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Mein liebster H.
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Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, für den Antheil, den Sie an meinem
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Mißvergnügen nehmen, und fühle es bei diesem Vorfall recht sehr, was es
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heißt, einen wahren Freund haben. Ich hätte also in eben dem Feuer, in
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welchem ich Ihren Br. las, Ihnen so gleich geantwortet, wenn ich nicht Freit u.
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Sonnab. Nacht hätte schlaflos zubringen müßen, einer Predigt wegen, die ich
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Sonntag früh
ge
halten muste, als ein Werk der Nothwendigkeit.
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Entschieden war die Sache so gleich im Lesen u. jeder Augenblick Bedenkzeit hat diesen
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Entschluß bestärket: daher ich ihn jetzt mit
der
Freiheit schreibe, so wie ich
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ihn mit Vestigkeit faße.
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Wer nicht vorwärts gehet, geht zurück: m. l. H. Diese Warnung verbeut
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mir eine Veränderung die Sie mir mit so vielem freundschaftl. Eifer
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empfehlen. Ich nehme mir alsdenn muthwilliger Weise das einzige Gut, das ich
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habe:
Freiheit
, und
Unabhängigkeit
, und das ich jederzeit so hoch geschätzet,
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daß ich, ohngeachtet aller drückenden Bedürfniß auf der Akademie, vor jedem
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Privatengagement gezittert. Ich weiß, was man mir hierauf antworten kann,
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allein eine Empfindung, die so tief eingewurzelt ist, sollte
es
sie auch
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Vorurtheil seyn, läßt sich nicht durch eine Induktion heben, die doch selbst blos
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wahrscheinl. u. trügl. bleibt. Hier bin ich doch wenigstens vest und sicher,
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wenn nicht unter dem Schatten des reichen Fruchtbaums, so doch des friedl.
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Ahorns. Hier hängt mein Beifall von vielen ab, dort von einem einzigen und
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meine Zufriedenheit ist so viel unsicherer.
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Meine
vornehmste
Beschwerden werden nicht vermindert: hier
viele
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Arbeiten, die
mich
blos drücken, weil sie nicht für mich sind; dort bin ich in
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den Arbeiten noch fremder: hier
Neider
, und verläumderische Bösewichter,
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und elende Tröpfe – die alle jauchzen, wenn sie mich so weit gebracht sähen:
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hier das Unglück unter
einem
w
Kerl
wie Schl. zu stehen; dort, ein unbekanntes
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Loos –
das
noch will ich ein Jahr warten, und denn breche alles! – 3. Jahre
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habe ich mir und Riga versprochen, die will ich halten.
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Hoffnungen sind dort keine: und hier verkürze ich alle die meinigen. Nach
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3. Jahren auf Reisen – Gott! welche lange u. ungewiße Zeit; lohnt es
um
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so eine Rahel, so lange zu dienen, um nachher einen Korb zu bekommen. –
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Die Lettische Sprache – ich hätte sie hier längst anfangen können, wenn ich zu
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irgend einer Sache in der Welt Lust hätte, u. Dorf Past. zu werden, noch am
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wenigsten. – Ich fühle es, die äußere Ruhe auf dem Lande würde blos Quaal
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seyn, und schleichendes Fieber. Noch will ich mich lieber winden u. seufzen,
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und mich mit mir selbst quälen, und leiden und ausdauren: es muß ein Stoß
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kommen, der mich hebt, und fortschleudert.
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Uebrigens schäzze ich alle Ihre Mühe u. Freundschaft: die unverdiente Güte
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des HErn Past. Ruprechts und die äußerlichen guten zuvorkommenden
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Empfehlungen des Hauses selbst. Nehmen Sie m. Fr. diesen Wink selbst an, sehen
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Sie ihn als ein neues Jubiläum ihres Lebens an, das von dem Tode Ihres
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Vaters
abhängt
anfängt. Hüten Sie sich
alsdenn
nur vor ihrem Rückfall
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in eine alte Laune die sich selbst nicht brauchen will: so werden Sie daselbst
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glücklicher leben, als ich. Um mich bemühen Sie sich nicht weiter, mein liebster
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alter Fr.; ich Hans Gottfr. Herd. sage Nein!
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Sie sehen aus diesem ganzen Briefe, daß ich in einem Zustande bin, den
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kein Ort verändern kann – wer ist sich je entflohn. Ich habe gestern eine halbe
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Nacht in einer kläglichen Gemüthsfaßung zugebracht, die ich meinem Feinde
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nicht wünsche: bis zum Stampfen und Weinen; nur das
lezte
kann ich nicht.
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Laßen Sie
sich
diese Worte unter uns bleiben; mein Kopf möchte mir
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springen: alles ist mir zuwider.
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Von meinem Vikariat bin ich seit Montag frei: Predigten werde ich nicht
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mehr annehmen dörfen weil
ein
Pred. schon beßer wird. Müßte ich nicht meine
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Privatconnexionen unterhalten, weil ich auch in dieser trübseligen Zeit (die
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ich aber zu verbergen suche) mehr Freunde gefunden, als vermuthet: so würde
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ich alles quittiren u. leben wie ein einsamer Vogel auf der Domschule.
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Ein Paar Wochen denke ich zu
medicini
ren, etwas, was mir im Ernst
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hochnöthig ist, und alsdenn mich wie Achill auf den Schiffen von Phthia in der
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Stille zu erholen: wenn mein Auge sich nicht beßert: vielleicht meine Seele! –
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Ich umarme Sie, m. guter lieber H. u. bin ewig Ihr
H.
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Adresse:
10
à Monsieur / Monsieur
Hamann
/ homme de lettres / à /
Mitow
/ Francò /
11
bey HErn Hofrath / Tottien
.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 48.
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 32–34.
ZH II 384–386, Nr. 335.
HBGA I 66f., Nr. 28.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
385/7 |
vornehmste ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: vornehmsten |
385/8 |
mich ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nicht |
385/11 |
einem w Kerl ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: einem Kerl |
385/15 |
um ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: nun |
385/27 |
alsdenn ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: alsdann |