibe, so wie ich

29
ihn mit Vestigkeit faße.

30
m. l. H.
mein lieber Hamann
Wer nicht vorwärts gehet, geht zurück: m. l. H. Diese Warnung verbeut

31
mir eine Veränderung die Sie mir mit so vielem freundschaftl. Eifer

32
empfehlen
Hofmeister bei
Christoph Levin v. Manteuffel
zu werden, vgl.
HKB 334 ( II 383/15 )
empfehlen. Ich nehme mir alsdenn muthwilliger Weise das einzige Gut, das ich

33
habe:
Freiheit
, und
Unabhängigkeit
, und das ich jederzeit so hoch geschätzet,

34
Akademie
Universität Königsberg
daß ich, ohngeachtet aller drückenden Bedürfniß auf der Akademie, vor jedem

35
Privatengagement gezittert. Ich weiß, was man mir hierauf antworten kann,

S. 385
allein eine Empfindung, die so tief eingewurzelt ist, sollte
es
sie auch

2
Induktion
Einführung, Anreizung
Vorurtheil seyn, läßt sich nicht durch eine Induktion heben, die doch selbst blos

3
wahrscheinl. u. trügl. bleibt. Hier bin ich doch wenigstens vest und sicher,

4
Fruchtbaums
Arbor pomifera, vgl.
Plin.
nat.
, XVI,1
wenn nicht unter dem Schatten des reichen Fruchtbaums, so doch des friedl.

5
Ahorns
vgl.
Plat.
Phaidr.
, 229a–b (platanus wurde im 18. Jhd. meist mit Ahorn übersetzt)
Ahorns. Hier hängt mein Beifall von vielen ab, dort von einem einzigen und

6
meine Zufriedenheit ist so viel unsicherer.

7
Meine
vornehmste
Beschwerden werden nicht vermindert: hier
viele

8
Arbeiten, die
mich
blos drücken, weil sie nicht für mich sind; dort bin ich in

9
den Arbeiten noch fremder: hier
Neider
, und verläumderische Bösewichter,

10
und elende Tröpfe – die alle jauchzen, wenn sie mich so weit gebracht sähen:

11
hier das Unglück unter
einem
w
Kerl
wie Schl. zu stehen; dort, ein unbekanntes

12
Loos –
das
noch will ich ein Jahr warten, und denn breche alles! – 3. Jahre

13
habe ich mir und Riga versprochen, die will ich halten.

14
Hoffnungen sind dort keine: und hier verkürze ich alle die meinigen. Nach

15
3. Jahren auf Reisen – Gott! welche lange u. ungewiße Zeit; lohnt es
um

16
so eine Rahel, so lange zu dienen, um nachher einen Korb zu bekommen. –

17
Lettische Sprache
vgl.
HKB 334 ( II 384/13 )
Die Lettische Sprache – ich hätte sie hier längst anfangen können, wenn ich zu

18
irgend einer Sache in der Welt Lust hätte, u. Dorf Past. zu werden, noch am

19
wenigsten. – Ich fühle es, die äußere Ruhe auf dem Lande würde blos Quaal

20
seyn, und schleichendes Fieber. Noch will ich mich lieber winden u. seufzen,

21
und mich mit mir selbst quälen, und leiden und ausdauren: es muß ein Stoß

22
kommen, der mich hebt, und fortschleudert.

23
Uebrigens schäzze ich alle Ihre Mühe u. Freundschaft: die unverdiente Güte

24
des HErn Past. Ruprechts und die äußerlichen guten zuvorkommenden

25
m. Fr.
mein Freund
Empfehlungen des Hauses selbst. Nehmen Sie m. Fr. diesen Wink selbst an, sehen

26
Tode
Johann Christoph Hamann (Vater)
ist im September 1766 in Königsberg gestorben
Sie ihn als ein neues Jubiläum ihres Lebens an, das von dem Tode Ihres

27
Vaters
abhängt
anfängt. Hüten Sie sich
alsdenn
nur vor ihrem Rückfall

28
in eine alte Laune die sich selbst nicht brauchen will: so werden Sie daselbst

29
glücklicher leben, als ich. Um mich bemühen Sie sich nicht weiter, mein liebster

30
alter Fr.; ich Hans Gottfr. Herd. sage Nein!

31
Sie sehen aus diesem ganzen Briefe, daß ich in einem Zustande bin, den

32
kein Ort verändern kann – wer ist sich je entflohn. Ich habe gestern eine halbe

33
Nacht in einer kläglichen Gemüthsfaßung zugebracht, die ich meinem Feinde

34
lezte
wohl Suizid
nicht wünsche: bis zum Stampfen und Weinen; nur das
lezte
kann ich nicht.

35
Laßen Sie
sich
diese Worte unter uns bleiben; mein Kopf möchte mir

36
springen: alles ist mir zuwider.

37
Vikariat
als Kandidat der Theologie
Von meinem Vikariat bin ich seit Montag frei: Predigten werde ich nicht

S. 386
Pred.
Als Hilfsprediger musste Herder einspringen, wenn ein anderer Prediger krank war.
mehr annehmen dörfen weil
ein
Pred. schon beßer wird. Müßte ich nicht meine

2
Privatconnexionen unterhalten, weil ich auch in dieser trübseligen Zeit (die

3
ich aber zu verbergen suche) mehr Freunde gefunden, als vermuthet: so würde

4
einsamer Vogel
Ps 102,8
ich alles quittiren u. leben wie ein einsamer Vogel auf der Domschule.

5
mediciniren
Herder plante eine Augenkur.
Ein Paar Wochen denke ich zu
medicini
ren, etwas, was mir im Ernst

6
Achill …
Phthia ist die Heimat Achills; gemeint ist wohl entweder die Abholung zum Kriegszug durch Odysseus und Nestor in
Hom.
Il.
, 11,765 oder die Gedanken an die Heimfahrt nach der Kränkung durch Agamemnon,
Hom.
Il.
, 9,360
hochnöthig ist, und alsdenn mich wie Achill auf den Schiffen von Phthia in der

7
Stille zu erholen: wenn mein Auge sich nicht beßert: vielleicht meine Seele! –

8
Ich umarme Sie, m. guter lieber H. u. bin ewig Ihr
H.


9
Adresse:

10
à Monsieur / Monsieur
Hamann
/ homme de lettres / à /
Mitow
/ Francò /

11
bey HErn Hofrath / Tottien
.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 48.

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 32–34.

ZH II 384–386, Nr. 335.

HBGA I 66f., Nr. 28.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
385/7
vornehmste
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vornehmsten
385/8
mich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nicht
385/11
einem
w
Kerl
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
einem Kerl
385/15
um
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nun
385/27
alsdenn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
alsdann